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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Der Löwe von Halle.

Auf der Straße von Halle nach Magdeburg kann man, während der größte Theil der spazierengehenden Hallenser bei dem eine gute halbe Stunde entfernten Dorfe Trotha umkehrt, fast jeden Nachmittag einen Spaziergänger seinen Weg bis zu dem wieder eine halbe Stunde entfernten einsamen Gasthofe „zum Schwan“ ausdehnen und erst da umkehren sehen. Dieser einsame, lebhaft dahinschreitende Wanderer, in welchem sich der Typus des Universitätslehrers nicht verkennen läßt, ist ein Mann, den das ganze gebildete Deutschland kennt: Heinrich Leo.

Leo ist in Rudolstadt geboren, wo sein Vater Hofprediger war, und stammt aus einer seit langer Zeit in Thüringen einheimischen Familie. Der undeutsche Name macht keine ausländische Abstammung nöthig, sondern erinnert vielmehr an die Periode der Humanisten, wo es sehr allgemeiner Gebrauch war, die Namen zu latinisiren. Der frühzeitige Tod des Vaters warf schon auf die Jugend Leo’s einen trüben Schatten, und nur nach mancherlei Bedrängnissen konnte er in Jena die Universität beziehen. Jena war damals der eigentlichste Mittelpunkt der allgemeinen deutschen Burschenschaft und Leo schloß sich derselben mit allem Feuer und Ungestüm seines Wesens an. Nach den damaligen Erfahrungen des deutschen Lebens und gemäß ihrem rein patriotischen Ursprung konnte die damalige Burschenschaft mit ihrem Wünschen und Sehnen nur auf ein deutsches Kaiserthum mit den alten Lehenfürstenthümern gerichtet sein, ohne bestimmte Begriffe über eine freie Verfassung für das Volk, und da sie dazu dem verhaßten leichtsinnigen, schnöden Franzenthume germanische Frömmigkeit gegenüberstellte, so konnte sie es wenigstens nicht verhüten, daß in einer Anzahl ihrer Mitglieder sich später auf der politischen Seite ein absolutistischer Sinn, auf der religiösen ein crasser Pietismus entfaltete, der mitunter auf den Katholicismus lossteuerte und endlich auch in diesen Hafen einlief. Auch in Leo kam bald eine solche Wandlung nach der politischen Seite hin zu Stande, mit großer Schnelligkeit, wie das seiner brausenden Natur angemessen war. Als er zur Fortsetzung seiner Studien nach Göttingen gekommen war, wirkte die dortige mehr mit aristokratischen Elementen beladene Atmosphäre alsbald in der Weise auf ihn ein, daß plötzlich der „Unsinn der Jenensischen demagogischen Theorien“ deutlich vor seinen Augen stand und er sich über die „Heilung von der demagogischen Narrheit“ glücklich pries. Dies geschah im Jahre 1819, und schon im folgenden Jahre bekundete er seine Verehrung für bestehende politische Autorität mit Einschluß etwaiger Adelsherrschaft in einer Abhandlung über die Verfassung der lombardischen Städte.

Heinrich Leo.

Wenn Leo schon in dieser Zeit als Verfechter des Katholicismus auftrat, so geschah das ohne Zweifel mehr vom Standpunkte des Politikers aus, als daß ein religiöser Antrieb dabei thätig gewesen wäre; er hatte als „Demagog“ und als Historiker genugsam in das Mittelalter geblickt, um zu wissen, daß jene Form des weltlichen Regiments, unter deren Fahne er jetzt kämpfte, keinen bessern Verbündeten finden kann als die katholische Hierarchie, wenn sie es versteht, sich diese zu befreunden und ihre Freundschaft zu erhalten.

In Erlangen, wohin sich Leo zunächst begab, um als Privatdocent der Geschichte aufzutreten, „hatte er sofort die Ehre und das Glück, von dem seichten, demagogischen Gesindel beargwohnt und als ein verhallerter Aristokrat ausgetragen zu werden“. Die Verhältnisse an der dortigen Universität befriedigten ihn so wenig, daß er dieselbe schon 1822 mit Berlin vertauschte. Bevor er sich hier habilitiren konnte, mußte er jedoch von dem trotz alledem noch immer an ihm haftenden Geruche der Demagogie durch einen besondern Gnadenact gereinigt werden. Der Minister Kamptz vollzog jenen Act, natürlich wohl mit besonderer Rücksichtnahme auf die erfolgte und bethätigte Umkehr. In Berlin kam Leo mit Hegel in nahe Berührung, ohne eigentlich Anhänger seiner Lehre zu werden, wie er denn überhaupt keine Neigung hatte sich mit Philosophie tiefer einzulassen. Natürlich wurde er aber zugleich mit vielen Hegelianern bekannt, und es wurden hier die Verbindungen angeknüpft, welche nachher den leidenschaftlichen Streit mit den „Hegelingen“ zur Folge hatten. In seinen hier herausgegebenen „Vorlesungen über die Geschichte des jüdischen Staates“ steht er noch ganz auf „unkirchlichem“ Standpunkte, und beweist sich als tüchtigen pragmatisirenden Historiker. Da das jüdische Volk im Allgemeinen und einzelne von der Kirche geheiligte Persönlichkeiten im Besondern bei einer solchen Darstellung nicht zum Besten weggekommen waren, so hat ihm diese Arbeit später, nach seiner Erleuchtung, große Zerknirschung verursacht.

Berlin in seiner ganzen Art und seinem Leben sagte Leo so wenig zu, daß er plötzlich, in dem Drange, sich aus ihm durchaus widerstrebenden Verhältnissen zu befreien, der schönen Residenz den Rücken kehrte und sich zunächst nach Leipzig begab, bald aber eine Professur in Halle antrat. Es war dies 1829. Wenn er bei seinem Auftreten in Halle noch ganz der freudige, burschikose Lebemann schien und ohne Anstoß mit Ruge, Pott, Niemeyer u. s. w. verkehrte, so wurde dies gründlich anders, als 1831 plötzlich seine noch höhere Erleuchtung eingetreten war.

Nach seiner eigenen geheimnißvollen Aussage wurde er „wunderbar aus seiner Verblendung geführt“. Näheres über den Hergang des Wunders wissen wir nicht mitzutheilen; das dazu auserwählte Rüstzeug scheint v. Gerlach gewesen zu sein, der damals das Hallische Conventikelwesen in hohen Schwung gebracht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 437. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_437.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)