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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


kurzen, untersetzten, gedrungenen Figur (er war eigentlich seines Zeichens ein Athlet, der mit eisernen Kanonenkugeln und Centnergewichten Fangball spielte!) den auf seinen Sieg über den Jäger eitlen Bauernschützenkönig mit einer prächtigen Draftit zu verkörpern wußte. Francisca Weitzmann sang die Agathe, ihre jüngere Schwester Louise das Aennchen. Zum Brautjungfernchor hatten sich stimmbegabte Dilettantinnen genug gefunden, und den Jägerchor verstärkten sangeskundige junge Männer des Städtchens mit bestem Willen.

Wie oft ich auch schon vorher und später dann noch die Oper an großen Hofbühnen von Künstlern gehört, niemals doch bin ich weder vorher, noch nachher so innig befriedigt von dannen gegangen, als von der Freischützvorstellung der Seiltänzer Weitzmann. Auch das Costüm, welches die Seiltänzer für ihre Freischützdarstellung sich erdacht, paßte für den Wald und für den Charakter der Zeit weit besser, als das für die erste Aufführung in Berlin hergestellte, wo noch heute – es müßte denn in den letzten Jahren geändert sein, woran ich zweifle! – die Jagdgesellen im Freischütz im wilden, feuchten Forst in einem veritablen Tänzercostüm, in beknopftem und belitztem Wamms, grünen Tricots, befranzten Schnürstiefelchen und zierlichen Hütchen umherlaufen. –

Wiederum waren viele Jahre nach dem eben Geschilderten in’s Zeitenmeer hinabgeflossen. Ich war längst unter die Gaukler und Vagabunden gegangen und hatte unterschiedlicher Herren Länder und mancherlei Leute Gesichter gesehen. Tief aus Ungarn heraufkommend, wo ich zuletzt bei dem verunglückten Sommertheaterunternehmen des ehemaligen Balletmeisters N. (Clara Heinefetrer’s Mann) in O. engagirt gewesen war und des Unternehmers totalen Schiffbruch nolens volens hatte theilen müssen, wanderte ich eines kalten Spätherbstabends müde, frierend, hungrig und durstig und ohne die geringste landesübliche Münze in der Tasche, in ein kleines Nest in der Kurmark ein, wo eine kleine Bande Menschendarsteller gerade hausen sollte. Erfahren hatte ich diese Nachricht in der, einige Meilen von dem Nest entfernt, an der Eisenstraße liegenden größeren Stadt F., bis wohin zur Schienenfahrt meine Baarschaft, erworben durch Gastspiele den weiten langen Weg herauf an allen Orten, wo nur eine reisende Truppe mir aufstieß, noch bis auf den Pfennig gereicht hatte.

Mein gesammtes Hab und Gut bestand in dem Anzug auf dem Leibe, etlicher Wäsche, einem Paar seidener schwarzer Tricots und dem Schminkzeug im Wanderranzen, dem Wanderstab in der Hand und dem Capital, das ich an Rollen im Kopfe hatte, auf das mir aber keine Wirthin auch nur ein Glas Bier verabreichte. Als ich einwanderte in das offene Städtchen, war’s schon finster, und bei dem kältenden Regen, der fein aber dicht herabfiel, waren die Straßen menschenleer, so daß ich erst in ein Haus treten mußte, um das Theaterlocal zu erfragen. Auskunft zwar ward mir zu Theil, wenn auch unfreundlich genug gegeben. War ich doch in der preußischen Mark, wo die Leute im Allgemeinen schon nicht allzuhöflich gegen den Fremden sind, insbesondere aber nicht in kleinen Nestern gegen einen regennassen Menschen, der, die halbe Landstraße an seinen defecten Stiefeln tragend, Abends an die Thüren pocht und nach den Komödianten fragt.

Man hatte mir das Schützenhaus, das am Marktplatz liegen sollte, als Theaterlocal genannt. Ich fand es schließlich, fand auch den Director der Truppe und diese selbst. Es war Vorstellung angesetzt für den Abend, war auch bereits halb acht Uhr vorbei, aber noch keine erbarmungsreiche Publicumsseele hatte ein einziges Viergroschenstück gebracht, trotzdem der Director, von sämmtlichen Gliedern seiner Truppe, zwei Damen und zwei Herren, umgeben, erwartungsvoll bereits anderthalb Stunden an der Casse saß, wenn man einen mit Billets gefüllten Kasten, von Münze indeß so leer wie meine Tasche dazumal, Casse nennen will.

Hier war die eigene Noth so groß, wie sie nur sein konnte. Dennoch wurde der einwandernde College freundlich empfangen und willkommen geheißen, ihm auch, nachdem endlich zwei bedauernstwerthe Jungen ihr Opfer in die Casse gelegt, und in das einstweilen noch stockdunkle Parterre gewiesen waren (Licht konnte erst geholt werden, wenn Geld da war!), ein Schnaps (der Leser verzeihe die Namenkündung eines so unästhetischen, plebejischen Getränks, aber – oportet ist ein Bretnagel!) credenzt und ein Butterbrod gastlich geboten, auch Obdach für die Nacht selbstverständlich zugesagt.

