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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


Warte, und die Policisten, denen unausbleiblich ein ähnlicher Tod bevorstand, zogen in aller Stille wieder ab.

Die Hingerichteten wurden seitens des Vaters Reno und der drei übrigen Kinder, – ein anderer Sohn sitzt in Jefferson-City, Missouri, wegen Raubes auf fünfundzwanzig Jahre, und die Mutter, die eigentliche Weisel der Bande, starb im vorigen Sommer – auf dem Kirchhof von Seymour feierlich begraben und ein kostbares Marmordenkmal soll ihnen demnächst errichtet werden. Die schöne Schwester, welche schwur, ihr ganzes ferneres Leben der Rache ihrer Brüder zu weihen, hat eine ernste Verwarnung erhalten, und wenn sie sich nicht ruhig verhält, dürfte ihr Schicksal nicht lange zweifelhaft sein. Ueber welche Geldmittel diese Diebesfamilie verfügt, geht daraus hervor, daß einer der gelynchten Brüder seiner Frau fünfhunderttausend, ein anderer der seinigen achtzigtausend Dollars hinterlassen hat.

Gewiß sind alle diese Thatsachen auch in deutschen Blättern verlautet und gewiß hat sich drüben in der alten Welt ein tiefer Abscheu gegen das Verfahren des Vigilanz-Comités geltend gemacht. Fern sei es von mir, ein solches gesetzloses Vorgehen zu entschuldigen oder gar zu rechtfertigen, aber wer, wie wir hier in der Nähe, alle die Einzelheiten der Verhältnisse kennt, der fällt ein milderes Urtheil und spricht mit meinem Freund Follen, der auf dem Wege in dies Land der Freiheit im Ocean sein Grab gefunden:

„Ist Dunst zur Höh’ gestiegen,
So muß der Donner fliegen.“

Seymour ist jetzt so sicher, daß man des Abends ein Capital auf die Thürschwelle legen und sicher sein kann, es am andern Morgen unversehrt und unberührt vorzufinden. Bald wird die durch Blut geläuterte Stadt sich herrlich emporschwingen.

Cincinnati, 8. Mai 1869. Carl Türcke, 
0 Prediger.




Literarische Briefe.

An eine deutsche Frau in Paris.
Von Karl Gutzkow.
V.

Ob ich denn, fragen Sie, angeregt von meinem letzten Briefe, nicht mehr den Zauber der Romantik auf mich wirken ließe? Ob sich überhaupt die Deutschen nicht mehr geistig heimisch fühlten unter epheuumwundenen Klosterruinen, beschienen vom milden Glanz des Mondes, umsäuselt von den Klängen einer in rauschenden Baumwipfeln aufgehängten Aeolsharfe? Die fremden Nationen wollten ja doch von uns gerade nur diese Richtung –! Sie wollten ja in uns nur ein Volk, das sich immer noch mit Nixen und Kobolden um den Besitz unserer Berge und Thäler stritte, ein Volk, das gewisse Schluchten vermiede, wo die Drachen hausen, ein Volk, das sich Abends unter duftenden Lindenbäumen jetzt noch gegrüßt wähnte von vorüberschwebenden Feen, und die Zauberer, die Wahrsager, die Hexen und Zigeuner als die wahren Berather seiner Geschicke anerkennt! E. T. A. Hoffmann, der Verfasser der „Teufelselixire“, erschiene, sagen Sie, den Franzosen „deutscher“, als selbst Goethe, wenigstens letzterer in seinen „Wahlverwandtschaften“.

