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verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Ich habe in wenigen Tagen leiden gelernt – ich weiß nur zu gut, was Seelenschmerzen sind! … Sie selbst haben mich bereits an die Dolchstiche gewöhnt – Sie sollen sehen, ich lächle dazu!“

„Gisela!“

Wie ein Aufschrei kam der Name von seinen Lippen. Er ergriff mit beiden Händen das Haar, das golden über ihre Schultern wogte, und preßte mit einer leidenschaftlichen Bewegung sein Gesicht hinein.

Dieser eine Moment verwandelte die majestätisch düstere Erscheinung des Mannes, als brause der prophezeite Gewittersturm droben in den Wipfeln auch bewältigend über sie hin.

„Sie haben mich schwach gesehen, und nun will ich es auch ganz sein,“ sagte er, den Kopf langsam hebend, indem das Haar seinen Händen entglitt. „Man sagt, durch die Seele des Ertrinkenden ziehen im letzten Augenblick noch einmal alle Wonnen und Schmerzen seines ganzen Lebens – ich stehe auch vor einem entscheidenden letzten Augenblick, und da mag es noch einmal auftauchen, was die Wonne und Qual meines Lebens ist.“

Er neigte sich wieder tief über das Mädchengesicht, das sich ihm in athemlosem Aufhorchen voll zuwandte – man hätte meinen können, Puls- und Herzschlag stehe still unter dieser regungslosen Spannung der Seele. … Oliveira’s Blick suchte in unverhohlener Leidenschaft die Augen des jungen Mädchens.

„Und nun sehen Sie mich noch einmal so an, wie gestern, da wir neben dem Abgrund standen,“ fuhr er fort. „Für lange, namenlose Leiden nur diese eine glückliche Secunde! … Gräfin, mein Leben im Süden war ein wildbewegtes, ein Leben voller Kämpfe und gefährlicher Abenteuer. Ich suchte im Ringen mit den Elementen und mit den wilden Bestien des Waldes das Aufschreien eines inneren Schmerzes zu ersticken. … Ich bin den Tigern und Bären nachgegangen, habe ihnen, mit dem unbezähmbaren Wunsch, sie zu tödten, Tag und Nacht aufgelauert – ich kenne das Behagen der Mordlust einem überlegenen Feind gegenüber– nie aber habe ich den Muth gehabt, ein Reh niederzuschießen – ich fürchtete die Seele in seinem brechenden Auge!“ …

Er schwieg. Ein beglücktes Lächeln spielte um seinen schöngeschwungenen Mund – die zwei Mädchenaugen sahen ja mit dem heißgewünschten Ausdruck hingebender Zärtlichkeit unverwandt zu ihm empor. … Ein tiefes Aufathmen hob seine breite Brust, das Lächeln erlosch – er strich mit der Hand über die Stirn, als wolle er einen himmlischen, verlockenden Traum wegwischen. Dann fuhr er mit tonloser Stimme fort: „Ich bin berufen, verschwiegene Sünden an das Licht zu ziehen, einen überlegenen Feind, eine Geißel der Menschheit anzugreifen und zu vernichten – aber das Schicksal zeigt auch gebieterisch auf ein armes Reh mit seinen unschuldigen Augen, auf ein liebliches Geschöpf, das meine erste und einzige, meine unsterbliche Liebe ist, und fordert: ,Du sollst es mit eigener Hand verletzen, es soll schmerzlich leiden durch dich!’ Gisela,“ flüsterte er in ausströmender Zärtlichkeit dicht an ihrem Ohr, „ich habe vor dem Waldhause Ihre Beschuldigung des Jähzornes schweigend hingenommen – es war etwas Anderes – ich konnte es nicht ertragen, daß die Arme des Knaben mein Heiligthum, die vergötterte Gestalt, umschlangen, die ich nie berühren durfte – ich habe in den Steinbrüchen unter tausend Schmerzen der Entsagung Ihre kleinen Hände weggestoßen, während meine ganze Seele mit verzehrender Sehnsucht darnach verlangte, Sie nur ein einziges Mal an mein Herz zu ziehen – ich habe noch vor wenig Augenblicken dort drüben, in Ihrem Anblick verloren, gestanden, von dem berauschenden Gedanken fast überwältigt, Sie in meine Arme nehmen und hinüber in mein einsames Haus retten zu dürfen. … Das sind Gedanken und Wünsche, die an Wahnwitz streifen – ihre Vermessenheit wird grausam genug gestraft – ich weiß ja nur zu sicher, daß Sie mich binnen einer Stunde von sich stoßen werden als einen Vandalen, der Ihre Heiligenbilder in den Staub gerissen hat!“ …

„Ich werde Sie nie von mir stoßen – das weiß ich. – Soll ich durch Sie leiden, so mag es geschehen. … Und wenn die ganze Welt Sie um deswillen mit Steinen bewirft – ich werde nicht einmal einen anklagenden Blick für Sie haben.“

Sie schob sanftlächelnd, während Thränen in den aufstrahlenden braunen Augen funkelten, ihre kleine Hand durch das Gitter der Banklehne und hielt sie ihm hin – er sah es nicht, er hatte das Gesicht in beiden Händen vergraben. Als sie wieder niedersanken, war sein Gesicht so fahl und blutlos, daß es aus dem dunklen Gebüsch förmlich gespensterhaft hervorleuchtete; aber ertrug auch wieder das frühere feste Gepräge einer finsteren Entschlossenheit.

