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verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Gesicht noch sonnig – ihr späteres Leben war sehr ernst und wohl geeignet, sie Maßregeln für den Lebensgang ihres Kindes ergreifen zu lassen –“

„Durfte sie das? … Ist wirklich den Eltern die Macht verliehen, in den Jahren, wo ihr Kind die Augen kaum für die Welt geöffnet hat, wo sie seine Seele noch gar nicht kennen, zu sagen: ,Wir verurtheilen dich zu lebenslänglichem Kerker!‘? Ist es nicht der grausamste Egoismus, ein völlig schuldloses Geschöpf die Sünden seiner Vorfahren abbüßen zu lassen? …“

Sie strich sich mit beiden Händen über die Stirne, hinter der es klopfte und hämmerte.

„Aber es soll so sein, wie meine Mutter wünscht,“ sagte sie nach einem tiefen Athemholen. „Ich will schweigen und das schlimme Geheimniß wie sie weiterschleppen, – die veruntreuten Güter sollen einst durch ‚Erbschaft‘ wieder an das fürstliche Haus zurückfallen. … Ich will einsam leben – wenn auch nicht im Kloster. …“

Der Minister, dessen Züge sich anfänglich geglättet hatten, prallte förmlich bei diesem Schlusse zurück.

„Wie“ – stieß er hervor.

„Der Ertrag der Besitzungen soll bis zu meinem Ende an die Armen des Landes vertheilt werden, aber durch mich selbst,“ unterbrach sie ihn gelassen. „Ich will auch, soviel ich vermag, die Seele meiner Großmutter von ihrer Schuld erlösen, wenn auch nicht durch das Beten des Rosenkranzes. … Papa, ich weiß, daß ich Gott nicht besser dienen kann, als wenn ich für die Menschen lebe, wenn ich alle Kräfte –“

Ein gellendes Auflachen unterbrach sie – es hallte grausig von den Wänden wider.

„O edle Landgräfin von Thüringen, ich sehe schon, wie sie in das Greinsfelder Schloß einziehen, die Bettler und Krüppel! Ich sehe, wie Du zum Nutzen und Frommen der darbenden und leidenden Menschheit dünne Armensuppe kochst und lange wollene Strümpfe strickst! Ich sehe auch, wie Du heldenmüthig den Entschluß festhältst, vor den Augen der spöttelnden Welt als alternde Jungfrau einherzuwandeln … aber da klopft eines schönen Tages ein edler Ritter an die Herberge der Elenden, und – vergessen ist der ‚Gott wohlgefällige‘ Dienst, vergessen der letzte Wille der Mutter – die Armen zerstreuen sich nach allen vier Winden, der neue Gebieter von Greinsfeld acceptirt als Mitgift seiner Gemahlin den erschlichenen Nachlaß des Prinzen Heinrich, und – das fürstliche Haus in A. wischt sich den Mund! … Einfältiges Geschöpf,“ fuhr er grimmig fort – es klang wie das Knurren des tiefgereizten Raubthieres – „meinst Du, weil ich Dir in unbegreiflicher Geduld und Langmuth Zeit lasse, Deine Mädchenweisheit auszukramen, ich beuge mich nun auch pflichtschuldigst Deinem geistreichen Endbeschluß? … Du wagst wirklich zu denken. Dein eigener Wille käme in Betracht, wenn ich Dir gegenüberstehe mit einem unumstößlichen Gebot? … Du hast nichts zu denken, zu fühlen, zu wünschen – Du hast einfach zu gehorchen; Du hast einen einzigen Weg vor Dir, und weigerst Du Dich, ihn zu gehen, so werde ich Dich führen – hast Du mich verstanden?“

„Ja, Papa, ich habe Dich verstanden, aber ich fürchte mich nicht – Du hast nicht die Macht, mich zu zwingen!“

Er hob in sprachlosem Grimm den Arm. Das junge Mädchen, wich vor dieser drohenden Bewegung nicht um einen Schritt zurück. „Du wirst es nicht noch einmal wagen, mich zu berühren!“ sagte sie mit flammenden Augen, aber ruhiger, unerschütterter Stimme.

In demselben Augenblick wurde draußen geklopft – in der geräuschlos geöffneten Thüre erschien ein Lakai.

„Seine Durchlaucht der Fürst!“ meldete er mit einem tiefen Bückling.

Der Minister stieß einen halblauten Fluch aus. Dennoch trat er sofort bewillkommnend an die Schwelle, während der Lakai die Thür weit zurückschlug.

„Aber, mein lieber Fleury, was soll ich denken?“ rief der Fürst in das Zimmer tretend; sein Ton klang scherzend, allein auf der Stirn lag eine Wolke, und die kleinen grauen Augen konnten die Symptome des Mißmuths nicht verbergen. „Haben Sie ganz vergessen, daß drüben im Walde die ganze schöne Welt von A. darauf brennt, Sie zu verherrlichen? Das weiße Schloß ist bereits menschenleer, und Sie lassen warten? … Dazu meldet man mir vor einer Stunde, unsere schöne Gräfin sei angekommen, ich aber sehe keinen Schatten von ihr, während Sie doch wissen, daß sie an meinem Arm zum ersten Mal in die Welt eintreten soll!“

Gisela, die bis dahin im verdunkelten Hintergrund gestanden hatte, trat vor und verbeugte sich.

