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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

„Die Nachbarin des Donners.“



Geweihtes Erz! für Ewigkeit
Hat dich des Dichters „Lied“ geweiht.
Wer kann dich höher noch erheben,
Der Glockenstimme Heimathklang,
Als Friedrich Schiller’s Hochgesang?
„Hoch überm niedern Erdenleben
Soll an dem blauen Himmelszelt
Die Nachbarin des Donners schweben
Und grenzen an die Sternenwelt;
Soll eine Stimme sein von oben,
Wie der Gestirne helle Schaar,
Die ihren Schöpfer wandelnd loben
Und führen das bekränzte Jahr.
Nur ewigen und ernsten Dingen
Sei ihr metall’ner Mund geweiht,
Und stündlich mit den schnellen Schwingen
Berühr’ im Fluge sie die Zeit.
Dem Schicksal leihe sie die Zunge;
Selbst herzlos, ohne Mitgefühl,
begleite sie mit ihrem Schwunge
Des Lebens wechselvolles Spiel.
Und wie der Klang dem Ohr vergehet,
Der mächtig tönend ihr entschallt,
So lehre sie, daß nichts bestehet,
Daß alles Irdische verhallt.“


Als man am Begräbnißtage des Kurfürsten Johann, des Beständigen, in Wittenberg zur Trauer läutete, sprach Luther: „Die Glocken klingen viel anders denn sonst.“ Mit diesen Worten hat er die wunderbare Macht des Glockentons über unser Gemüth, unsere Stimmung fast kindlich einfach und doch so wahr bezeichnet. Wohl klangen die Glocken damals nicht anders, als immer, aber so innig ist ihr Ton mit den Gefühlssaiten unseres Herzens verbunden, daß er stets mit ihm in Harmonie bleibt, in Dur wie im Moll, von der Begeisterung, die auf Choralwogen schwebt, bis zum Heulen des Sturms, von der sanften Abendwehmuth bis zum tiefen Schmerz hinter’m Sarg der Lieben.

Diese Wirkung auf das Gemüth verleiht der Glocke den eigentümlichen Werth vor allen sonstigen Stücken des Gemeinde- Eigenthums. Sie gehört ausnahmslos Allen. Dem Aermsten wie dem Reichsten giebt ihr schallender Klang die Tageszeiten an, vom „Morgen-“ bis zum „ Abendläuten“, und ruft sie zu den Festen der Kirche wie der Familie, zum Taufstein und zum Altar; und nicht überall ist’s so schlimm, daß ihr Trauerton nur denjenigen, für welchen es bezahlt wird, auch auf dem letzten Wege begleitet. Diese enge Verknüpfung der Glocke mit dem Lebensgang jedes Menschen macht sie zu einem Schicksalsgenossen und verbindet sie mit der Geschichte des Dorfs, der Stadt, der Heimath der Bewohner. Schon die lebhafte Erinnerung an die heimische Glocke erweckt in der Ferne das Heimathsgefühl oft bis zum Heimweh.

War aber eine solche Glocke seit der Mitte des dreißigjährigen Kriegs bis auf die Gegenwart mit dem Schicksal einer Stadt, wie Leipzig, verbunden, so thut sich ein Stück Weltgeschichte vor uns auf, wenn wir hinblicken auf den vor unserm geistigen Auge vorüberwogenden Strom so vieler Völker, Fürsten und Führer, so vieler einzelnen Hervorragenden, so vieler Gewaltigen an Macht oder Geist und Kunst, und der großen Massen, der friedlichen Züge der Messen und Feste und der donnernden Heere der blutigen Schlachten! Und all’ diese Tausende und aber Tausende haben den tiefen Klängen dieser Glocke gelauscht, in Andacht und Gebet, im Siegesjubel, in Angst und Elend, in Festespracht, in Noth und Jammer, im Zittern und Toben des Sturms, beim Weinen der Geliebten auf dem Sterbepfühl und draußen im Todesröcheln auf dem kalten, nassen, zerstampften „Bette der Ehre“. Welch ein Menschengeschick ist nur zu erdenken, auf das in fast dritthalbhundert der ereignißschwersten Jahre des Vaterlandes die große Glocke vom Thurme der Nicolaikirche nicht herniedergehallt hätte! Ist es anders möglich, als daß an solch’ einem „geweihten Erz“ nicht blos das Herz des Glöckners und Thürmers hängt, sondern daß eine ganze Bewohnerschaft sie mit dem Gefühle erschallen hört und betrachtet, welches so mächtige Erinnerungen in jeder Menschenbrust erwecken müssen?