„Gräfin, seien Sie hart gegen mich!“ sagte er ruhiger. „Nicht diese holde Sanftmuth – ich kann sie nicht ertragen. … Das, was ich unter allen Umständen thun muß, erscheint ihr gegenüber nur um so teuflischer. … Ich habe Sie vorhin vor einem unvermeidlichen Blitz gewarnt – ich kann ihn nicht von Ihrem Haupt abwenden, aber ich will auch nicht, daß er Sie unvorbereitet, unter allen jenen Gesichtern dort trifft. … Kehren Sie nach Greinsfeld zurück. … Gehen Sie und – vergessen Sie mich, der ich verurtheilt war, Ihren Weg auf eine so furchtbare Weise zu kreuzen. … Und nun, leben Sie wohl – für alle Zeiten!“

Sie sprang auf.

„Gehen Sie nicht!“ rief sie. „Ich kann nicht hart sein! … Ich will mit Ihnen sterben, wenn es sein muß!“ …

Bei diesen herzerschütternden Tönen wandte er sich jäh um – mit einer fast wilden Geberde streckte er die Arme nach ihr aus, als wolle er sie in der That erfassen und in sein einsames Haus retten – aber auch eben so schnell ließ er die Arme wieder sinken. Gleich darauf war sein todtenbleiches Gesicht im Gebüsch verschwunden.

Dagegen fühlte sich die junge Dame plötzlich von rückwärts ergriffen, und zwei Arme preßten sich wie ein Schraubstock um ihre zarte Taille. … Frau von Herbeck war durch die heftige Bewegung ihrer Schutzbefohlenen aus ihrem immer interessanter und lauter werdenden Zwiegespräch aufgerüttelt worden.

„Um Gotteswillen, Gräfin, haben Sie eine Vision? … Was ist Ihnen?“ rief sie mit allen Zeichen heftigster Alteration in den Zügen.

Auch ihre Freundin war herzugesprungen und nahm besorgt die Hände des jungen Mädchens zwischen die ihren.

„Nichts – lassen Sie mich!“ stieß Gisela heraus und wand sich los.

Frau von Herbeck’s zweiter erschrockener Blick galt den Excellenzen – sie athmete erleichtert auf – dort hatte Niemand das auffallende Gebahren der jungen Gräfin, das ihr selbst ein unlösliches Räthsel blieb, bemerkt. Man amüsirte sich vortrefflich – der Champagner war ausgezeichnet, und die Laune des Durchlauchtigsten Festgebers eine durchaus rosenfarbene.


28.

Ohne auf die beschwörenden Bitten der Gouvernante zu achten, die durchaus wissen wollte, was „ihren Liebling“ so sehr erschreckt habe, setzte sich Gisela wieder auf die Bank.

… Nein, sie ging nicht! … So viel hatte sie aus seinen dunklen Reden verstanden, er wollte hier einen überlegenen Feind angreifen. … Was er auch vorhatte, wer auch der Feind sein mochte, sie ließ den geliebten Mann nicht allein in einem Augenblick, wo vielleicht alle diese Menschen dort drohend und feindselig ihm gegenüberstanden. … Sie war ja nun auf den niederfahrenden Blitzstrahl vorbereitet, sie wollte ihn hinnehmen, ohne mit den Wimpern zu zucken; welche Schrecknisse er ihr auch zeigen mochte, nach den folternden Schmerzen, die sie jetzt erduldete, konnte nichts Schlimmeres kommen. … Er wußte jetzt, wie er geliebt wurde, er hatte ihr ein Bekenntniß zugeflüstert, das ihr einen ganzen Himmel voll Glückseligkeit erschloß – und dennoch hatte er sich von ihr losgerissen um einer dunklen Macht willen, die ihre ewige Trennung heischte. … Sie wollte dieser Macht in’s Auge sehen – sie wollte wissen, ob es wirklich eine Gewalt auf Erden gebe, die zwei in innigster Liebe verbundene Herzen auseinander reißen durfte.

Das lange, rauschende, endlos scheinende Musikstück schloß mit einigen schmetternden Accorden. Man verließ die geplünderten Büffets; auch der Fürst erhob sich und schritt in Begleitung des Ministers über die Wiese.

„Mein Herr von Oliveira,“ sagte er sehr heiter zu dem Portugiesen, der plötzlich in seiner Nähe zwischen zwei Eichen hervortrat, „Sie erscheinen sehr pünktlich; aber schelten muß ich Sie doch, daß Sie meinen vortrefflichen Champagner nicht besser zu würdigen wissen – ich habe Sie nicht unter meinen Gästen gesehen. … Ist Ihnen übel? … Sie sehen bleich, fast möchte ich sagen, alterirt aus, wenn es nicht absurd wäre, sich einen Hercules, wie Sie, nervenerschüttert zu denken.“

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