„Ah, da sind Sie ja!“ rief Serenissimus erfreut und streckte ihr beide Hände entgegen. „Mein bester Fleury, ich könnte wirklich böse werden! Frau von Herbeck“ – er wandte sich nach der offenen Thüre zurück; draußen im Corridor stand in schüchtern wartender Haltung die Gouvernante – „Frau von Herbeck sagt mir, daß die Gräfin bereits seit einer vollen Stunde hinter dieser Thüre verschwunden sei.“

„Durchlaucht, ich hatte meiner Tochter wichtige Mittheilungen zu machen,“ unterbrach ihn der Minister. Vielleicht stand er Serenissimus zum ersten Mal nicht in der unterwürfigen Diplomatenhaltung gegenüber – der Blick des fürstlichen Herrn fuhr erstaunt über das Gesicht, das alle seine steinerne Ruhe verloren hatte und rückhaltslos eine tiefe Gereiztheit widerspiegelte.

„Mein lieber Freund, Sie werden doch nicht denken, daß ich tactlos in Ihre Familienangelegenheiten eindringen will!“ rief er verlegen. „Ich ziehe mich sofort zurück –“

„Ich bin zu Ende, Durchlaucht,“ entgegnete der Minister, „Gisela, fühlst Du Dich wohl und stark genug?“ – ein drohender Blick bohrte sich in das Gesicht des jungen Mädchens.

Frau von Herbeck hatte für dergleichen Blicke ein bewunderungswürdiges Verständniß.

„Excellenz, wenn ich rathen darf, so kehrt die Gräfin ohne Weiteres nach Greinsfeld zurück,“ sagte sie, plötzlich hinzutretend.

„Sie sieht schrecklich aus –“

„Kein Wunder!“ rief der Fürst unwillig. „In diesem Zimmer herrscht eine Luft zum Ersticken. Wie Sie eine volle Stunde hier ausgehalten haben, ist mir unbegreiflich, mein Kind!“

Er reichte Gisela den Arm. Sie wich scheu zurück, und ihre Augen irrten am Boden. Sie sollte unbefangen mit ihm verkehren, der so schmählich hintergangen worden war … sie war Mitwisserin des abscheulichen Verbrechens und mußte schweigend mitspielen in der Komödie – ihre ganze Seele gerieth in einen unbeschreiblichen Aufruhr.

„Die Waldluft wird Sie sofort herstellen,“ sagte der alte Herr gütig und ermuthigend, indem er ihre bebende Hand ergriff und sie auf seinen Arm legte.

„Ich bin nicht krank, Durchlaucht,“ entgegnete sie fest, wenn auch mit schwacher Stimme, und folgte ihm hinaus in den Corridor, während der Minister, nach seinem Hut greifend, eine reizende Porcellanstatuette umstieß – sie zerschmetterte auf dem Fußboden in tausend Scherben.

(Fortsetzung folgt.)

Der letzte Weg. Der Zeichner dieses Bildes (auf S. 381) macht uns zu Augenzeugen eines Begräbnißzugs auf einem der dunkelgrünen Alpenseen seiner schönen oberösterreichischen Heimath. Für die Uferbewohner jener Seen ist häufig, wie der Kirchweg, so auch der letzte Weg nur über das Wasser möglich, oder wenigstens am bequemsten und kürzesten, und darum ist dort das Bild etwas Bekanntes, welches unserem Auge immerhin einen seltsamen Anblick bietet. Von allen Leichenbeförderungsweisen, die wir unseren Lesern bildlich vorführten, auf der Schulter der Träger, auf Wagen, auf Rossen, auf Schlitten etc., ist die auf dem Wasser die schönste, denn wer auch in dem Sarge da ruhen mag, und wenn sein Lebensgang noch so hart war, sanfter kann er nicht zu Grabe getragen werden, als von den weichen Wellen, die den alten Kahn umrauschen.


Kleiner Briefkasten.

R. v. W. in Berlin. Sie haben Recht und wir danken Ihnen für den freundlichen Wink hinsichtlich des Versehens, das sich in den Artikel „Aus der Rumpelkammer des modernen Aberglaubens“ eingeschlichen hat. Hinter dem Satze der letzten Spalte (S. 331) des Artikels: „Die Art der Anwendung dieser Grundsätze mögen zum Schluß einige Beispiele erläutern“ – fehlt jedoch Nichts, sondern die drei folgenden Sätze sind nur falsch gestellt (verhoben), indem der erste Satz („Wie steht es etc.“) den letztm bilden muß. Dieser Verhebungsfehler ist in einer Anzahl von Exemplaren übersehen worden und ein solches auch in Ihre Hand gekommen.


Inhalt: Zu wirthschaftlich. Von Fr. Gerstäcker. – Erinnerungen an die älteste Thüringer Nachtigall. Von Friedrich Hofmann. Mit Portrait. – Amerikanische Volksjustiz. Von Carl Türcke. – Literarische Briefe. An eine deutsche Frau in Paris. Von Karl Gutzkow. V. – Reichsgräfin Gisela. Von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Der letzte Weg. Mit Abbildung. – Kleiner Briefkasten.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1869, Seite 384. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_384.jpg&oldid=- (Version vom 19.9.2021)