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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

„Ein wenig Blutvergießen schon … ohne das wird’s freilich nicht abgehn …“

Muhme Margarethe war zu entsetzt, um ihn ausreden zu lassen.

„Und wenn sie Euch dabei todtschießen, Herr Wilderich – Euch … ich bitt’ Euch, was soll dann werden … ich bitt’ Euch darum … was soll dann aus mir und was aus dem Jungen da werden?“

„Darüber eben wollt’ ich mit Dir reden, Margareth. Hör’ zu. Für den Fall, daß mir etwas Menschliches begegnet, hab’ ich ein Papier in die oberste Lade meiner Kommode gelegt. Darauf steht geschrieben, daß der Leopold mein Erbe ist und daß Du für ihn sorgen sollst, bis er zu einem Förster gethan werden kann, um ein fermer Waidmann zu werden, wie ich bin. Ich habe nicht viel zu vermachen, aber ich denk’, bis dahin wird’s schon reichen. Du mußt eben damit auskommen!“

„Heilige Mutter Gottes von Rengersbrunn!“ ächzte Margarethe, die Hände faltend … „und steht denn in dem Papier auch, was es auf sich hat mit dem Jungen, wessen Kind …“

Wilderich nahm den kleinen Leopold bei der Hand und führte ihn vor das Haus.

„Komm’, Brüderlein, da setze Dich auf die Treppe,“ sagte er, „gieb hübsch Obacht, mein Kind, ob Du den Sepp nicht kommen siehst … und dann sag’ mir’s gleich – willst Du?“

Der Kleine nickte und nahm gehorsam den ihm angewiesenen Platz ein. Wilderich kehrte in die Küchenhalle zurück, und sich in seinen Stuhl am Heerde niederlassend, sprach er zu der alten Muhme, deren weit aufgerissene Augen ihn nicht mehr verlassen hatten, weiter.

„Das Nöthigste davon,“ sagte er, „steht in dem Papier. Aber da es mit dem Lesen ein wenig bei Dir hapert, Margareth, will ich Dir, damit Du Alles weißt, erzählen, wie es zugegangen, daß ich der Pflegevater meines guten Jungen geworden … wenn er dann zu seinen Jahren gekommen, kannst Du’s ihm mittheilen … es ist dann an ihm, ob er Schritte thun will, nach dem Seinigen zu forschen! Ich hoffe, der Sepp läßt uns Zeit, daß ich Dir die ganze wunderliche Geschichte haarklein berichten kann.

Sieh’, ehe ich meine Stelle in diesem Revier antrat, war ich Forstbeamter in der Nähe von Zweibrücken, Adjunct meines Vaters … durch unser Revier zog sich die große Heerstraße von Mainz nach Paris. Es war im vorigen Herbst; in einer mondhellen, warmen Nacht hatte ich Wildschützen nachgespürt und kam sehr spät – es mochte fast Mitternacht sein – auf jene Heerstraße, um sie eine Strecke weit zu verfolgen und dann rechts ab zu biegen und auf einem kurzen Waldwege zu unserem Forsthause zu gelangen. Unfern der Stelle, wo dieser Waldweg sich abzweigte, sah ich von fern schon eine Kalesche halten … ein Mann schritt neben derselben auf und nieder … als ich näher kam, nahm ich wahr, daß vor diese Kalesche nur ein Pferd gespannt war, und dieses Pferd lag regungslos am Boden. Der Fremde, der, in einem Mantelkragen sich gegen die Nachtluft schützend, auf der Heerstraße auf und ab ging, blieb, als ich ihn erreicht hatte, stehen und redete mich in französischer Sprache an – er fragte, ob ich wisse, wie spät es sei und wie weit bis Pirmasens. Ich gab ihm Auskunft – er fuhr fort:

‚Ich bin in großer Verlegenheit, ich bin auf der Reise, wie Sie sehen, von Mainz und weiter her, will nach Paris – in Zweibrücken gab man mir für meine Postchaise zwei ganz elende abgetriebene Pferde – vor ein paar Stunden ist mir das eine gestürzt und nicht wieder aufzubringen gewesen, das andere hat der Postillon abgespannt und ist darauf heimgeritten, um, wie er sagte, frische Pferde von der Station zu holen; aber der niederträchtige Mensch kommt und kommt nicht zurück, er läßt mich hier allein die Nacht zubringen, es ist zum Verzweifeln …‘

‚Allerdings,‘ versetzte ich, ‚wenn Sie auf diesen Postillon warten, so ist sehr wahrscheinlich, daß Sie die Nacht hier zubringen müssen. Er wird sich in Zweibrücken auf’s Ohr gelegt haben und schwerlich vor Morgen erscheinen und dann sich damit entschuldigen, daß keine frischen Pferde vorhanden gewesen. Man kennt das, und …‘

‚Es ist empörend, man sollte das Gesindel hängen!‘ rief der Franzose aus; ‚hätte ich nur nicht den kleinen Burschen da bei mir,‘ – er deutete auf die Kalesche – ‚so würde ich nicht warten, sondern zu Fuße nach Pirmasens gehen, da Sie sagen, daß es kaum eine Meile entfernt ist!‘

‚Welchen Burschen?‘ fragte ich.

