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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Ton. „Es ist doch zu rücksichtslos von Ihnen, mich Nachts so mutterseelenallein in dem ungeheuerlichen Saal sitzen zu lassen!“

„Ich war bei Seiner Durchlaucht,“ entgegnete Gisela kurz, indem sie rasch an der kleinen, fetten Frau vorüberschritt und nach dem Saal zurückkehrte. Drin, an dem mächtigen Eichentisch, auf welchem die Lampe brannte, blieb sie stehen. Sie stützte die Hand auf die Tischplatte und stand plötzlich vor der grollenden Gouvernante als die Herrin, die einer Untergebenen eine Eröffnung zu machen hat.

„Ich bitte Sie, Frau von Herbeck, den Wagen zu bestellen und nach Greinsfeld zurückzufahren,“ sagte sie ruhig, aber in gebietendem Ton.

„Nun, und Sie?“ fragte die Gouvernante, die nicht wußte, wie ihr geschah.

„Ich werde Sie nicht begleiten.“

„Wie, Sie bleiben im weißen Schlosse zurück? Ohne mich?“ Sie betonte tiefbeleidigt das letzte Wort in einer aufsteigenden Frage-Scala, die endlos schien.

„Ich bleibe nicht in Arnsberg. … In Zeit von wenigen Stunden haben sich die Verhältnisse in diesem Hause und ihre Beziehungen zu mir so total verändert, daß meines Bleibens hier nicht mehr sein kann.“

„Barmherziger Himmel, was ist denn geschehen?“ rief die kleine, fette Frau zurücktaumelnd.

„Ich kann Ihnen das hier unmöglich auseinandersetzen, Frau von Herbeck – mir brennt der Boden unter den Füßen. … Fahren Sie so bald wie möglich nach Greinsfeld. … Die Erörterungen, die zwischen uns noch stattfinden müssen, werde ich auf schriftlichem Wege abmachen.“

Frau von Herbeck fuhr mit beiden Händen nach ihrem spitzenumhüllten Kopf.

„Herr meines Lebens, bin ich denn wahnsinnig, oder höre ich verkehrt?“ schrie sie auf.

„Sie hören ganz richtig – wir müssen uns trennen.“

„Wie – Sie wollen mich fortschicken? – Sie? … O, da sind denn doch noch ganz andere Leute da, die zu entscheiden, und ein Wörtchen in der Sache zu reden haben, Leute, die es zu würdigen wissen, was ich geleistet. … Gott sei Dank, so bin ich doch nicht in Ihre Hände gegeben und von Ihren Capricen abhängig – in dem Maße steht Ihnen noch lange, lange nicht die Macht zu, mich entlassen zu können. … Ich halte es in der That unter meiner Würde, darüber auch nur noch ein Wort zu verlieren. … Ich werde sofort, wie man sagt, vor die rechte Schmiede gehen und mir bei Seiner Excellenz Satisfaction für Ihr ungebührliches Benehmen ausbitten.“

„Baron Fleury hat keine Gewalt mehr über mich – ich bin frei und kann gehen, wohin ich will,“ sagte Gisela fest und energisch. „Frau von Herbeck, Sie thun wohl, wenn Sie sich nicht auf Ihre Beziehungen zu Seiner Excellenz berufen. … Ich will Sie nicht auf’s Gewissen fragen, weshalb Sie mir so hartnäckig eine längsterloschene Krankheit octroyiren wollten – ich will nicht fragen, weshalb auch Sie Alles aufgeboten haben, mich von dem Verkehr mit der Welt abzuschneiden – Sie waren die intime Freundin eines gewissenlosen Arztes und mit ihm ein nur zu williges Werkzeug meines Stiefvaters!“

Die Gouvernante sank wie zerschmettert in einem Lehnstuhl zusammen.