Die Periode der Romantik bezeichnet allerdings einen Abschnitt unserer Geschichte, der uns für alle Zeit denkwürdig, theuer und werth bleiben soll. Wer unter uns hätte sie nicht in seiner ersten Bildungsentwickelung gefühlt, diese süßen Schauer einer schöneren Zeit und Welt, die von Künstlern und Dichtern hervorgezaubert wurde mit dem täuschenden Schein eines annoch wachen Lebens! Möglich, daß die gegenwärtige, sich vorzugsweise schon auf Schiller, Lessing und die Theorie vom Schönen überhaupt gründende Schulbildung einer ausschließlichen Hinneigung des jugendlichen Gemüths zum Romantischen vorbeugt. Dann wäre aber unsere Jugend um einen Genuß ärmer geworden! Sie hätte nichts empfunden von jenem geheimnißvollen Reiz der Wiederbelebung des Todten, von jener tiefinnigen Beseelung von Stein und Welle, Baum und Blüthe, von jener poetischen Ergänzung des sichtbar Vorhandenen durch zahllose schöne Schattenbilder (nicht nur Schattenbilder des Märchens und der Sage, sondern auch der Verknüpfung und Aneinanderreihung heterogenster Gedankenmöglichkeiten), die zum Wesen des Romantischen gehört. Denke man sich nur Deutschland zur Zeit seiner tiefsten Erniedrigung, in jenen Tagen, wo unsre Heere von Frankreich besiegt, unsre Fürsten gezwungen wurden, die Reste derselben dem corsischen Eroberer zur Verfügung zu stellen – in jenen Tagen, wo man über die Möglichkeit, daß jemals wieder Deutsche gegen Deutsche kämpfen könnten, für immer den Fluch ausgesprochen zu haben glaubte – ! Damals flüchtete sich unser Stolz, unser Herz, unsre Liebe und Sehnsucht hinaus aus unserm unterjochten, in Fesseln schmachtenden Vaterlande. Damals konnte ein Sturmgeist wie Joseph Görres, der schon die Mütze des Jacobiners getragen hatte und sogar, im grellsten Widerspruch mit seinem traurigen, nachtumhüllten, nur der römischen Kirche dienenden Lebensausgang, eine Schrift zum Druck vorbereitete, die kein einziger freisinniger Verleger Hamburgs herauszugeben wagte: „Fall der Religion“ – damals, sage ich, konnte sich ein Genius solcher Thatkraft einer Zeitschrift der Romantiker anschließen. „Trösteinsamkeit. Wochenblatt für Einsiedler.“ … Im schönen Heidelberg, im Nachtigallenhain am Wolfsbrunnen war es, wo sich eine kleine Gemeinde von gleichgestimmten Dichtern und Forschern versammelte und den Mittelpunkt jener Richtung bildete, die sämmtliche bereits in unserer Literatur, seit Herder, Bürger, Hölty, Schubart, Schiller und Goethe, zerstreut gewesenen Elemente des Begriffs vom Romantischen zu einem einheitlichen, besondersbedingten Schönheitsgesetze vereinigte und dem jammervoll gewordenen Zeitalter, dem abgestorbenen Reiche, der französelnden Sitte, dem umsichgreifenden, sogar schon den deutschen Genius anzustecken drohenden und sich gewissen antikisirenden Richtungen unsres eignen Kunstlebens enger und enger anschließenden Pariser Geschmack eine Kunstform gegenüberhielt, die wesentlich auf einem neuen Erforschen und Erfassen des Mittelalters beruhte.

Antik oder romantisch – das wurden zwei Gegensätze, denen noch für längere Zeit ein scharf ausgesprochener und festbestimmter dritter Begriff, das Moderne, nicht entgegenstand. Letzterer hat sich erst in unseren neuern Tagen klarer und bestimmter herausgestellt. Wie das Antike oder Classische die Erscheinung des Schönen unter den Bedingungen der vorchristlichen Zeit war, so wurde das Romantische die Erscheinung des Schönen unter den Bedingungen des Mittelalters. Unstreitig ist als der geistige Grundgedanke des Alterthums das Opfer zu bezeichnen, als der des Mittelalters das Wunder, als der der neuen Zeit der Gedanke selbst. Es wird sich mir noch Gelegenheit bieten, Ihnen, verehrte Frau, zu beweisen, daß die geistigen Blüthen des Alterthums eben dem Priesteramt und dem Opfer entsprossen sind. Daß das Wesen des Mittelalters im Wunder zu suchen sei, dürfte Ihnen schon einleuchtender erscheinen. Nicht nur, daß „das Wunder“, wie der Dichter sagt, „des Glaubens liebstes Kind“ ist, und es eben der Glaube war, der dem mittelalterlichen Leben seine Weihe gegeben, es gehört auch die Sehnsucht, auch der Trieb in die Ferne, das Völkerwandern und Ländersuchen des Mittelalters jener Herrschaft des Wunders an. Das Unerklärte, Ahnungsvolle, den Sinnen eine unüberwindliche Schranke Setzende ist das Wunder, und so nennen wir denn auch eine Landschaft, eine Situation, einen Charakter – romantisch. Was heißt romantisch anders als: Hier rauschen Quellen, die wir hören, aber nicht sehen! Hier leuchten Farben und Lichtbrechungen, die aus einem Prisma stammen, das über den Wolken thront! Hier gewinnt ein Ineinandergreifen von moosbewachsenen Felsen, düstern Tannen und von einigen Abendsonnenstrahlen eine unerklärliche Macht über unser Gemüth, spricht die sanfteste Sprache, macht die süßeste Musik elegischer Rhythmen und Tonarten für unser Herz! Romantisch ist uns das Schöne unter dem Gesichtspunkt wehmuthsfroher Erinnerung und Ahnung.

Es ist eine schöne Aufgabe, die sich ein Kunstrichter stellen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 379. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_379.jpg&oldid=- (Version vom 16.6.2022)