‚Das Kind dort im Wagen.‘

Ich bemerkte jetzt erst ein im Hintergrunde des Wagens geborgenes und in Decken und Tücher gehülltes Etwas, das, wenn es ein Kind war, sehr ruhig da zu schlafen schien.

‚Ich möchte Ihnen gern helfen,‘ sagte ich, ‚und vielleicht kann ich es. Meine Wohnung liegt nicht weiter als zwanzig Minuten von hier – dort drüben im Walde, das Haus des Forstmeisters Buchrodt. Ich will den Knaben dahin mitnehmen und ihn für die Nacht so unterbringen; Sie können dann vorauf nach der nächsten Station gehen und von dort Postpferde senden, um Ihre Kalesche zu holen, und den Postillon beauftragen, zuerst bei unserm Hause vorzufahren, Ihren Knaben abzuholen.‘

Der Fremde schien sich eine Weile zu besinnen.

‚Wie Sie wollen,‘ fuhr ich deshalb fort; ‚vielleicht ziehen Sie vor, mich erst nach meinem Hause zu begleiten und sich selbst zu überzeugen, daß das Kind wohl untergebracht wird. Ich würde Sie selbst einladen, die Nacht bei uns zuzubringen, wenn nicht die späte Störung meinen sehr alten kränklichen Vater …‘

‚O nein, nein,‘ fiel der Fremde ein, dem ich den wahren Grund, meines Vaters Abneigung gegen Alles, was Franzose war, lieber verschwieg, ‚nein, nein, ich vertraue Ihnen das Kind gern an, machen wir es so, es ist das Beste, und ich bin Ihnen sehr dankbar! – Aber,‘ fuhr er fort, ‚Sie machen sich eine große Last, mein Herr, mit Ihrem Edelmuth, Sie müssen das Kind tragen, es ist erst dritthalb Jahr alt.‘

‚Nun,‘ versetzte ich lachend, ‚man muß die Folgen seines Edelmuths gelassen hinnehmen, sonst wäre kein Verdienst dabei; geben Sie ihn nur her, ich habe manches Reh auf den Schultern nach Hause getragen, und das ist schwerer.‘

Der Franzose hatte den Kleinen aus dem Wagen gehoben und mir übergeben; er nahm vom Vordersitz auch noch ein Bündel, das er mir übergab.

‚Hier ist sein Nachtzeug,‘ sagte er dabei, ‚bitte, nehmen Sie es auch; der Kleine – er heißt Leopold – ist daran gewöhnt …‘

Ich schob das Bündel über den Lauf meiner Büchse und nahm den Knaben auf den Arm. Der Fremde aber nahm ein Pistol aus der Seitentasche seines Wagens, steckte es in die Brusttasche, reichte mir die Hand, sagte mir tausend Dank für meine Gefälligkeit und ging dann eilig in der Richtung nach der nächsten Station davon.

Ich machte mich mit meiner Last auf den Weg heimwärts … weckte, als ich zu Hause war, die Haushälterin, und ließ sie für das Kind, einen hübschen und sehr wohlgekleideten Knaben, Sorge tragen – ich war zu ermüdet, um nicht für mich selbst vor allen Dingen die Ruhe zu suchen. Am andern Morgen berichtete mir, als ich ziemlich spät mein Schlafzimmer verlassen, die Haushälterin, der Knabe liege noch in seinen Federn – noch sei die Kalesche nicht gekommen, ihn abzuholen. Das war seltsam – und räthselhaft wurde es, daß sie auch in der folgenden Stunde, daß sie im ganzen Laufe des Vormittags nicht erschien. Schon vor Mittag machte ich mich auf den Weg nach der Heerstraße – der Wagen war verschwunden … das gefallene Pferd lag mit abgezogenem Geschirr im Weggraben. Es blieb mir nichts übrig, als meinen Weg bis nach der nächsten Station fortzusetzen, um Erkundigungen einzuziehn; als ich am Nachmittage in Pirmasens ankam, hörte ich im Posthause, daß allerdings ein französischer Herr in der Nacht zu Fuße angekommen, daß er Pferde absenden lassen, seinen auf der Heerstraße stehenden Wagen zu holen, daß dieser zwischen zwei und drei Uhr angekommen, und daß der Fremde darin sofort weiter gefahren, in der Richtung nach der französischen Grenze zu … von einem Kinde war keine Rede gewesen!

Ich war natürlich in hohem Grade empört über den ruchlosen Menschen, der meine Güte so schmählich mißbraucht hatte, ich stellte alle möglichen Nachforschungen an, ich erkundigte mich in Zweibrücken so gut wie in Pirmasens nach dem Fremden, aber weder die Postmeister noch die Postillone wußten über ihn etwas zu sagen – er war ein noch ziemlich junger, sorgfältig gekleideter Mann mit vornehmen Manieren, ziemlich laut und herrisch in seinem Auftreten und nicht karg mit den Trinkgeldern gewesen – das war Alles, was ich erfuhr; seinen Namen hatte er in Zweibrücken angegeben, aber der Postmeister hatte ihn vergessen, er

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