Schon seit sechs Wochen war die Truppe im Oertchen; das Geschäft war von Anfang an schlecht gewesen, seit vierzehn Tagen bereits ging es gar nicht mehr, und sie konnten nicht fort, die Armen, weil sie schuldenbelastet fest saßen, und doch ihre einzige fernere Rettung, das Handwerkszeug, nicht den Gläubigern im Stiche lassen mochten.

„Drei gute, volle Häuser nur!“ seufzte der Director und gab den drängenden Jungen Billets mit der Vertröstung auf morgen, womit sie, verblüfft, sich beschwichtigen ließen. „Drei gute, volle Häuser nur, und wir wären ’rausgerissen, könnten wenigstens fort! Aber womit diese vollen Häuser machen? Nichts mehr will ziehen! Könnt’ aus der Erde ich mir volle Häuser stampfen, mir wüchsen Thaler auf der flachen Hand! Gebt mir nicht einen Menschen, ewige Götter, nein! gebt mir jeden Abend hundert, und ich bin ein glücklicher Mann!“

„Lassen Sie uns“ – ich betrachtete mich natürlich sogleich als der Ihre, – Noth eint schnell! – „den Freischütz geben; wenn Sie ihn haben, der Samiel hilft vielleicht auch uns!“ sagte ich, mehr in einem Anflug jenes Galgenhumors, der, sobald man auf der Spitze des Pechs angekommen ist, mit Entsetzen Scherz treibt, als im Ernst.

„Den Freischütz?! Mensch! Der Gedanke entquoll keiner irdischen Brust! Ein Gott gab ihn Dir, und dem Himmel sei Dank und der heiligen Jungfrau! ich hab’ ihn, und er wird uns ’rausreißen! Wie ist’s nur möglich, daß mir, daß uns das nicht längst eingefallen!“ Er schlug sich vor die Stirn und schloß einen Augenblick gedankenvoll die Augen. Dann breitete er seine Arme aus und sprach im Ton eines zärtlichen Vaters, der den reuigen Sohn an sein Herz zieht. „An meine Brust, theurer College! Sie sind unser Retter!“

Der Schauspieler der Wandertruppen, zumal das Bühnenkind, überträgt auch sein theatralisches Pathos, seine Rollenreminiscenzen, immer und überll mit in’s gewöhnliche Leben, in die alltägliche Unterhaltung. Er kann einmal nicht anders, es klebt ihm an unwillkürlich, auch da, wo er’s selbst mitunter gern vermeiden möchte. Und erklärlich und begreiflich ist das, wenn man einesteils den engen Gesichtskreis in’s Auge faßt, den der Wanderkomödiant gewöhnlichen Schlages, und wiederum besonders das Theaterkind, nur den seinen nennt und auch nur nennen kann, anderntheils die Gewöhnung seines Handwerks, immer nur mit den Gedanken Anderer zu denken, in Betracht zieht, welche Gewöhnnung ihn sehr schnell unfähig macht, überhaupt selbstständig zu denken, ihn sogar verlernen läßt, einen eignen, ihm individuell zugehörigen Sprachton zu haben. Daher das Pathos auch beim Fordern eines Butterbrodes. Er spricht immer „Rolle“. Uebrigens – womit ich indessen weder einen unehrerbietigen Vergleich aufgestellt, noch etwas Unziemliches gegen die Hirtenwürde gesagt haben will! – es geht vielen Ehren-Pastoren auch nicht anders!

Aus dem Wust der Bücherkiste wurden die Partitur, die Stimmen und die Rollen des „Freischütz“ allsogleich hervorgesucht und die Besetzung sofort noch bestimmt. Der Künstler, der den Max singen sollte, ein langer hagerer Mensch mit spärlich fahlblondem Haar, war ein wenig musikalisch, strich die Geige und übernahm die Einstudirung. Wie wir den Freischütz mit vier Männern und zwei Damen besetzten? O, mein theurer Leser! das Wort „unmöglich“ steht auch, wie’s nicht im Lexicon des großen Corsen stand, nicht in dem reisender dramatischer Künstlertruppen! Herr M. sang den Max, Herr B. den Kaspar und den Eremiten, ich den Kilian und den Ottokar, der Director den Kuno, dann spielte er den Samiel, donnerte, blitzte, besorgte die Irrlichter, das wilde Heer (das Hundegebell machten die Damen!), die feuerspeiende Wildsau, rasselte mit Ketten, knallte mit einer Peitsche etc., und agirte dann wiederum den Erbförster Kuno. Den Bauernchor sangen Alle mit auf offner Scene, wobei Agathe und Aennchen einstweilen noch als Bäuerinnen mitwirkten. Den Brautkranz brachte Aennchen allein (Dilettantinnen waren wegen Mangels an weißen Kleidern nicht zu haben gewesen!) und sang die Soli des Brautliedes; Agathe auf der Scene, ein wenig abgewandt vom Publicum, und wir Männer hinter den Coulissen sangen den Chor mit. Den Jägerchor konnten wir Vier, da wir Alle zugleich auf der Scene waren, ja vortrefflich singen, die Damen halfen von hinter der Scene verstärken, und einige kunstsinnige Maurereleven paradirten zur Belebung des Tableaus als

Begleiter des Fürsten und als Jäger stumm im Hintergrunde.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 491. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_491.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)