Seite:Die Gartenlaube (1869) 508.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Art Verehrung im ganzen Lande erfreut. Sein täglicher Verkehr mit allen Parteien bringt ihn unausgesetzt mit Freund und Feind zusammen, die Alle in ihm den Mittler, den Wohlthäter, den Rathgeber, mit einem Worte, jenen Genius erkennen, der ihrem Leben erst den wahren Gehalt und Werth zu geben verstand. Da Alle mehr oder weniger, mittelbar oder unmittelbar an diesen Arbeiten betheiligt sind, so ist auch nicht Einer im ganzen Lande, der ihn nicht segnete, der nicht persönlich in Beziehung zu ihm stände. Die Arbeiten werden selbstverständlich durch Contracte auf längere Zeit geregelt. Die in den Ateliers beschäftigte Jugend ist an diese auf Jahre hin gebunden, und da hier der den Griechen angeborene Schönheitssinn unter Siegel’s Leitung sich entwickelt, die jungen Leute unter ihren Händen Werke der Kunst entstehen sehen, sich für diese immer mehr interessiren, und von ihren Angehörigen, deren Wohlstand hierbei wächst, darin bestärkt und hierzu angehalten werden, so beginnt auch mit der geregelten, nützlichen, ruhig verfließenden Arbeit sich ein neuer Geist im Lande zu offenbaren, die Rohheit der Sitten sich zu mildern, und in der That haben die Raubzüge, die Alles vernichtenden Familienfehden merklich nachgelassen und überall wird bereits eine rege Betriebsamkeit, überall werden organisch sich regelnde Zustände wahrgenommen.

Siegel hat sich bei diesem Volke bereits so unentbehrlich gemacht, daß ihm die unbändigsten Häuptlinge ohne Widerrede Folge leisten, sein Wort ihnen als Gesetz gilt, und selten nur kommt er in die Lage, und das höchstens durch Arbeitsentziehung – dort die empfindlichste Strafe – seinem Worte Nachdruck geben zu müssen. Dem Könige Otto persönlich befreundet, hat Siegel mit seinen Mainotten für ihn noch die letzten Kämpfe gekämpft; seine Krieger würden ihm unbedingt in einem Kreuzzuge nach Athen gefolgt sein, wenn er dies von ihnen gefordert hätte, – auch schickt die Regierung, wenn sie bei diesem Volke etwas durchsetzen will, ihre Boten nicht direct an dasselbe, sondern an Siegel mit dem Ansuchen, das Volk hierfür geneigt zu machen, denn mit Gewalt kann sie bei demselben nichts ausrichten. Siegel, der seine Leute und die Verhältnisse ganz genau kennt, die in Athen nämlich, wie die seiner Mainotten, braucht nicht erst mit diesen letzteren darüber zu unterhandeln. Er fertigt die Regierungsboten aus eigener Machtvollkommenheit ab, indem er zusagt oder abweist oder irgend welche Modificationen verlangt, und was er entschieden, die Regierung von Athen sowohl wie das Volk von Maina ergeben sich anstandslos darein.

Ein solches Vertrauen setzen selbst die Regierungsmänner in Athen in ihn. Sie kennen ihn Alle persönlich und er verkehrt mit ihnen bei seinen zeitweisen Ausflügen in die Residenz. Er ist thatsächlich König von Maina, wiewohl ihn Niemand in dieses Amt förmlich eingesetzt, weder das Volk als solchen ausgerufen, noch die Regierung officiell anerkannt hat – er ist es durch die Macht seines Geistes und seiner Persönlichkeit geworden. Die Regierung von Athen wollte diese seine Stellung durch einen officiellen Titel gleichsam legalisiren und wäre es nur deshalb, um nicht mit einem Volke durch die Vermittlung eines Privatmannes erst verkehren zu müssen; aber Siegel schlug alle dergleichen Auszeichnungen mit dem sehr richtigen Tact aus, daß jeder amtliche Charakter ihm bei seinem Volke nur Nachtheil bringen, das Vertrauen zu ihm untergraben würde. Siegel ist aber nicht nur in der Maina, er ist im ganzen Königreich der Griechen und zwar von den meisten persönlich gekannt, und von Allen geachtet, geehrt und hochgehalten, selbst die Banditen, von denen Griechenland bekanntlich wimmelt, hegen eine Art ehrfurchtsvoller Scheu vor ihm, und nie ist ihm, so oft er ihnen auch auf seinen Streifereien begegnet, etwas Leides von ihnen widerfahren. Er hat aber auch eine eigene Art und Weise, die Leute zu behandeln, seine geistige Ueberlegenheit auch ohne allen äußern Apparat ihnen gegenüber geltend zu machen.