„Das will ich Ihnen verzeihen,“ fuhr Gisela fort. „Niemals aber kann ich Entschuldigung dafür finden, daß Ihr ganzes Bestreben darauf gerichtet gewesen ist, mich zu einer herzlosen Maschine zu erziehen! … Sie haben mich um Jugendjahre, um gute Thaten, um die erhabensten Lebensfreuden betrogen, indem Sie mein Herz in den Eispanzer der Convenienz, des Geburtshochmuthes schnürten! … Wie durften Sie es wagen, Gott und sein Wort stündlich im Munde zu führen, während Sie einem Ihnen anvertrauten Gottesgeschöpf die edlen Triebe in der Seele zertraten und es so lange hinderten, in Wirklichkeit nach den höchsten Geboten zu leben und zu wirken?“

Sie wandte sich ab und schritt nach der Thür zu. Noch einmal streifte ihr Blick grüßend rings über die dunklen Wände, die sie so sehr geliebt hatte, dann ging sie hinaus in den Corridor.

„Gräfin,“ schrie Frau von Herbeck auf, „wohin gehen Sie?“

Das junge Mädchen winkte Schweigen gebietend und abweisend nach der Gouvernante zurück und stieg die Treppe hinab.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Fünfzig Bühnenjahre. Eine Periode des Braunschweiger Theaters, an welche die alten und ältesten Theaterfreunde immer noch mit Entzücken zurückdenken, und die auch in der Geschichte des deutschen Schauspiels eine ehrenvolle Stelle einnimmt, ist die des „Nationaltheaters“, welches im Jahre 1818 durch den Zusammentritt angesehener Kunstfreunde gegründet wurde und aus dem dann acht Jahre später das herzogliche Hoftheater hervorging. – Aehnlich wie einst in Mannheim unter Dalberg, in Hamburg unter Schröder und in Weimar unter Goethe, sammelte sich in Braunschweig unter August Klingemann’s Direction eine Schaar junger, talentvoller Künstler, die in einem mustergültigen Zusammenwirken Vortreffliches leisteten. Wir nennen hier nur die Namen: Meck, Leo, Gaßmann, Marr, Günther, Bachmann, Kiel, – dann die Damen: Klingemann, Wilhelmine Fischer, Kiel u. a. m., Namen guten Klanges, die den nachwachsenden Kunstjüngern als Muster vorgeleuchtet haben. Der Ruf, welchen sich das Nationaltheater rasch erwarb, vor Allem aber die Persönlichkeit seines artistischen Leiters, dem, wie er sich als dramatischer Dichter einen Namen gemacht hat, auch das Verdienst gebührt, Goethe’s Faust zuerst in Scene gesetzt zu haben, führte eine große Zahl von Schülern nach Braunschweig, deren sich der Director mit Wärme annahm, sobald er Talent und Eifer bei ihnen wahrnahm.

So kam im Sommer 1819 auch ein junger, schöner Mann zu Klingemann mit der Bitte, ihm ein erstes Debut in Braunschweig zu gestatten. Er war ein „Berliner Kind“ und, obgleich eben erst zwanzig Jahr alt, hatte er schon den Feldzug nach Frankreich mitgemacht und bei Belle-Alliance für Deutschlands Befreiung gefochten. Er brachte ein Empfehlungsschreiben von Meister Ludwig Devrient mit, und letzterem besonders hatte er es zu danken, daß ihm der erste theatralische Versuch zugesagt wurde. Am 28. Juli gab man Schiller’s „Wilhelm Tell“. – Der Zettel für diese Aufführung liegt uns im Original vor, er enthält unter dem Personenverzeichniß eine von Klingemann verfaßte Mittheilung, welche so lautet:

„Herr Devrient, Neffe des berühmten Schauspielers gleichen Namens, wird hier seine theatralische Laufbahn eröffnen, und sich in der Rolle des Ulrich von Rudenz versuchen. Seine Neigung und sein sichtbares Talent für die Bühne werden ihm die gütige Nachsicht des geehrten Publicums zusichern.“