Ebendarum war es auch ein gemeinsamer Verlust, als diese alte große Glocke in jüngster Zeit zersprang, und ebenso nimmt die Herstellung eines vollständig neuen Geläutes aus dem alten Erze sämmtlicher vier Glocken des Nicolaithurms eine allgemeine Theilnahme für sich in Anspruch und hat in den letzten Wochen die Schritte vieler Leipziger nach dem großen Eckhause der Sternwarten- und Glockenstraße gelenkt, wo der alte Meister G. A. Jauck, der Rathsglockengießer von Leipzig, seine große und stattliche Werkstatt aufgeschlagen hat. Aus derselben sind bis jetzt nahe an vierhundert große Kirchenglocken, einzelne von mehr als hundert Centner Gewicht, hervorgegangen, deren mehrere ins Ausland, ja bis nach Indien kamen. Die vier alten Nicolai-Glocken hatten ein Gesammtgewicht von 158¾ Centnern, die aber in einem solchen Mißverhältniß vertheilt waren (die große Glocke 119 Centner, die drei übrigen 33¾, 4½ und 1½ Centner), daß dem Geläute alle Harmonie abging. Die vier neuen Glocken sind 80, 40, 23¾ und 10 Centner schwer und stimmen in dem Accord G, H, D, G.

Der Klang der Glocken geht ja um die ganze Erde, und so weit er zu Herzen spricht, reicht auch die Theilnahme für sie; ebendarum dürfen wir es wohl wagen, die hier gegebene Gelegenheit zum Versuch eines technologischen Commentars zu Schiller’s „Lied von der Glocke“ zu benutzen.

Merken wir uns nun vor Allem die technische Bezeichnung der einzelnen Theile jeder Glocke. Da, wo sie ihren größten Umfang hat, bei der Mündung, hat die Glocke auch ihre größte Metalldicke, den Schlagring, Schlag oder Kranz, d. i. den Umkreis, gegen welchen der Klöppelball schlägt. Von der Schlagmündung bis zur Mitte verengert sie sich nahezu um die Hälfte; der dann folgende Obersatz vollendet diese Verengerung, so daß der Durchmesser des obersten Theils der Glocke, der Haube oder Platte, nur die Hälfte von dem des Bordes beträgt, wie der schmale Rand heißt, in welchen der Schlagring nach unten ausläuft. Auf der Haube steht die gleich durch den Guß mit ihr verbundene Krone von sechs Henkeln (deren zwei von dem dritten, dem Mittelbogen, überspannt werden), welche zur Befestigung des Helms, Wolfs oder Jochs dient, eines im Verhältniß zur Schwere der Glocke starken Stückes Eichenholz, das, mit eisernen Ringen und Bändern verstärkt, mit beiden Enden cylindrisch in den eisernen Zapfen ausläuft, mit welchen die Glocke in der Messingpfanne des Glockenstuhls ruht, um geläutet werden zu können. Letzteres geschieht entweder am Glockenstrang mittels des Schwängels, also durch Ziehen von unten, oder durch Treten von oben auf das auf dem Schwängel befestigte Trittbret. Zur Befestigung des Klöppels dient das Hängeeisen, ein Oehr aus Schmiedeeisen, das in die Haube eingegossen ist, und ein starker, mehrfacher Riemen aus Rindsleder.

Unmittelbar vor dem Schmelzofen ist die Dammgrube ausgegraben, in welcher die Form aufgebaut wird. – Die Herstellung der Form ist des Glockengießers Meisterstück. Von ihr hängt Gestalt, Gewicht und Ton der Glocke ab.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 412. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_412.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)