Siegel ist von Geburt ein Hamburger, ist hoch und schlank gewachsen und über die sechszig Jahre hinaus, aber rüstig, lebendig und energisch, wie man selbst unter jungen Leuten nur Wenige findet. Ich machte seine Bekanntschaft vor zwei Jahren in Constantinopel, wohin er auf mehreren Schiffen die Marmorsäulen und andere Sculpturarbeiten für den neuen großherrlichen Palast brachte. Diese Siegel’schen Marmorarbeiten hätten in den ersten europäischen Kunstwerkstätten nicht schöner gemacht werden können. „Sie sind,“ sagte er mir, „alle das Werk meiner mainottischen Schüler,“ und er betonte mit einer ihm so wohl stehenden Zufriedenheit, daß darunter sich auch nicht ein einziges Stück von einer andern Hand gearbeitet befinde. Wer Mörder und Banditen zu fleißigen Künstlern umzugestalten, wer statt des thierischen Rachedurstes in ihre Seele das ideale Schöne zu setzen vermochte, der kann gewiß mit wohlverdienter Genugthuung auf dies sein großes Werk herniederschauen, denn er hat hier als Großmarschall der Menschheit ihr wahre und unvergängliche Siege erfochten und er hat sie erfochten auf unblutigen Wegen, ohne daß ganze Hekatomben Menschenleben ihm zum Opfer gefallen wären, und auch ohne Armeen, deren Erhaltung der Menschheit so theuer zu stehen kommt. Er allein, ein einziger Mann, ohne Waffen, ohne Geleite – er hat ein ganzes Land erobert, er hat es freilich im Interesse seiner Kunst, also beziehungsweise in seinem eigenen Interesse erobert, aber das ist ja das große Verdienst, der große Vortheil unseres Culturlebens, daß dieses Interesse das Interesse einer ganzen Bevölkerung, ja gleichzeitig jenes der ganzen Menschheit ist. Deshalb findet Alles dabei seine Rechnung, und giebt es weder Revolutionen, Verrath noch blutige Conflicte in diesem Lande, wo statt aller dieser menschenfeindlichen Dämonen jetzt der Genius der Kunst den Scepter seiner milden Herrschaft schwingt. Siegel regiert ein sonst unbändiges Volk ohne allen Regierungsapparat, ohne Soldaten, ohne Polizei, ohne Steuern, ja ohne Verwaltungspersonal, und doch giebt es keinen Potentaten, dem man pünktlicher und williger gehorchte, als diesem anspruchslosen einzelnen Manne, der nicht einmal Muße hat nachzusehen, ob seine Anordnungen auch vollzogen werden. Aber er braucht dies gar nicht, er ist gewiß, daß dies ganz pünktlich geschieht.

Eine solche Herrschaft ist gewiß das Nonplusultra politischer Weisheit. Hier hat sie sich wie zufällig durch kluge Benutzung der Umstände zur Blüthe entfaltet, weil sich hier Alles auch praktisch zusammenfand. Keine der vielen kirchlichen Missionen, die viele Jahrhunderte lang das Land des Ostens bearbeiteten, kann sich ähnlicher Erfolge rühmen, und woher kommt dies? – Siegel ist nicht nur Künstler, nicht nur Kaufmaun, sondern er ist, und dies vorzugsweise, ein Mensch. Er versteht es eben so gut mit den Menschen umzugehen, als er seine Kunst zu handhaben und zu verwerthen versteht. Er liebt die Menschen, er behandelt sie nicht als Handlanger, als Zahlen oder Werkzeuge, oder Mittel zur Erreichung von Zwecken, er liebt die Menschen um ihrer selbst willen, sie gelten ihm mehr als Orden, Aemter und Titel, mit einem Worte, ihm gilt das Wesen der Sache Alles und der äußere Schein gar nichts, und weil es ihm nur um das Wesen zu thun ist, hat sich ihm dieses auch erschlossen.

Wenn Siegel jetzt auch von dem Schauplatze seines Wirkens abberufen werden sollte, so hat er doch eine Macht gegründet, die nicht an seine Person gebunden ist und mit dieser lebt und fällt. Er hat in seinen Schülern sozusagen eine Dynastie gestiftet, in welcher sein Geist fortleben, fortwirken, die von ihm begonnene Organisation und Vermenschlichung vervollkommnen wird. –




Christliche Patriarchen und muhamedanische Studenten.

Der Papst in Rom behauptet den Stuhl des heiligen Petrus einzunehmen; den des heiligen Marcus nimmt der koptische Patriarch von Alexandria, der zu Kairo residirt, in Anspruch. Die Kopten, die christlichen Nachkommen der alten Aegypter, welche ihren Namen ihrer Zufluchtsstätte während der Christenverfolgungen unter den römischen Kaisern verdanken sollen, haben von den geistigen Eigenschaften des alten Pharaonenvolkes den Haß und die Verachtung gegen alle fremde Völker ererbt. Im paradiesischen Nilthale, durch die Wogen des Meeres und die Sandwellen der Sahara abgeschlossen und in sich befriedigt, sehen sie in den eingedrungenen Fremdlingen nur die Störer des heimischen Glücks. Sie gehören einer der ältesten Gestaltungen der christlichen Kirche

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 508. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_508.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)