Der mit diesen Worten bei den Braunschweigern eingeführte Debutant war der jetzige Königliche Hofschauspieler Karl Devrient, der drei Monate später als sein jüngerer Bruder Eduard die Bühne betrat und somit am 28. Juli dieses Jahres sein fünfzigjähriges Künstlerjubiläum feiert. – Fünfzig Jahre! – ein langer Zeitabschnitt, in welchem auch auf dem Gebiete der Kunst große Wandelungen vorgegangen sind. – Vor uns steht jetzt der Altmeister Karl Devrient, eine Zierde des deutschen Theaters, ein Künstler, welcher den Empfehlungen seines großen Oheims und Klingemann’s Ehre gemacht hat. Von denen, die ihn einst als jugendlichen Rudenz sahen, werden nur wenige übrig sein. Von dem zahlreichen Personale, das in der Aufführung des „Tell“ am 28. Juli 1819 mitwirkte, sind nur noch zwei am Leben: Frau Kiel, eine hochbetagte Greisin, welche damals Tell’s Gattin spielte, und deren Tochter, Frau Francisca Cornet, die als Fränzchen Kiel in der Rolle von Tell’s Knaben auftrat; beide, Mutter und Tochter, sind nach einer ehrenvollen Künstlerlaufbahn wieder nach Braunschweig zurückgekehrt, während der Jubilar seit fast dreißig Jahren, und zwar jetzt im Fache älterer Charakterrollen, wie Lear, Philipp der Zweite, Nathan, Shylok, Falstaff etc., Mitglied des Königlichen Hoftheaters in Hannover ist.




Die Livingstons, Abkommen eines mecklenburgischen Adelsgeschlechts. Jeder Gebildete kennt die berühmten englischen Afrika-Reisenden David und Charles Livingston. Dem Geschichtskundigen und Nationalökonomen sind die amerikanischen Staatsmänner Robert und Eduard Livingston nicht minder bekannt, die nachweislich aus dem alten schottischen Geschlecht dieses Namens stammen, von dem ein Zweig im siebenzehnten Jahrhundert auswanderte und sich am Hudson ansiedelte. Das gesammte Geschlecht der Livingston stammt nun aber aus obotritischem Adelsblut. Eginhard, der bekannte Geheimschreiber und Historiograph Karl’s des Großen, Gemahl seiner Tochter Emma, erzählt nämlich in seiner „Vita Caroli magni“ und nach Eginhard Albertus Krantz (1482 Rector der Universität Rostock) in: „Vandalia“ (Frankfurt 1575), daß unter den Obotriten und Mecklenburgern, die der Kaiser nach England, Frankreich und Italien entsendete, auch ein vornehmer Kriegsoberster, des Namens Linstow, gewesen sei, der sich mit seiner Legion habe nach England begeben müssen. Dieser Kriegsoberste Kaiser Karl’s, der obotritische Edle Linstow, nun ist der Stammvater des Geschlechts Livingston, das noch heute in England und Schottland zu den ältesten Adelsfamilien zählt und mit dem in Mecklenburg zur Stunde noch blühenden Adelsgeschlecht Linstow (das Stammgut Linstow liegt im ritterschaftlichen Amte Lübz in Mecklenburg-Schwerin) das gleiche Wappen führt.

Ein Livingston, der unter der Regierung Ferdinand’s des Dritten englischer Gesandter am Kaiserhofe zu Wien war, kam expreß nach Mecklenburg, die Linstows aufzusuchen und als seine Blutsfreunde zu begrüßen, indem er bei dieser Gelegenheit ausdrücklich erklärte, und zwar nach einer vorliegenden handschriftlichen Nachricht aus jener Zeit, daß alle Livingstons, die englischen sowohl wie die schottischen, jenen obotritischen Edlen, Linstow, Kriegsobersten Kaiser Karl’s des Großen, als ihren Ahnherrn erkennten und ihren Stammbaum diplomatisch nachweisbar auf diesen zurückzuführen vermöchten. Die schottischen Livingstons sollen ihrer Titel verlustig geworden sein wegen ihrer Anhänglichkeit an die Stuarts, doch existirte noch zu Anfang dieses Jahrhunderts ein Livingston als Carl von Newburgh, Lord von Kenmare.

C. Sp.




Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 480. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_480.jpg&oldid=- (Version vom 24.11.2022)