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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

No. 28.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Verlassen und Verloren.
Historische Erzählung aus dem Spessart.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


2.

Wilderich ging in der That am andern Tage, als ob er danach sehen wolle. Er war am Morgen ungewöhnlich früh aufgestanden, aber zuerst war er in die Mühle gegangen, mit dem Gevatter Wölfle zu reden. – Margarethe hatte gesehen, daß mehrere fremde Männer die Schlucht heraufgekommen und sich ebenfalls in die Mühle begeben hatten – der Müller hatte seine Räder gestellt, als ob er Wichtigeres heute zu thun habe, als seine alten Steine sich umschwingen zu lassen – Margarethe schüttelte den Kopf über dies Treiben, aber sie war gewohnt, daß man ihr ein Hehl daraus machte, und so plauderte sie ihren Aerger nur gegen den kleinen Leopold aus, der ihr von der Wiese am Bach gelbe Blumen des Löwenzahns zutrug, aus dem sie ihm eine Kette um den Hals machen mußte. Als Wilderich aus der Mühle zurückkam, nahm er erregt, wie es schien, und hastig ein Frühstück ein, dann warf er die Büchse um, pfiff seinem Hunde und schritt davon, die Schlucht hinauf.

Eine halbe Stunde später sah er die Steinbrücke von Haus Goschenwald vor sich. Der alte Schösser saß zwar nicht mehr auf der Brustwehr, aber er lag in seiner rothen Uniform und mit einer hohen weißen Zipfelmütze auf dem gelbgrauen runzligen Haupte in einem offenen Fenster des Thorbaus, über dem Einfahrtsthor; so blickte er Wilderich entgegen, ohne sich zu rühren, nickte auch nicht mit dem Kopfe, als dieser die Hand grüßend an seine Mütze legte – wenn er auch nicht mehr starr und steif wie ein Steinbild auf der Brücke saß, versteinert schien der alte Mann doch.

Wenn man durch das gewölbte Thor im Vorbau auf den Hof von Goschenwald kam, so hatte man rechts das Haupthaus und vor sich einen im rechten Winkel vorspringenden Flügel; von diesem nach dem Vorbau hin schloß links eine niedrige gezinnte Mauer den Hof, über welche man fort in das enge waldbewachsene Thal und den Weiher im tiefsten Grunde blickte, in die stille, grüne, menschenleere Waldwelt.

Mitten im Hofe stand eine Linde und unfern ein Ziehbrunnen mit seinem Eisenrade zwischen zwei Steinpfeilern; der Brunnen mußte sehr tief sein, da Goschenwald auf halber Berghöhe lag und das ganze Thal beherrschte. Dicht unter der Linde, die weithin ihre niederhängenden Zweige ausbreitete und den Boden umher mit ihren grauen beflügelten Blüthen bedeckt hatte, stand eine Bank, und auf dieser Bank saß ein junges Mädchen in einem dunkelgrünen Kleide, unter dem nach der Mode der Zeit ein graues Unterkleid hervorblickte; ihre Brust war mit einem weißen geblümten Tuche umhüllt, das auf dem Rücken zu einem Knoten zusammengeschlungen war; um ihr Haupt wallten frei die dichten braunen Locken. So saß sie da, das Kinn auf die Hand gestützt und in das Thal vor ihr hinabschauend – ein grober grauer Strickstrumpf, mit dem sie beschäftigt gewesen sein mußte, lag in ihrem Schooße.

Wilderich fixirte sie überrascht, als er näher kam – war das in der That – ja, sie war es, dies schöne rosig-bleiche Antlitz konnte keinen Doppelgänger haben – es war die Nonne von gestern!

Ein eigenthümliches Gefühl von Befriedigung war es, womit Wilderich die Wandlung bemerkte, die aus der Nonne ein junges Mädchen, anscheinend des wohlhabenden Bürgerstandes, gemacht; – es war auffallend, daß sie so geeilt, das fromme kirchliche Gewand abzuthun; für den jungen Forstmann freilich konnte es ganz dasselbe sein, ob er sie nun so oder so sah; und doch flößte der Anblick ihm eine warme, wohlthuende Empfindung in’s Herz.

Als er auf sie zutrat, fühlte er sich tief erröthen, und dem Blicke, den sie groß und ruhig auf ihm haften ließ, ein wenig unsicher begegnend, aber mit der Verbeugung eines weltgewandten Mannes, sagte er:

„Ich hoffe, Demoiselle, Sie finden mich nicht zudringlich; meine Waldstreiferei führte mich in die Nähe und die Hoffnung, zu erfahren, daß Ihre Fußreise Sie nicht zu sehr ermüdet und angegriffen habe, bis hierher …“

„Ich danke Ihnen,“ versetzte sie freundlich, aber sehr ernst, „wie Sie sehen, bin ich wohl; ich danke Ihnen für die große Gefälligkeit, welche Sie mir gestern bewiesen, und die ich nicht hätte annehmen sollen, da Sie einen so weiten Weg bis zu Ihrem Hause zurückzumachen hatten. Aber ich wußte nicht, wie weit …“

„Sie kannten den Weg nicht, freilich, und es wäre ja unverzeihlich von mir gewesen, hätte ich es Ihnen überlassen, sich den Weg selber zu suchen. Darum reden wir nicht von Dank …“

Wilderich schwieg. Sein Auge haftete auf dem Antlitze des jungen Mädchens, das einen so unbeschreiblichen Zauber auf ihn ausübte; unter dem Einfluß dieses Zaubers, der ihm eigenthümlich die Gedanken verwirrte, wußte er nicht, wie er den abreißenden Faden des Gesprächs wieder anknüpfe.

„Es freut mich,“ stotterte er endlich, „daß Sie hier wohl aufgehoben sind … der Herr Schösser hat sicherlich …“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 433. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_433.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2021)