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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

sein zu wollen als Jesus Christus, wir verlangen nicht nach der Ehre, irgend einem dogmatischen Christenthum anzugehören; aber wir behaupten, die echten Jünger des Christenthums Jesu Christi zu sein. Und ohne etwas mehr zu fordern, als er forderte, öffnen wir unsere Kirche so weit, als Jesus sein Herz öffnete, umarmen wir Alle, die er umarmte.“

Hier haben Sie in wenigen Sätzen den Grund und Boden, auf welchem diese „Kirche der Zukunft“ sich erheben soll: es soll eine Kirche ohne Dogmen, ohne bindendes Glaubensbekenntniß, ohne Priester und dennoch eine christliche, eine protestantische Kirche sein – christlich, weil Jesus ihr geistiges Oberhaupt sei, „der in seinem liebenden und reinen Herzen eine Formel gefunden, in der Alles ausgedrückt ist, was vor und nach ihm alle großen Philosophen, alle religiösen Denker, alle großen Wohlthäter der Menschheit gesagt haben mögen.“ Eine protestantische Kirche sei sie aber, weil ihre Mitglieder nicht das Evangelium fliehen, sondern nur das, was der orthodoxen Kirche beliebte, zu dem Evangelium hinzuzufügen. Vor drei Jahrhunderten, als die protestantische Kirche gegründet wurde, glaubte die gelehrte und ungelehrte Welt wohl noch an übernatürliche Erscheinungen. Mit der Entwicklung der geistigen Cultur aber schwindet der Glaube an das Wunder. Ist damit gesagt, daß die Liebe zum Guten, zum Wahren, zum Göttlichen, die Liebe zur Menschheit, „zu Jesu, jenem Typus des idealen Menschen“, nicht mehr in den Gemüthern leben könne, aus denen die Wissenschaft die Legenden und Wunder verdrängt hat? – „Kann man,“ fragt Buisson, „aus dem Evangelium nicht seinen vorzüglichsten Führer machen, sich bemühen, gemäß den von ihm ertheilten Lehren zu leben, und dabei glauben, daß diese Sammlung werthvoller Bücher ein Menschenwerk, daß es von frommen Menschen, aber immerhin von Menschen geschrieben ist, die in mehr als einem wissenschaftlichen Punkte die Irrthümer und Vorurtheile ihrer Zeit theilen konnten? Dies hat die orthodoxe Kirche nicht zugeben wollen. Alles oder nichts, hat sie gesagt. Unterwerfet euch und glaubet genau Alles, was die Mehrheit glaubt; wenn nicht, so tretet aus der Kirche aus.“ Sie sehen, diese Anschauungen sagen einem deutschen Publicum nichts Neues. Neu und bedeutsam an ihnen ist aber dennoch die frische apostelartige Begeisterung, mit welcher sie hier verkündet werden, der Drang zu sofortiger praktischer Gestaltung, den ihnen ein freier Boden verleiht, so wie der klare, warme und hinreißend schöne Ausdruck, den sie in den Reden und Schriften des jugendlichen Philosophen von Neuchâtel gefunden haben.

Wird es möglich sein, auf solche Anschauungen eine religiöse Gemeinschaft zu gründen?

Lassen Sie mich auf diese Frage mit einem Worte Buisson’s antworten: „Wir glauben nicht mehr an das Wort eines Priesters, an dieses Bekenntniß, an jenes Mirakel, an jene Theologie. Aber glaubt ihr denn, daß diese Dinge das Volk in die Kirche ziehen? Glaubt ihr, das Volk halte an der Dreieinigkeit, an der Prädestination, am blutigen Sühnopfer, oder an der Unfehlbarkeit der Bibel fest? … Was das Volk in der Kirche sucht, ist das große, sittliche Ideal, das zugleich der große Antrieb im Leben ist, jene Gesammtheit von Lehren, Beispielen, von herzinnigen, kräftigenden Anregungen, die sich eben für das Volk in einem Namen, dem Namen Jesu, zusammenfassen. Das ist es, was die Menschen gut, die Bürger frei, die Völker groß macht; das nur ist es, was der Kirche ihre allgemeine menschheitliche Rolle verliehen hat, und das können auch wir wie irgend ein Anderer als ein kostbares Gut bewahren. Man müßte an der Menschheit verzweifeln, wenn man es für unmöglich hielte, ihren religiösen Bedürfnissen volle und gerechte Genugthung zu gewähren, ohne es zum Nachtheil seiner intellectuellen und wissenschaftlichen Bedürfnisse zu thun.“

Freilich kenne ich viele unter meinen Freunden, die es Luther nicht verzeihen können, daß er nicht im neunzehnten Jahrhundert geboren war und im Geiste von Feuerbach’s „Wesen des Christenthums“ gepredigt hat. Diese meine Freunde vergessen eben, daß bei allen mächtigen Welterschütterungen nur derjenige seine Zeitgenossen zu einer großen That hingerissen hat, der die Gesammtideen seines Jahrhunderts am kräftigsten in sich repräsentirte. Es ist freilich bequemer, sich in ein philosophisches Wolkenkuckucksheim zurückzuziehen, als mit der Welt, in der wir nun einmal sind, vorwärts zu schreiten, ihren Bedürfnissen zu leben, zu handeln, und nicht blos hie und da einmal dreinzuschlagen oder gar Alles mit einem schlechten Witz abzuthun.

„Man zerstört nur das, was man zu ersetzen vermag.“ Dies Wort ist in religiösen Dingen ebenso wahr wie in politischen. Und deshalb sagt Buisson: „So lange ihr nicht begreifen werdet, daß die religiöse Frage die erste aller politischen Fragen ist, werdet ihr immer nur Scharmützel und Vorpostengefechte geliefert haben. Die große Schlacht wird im religiösen Bewußtsein, in der Familie geschlagen. Die große Eroberung, die ihr zu machen habt, ist die der Frauen und Kinder.“

Wir müssen Diejenigen, welche die weitere Ausführung dieser Grundansichten Buisson’s kennen lernen wollen, nochmals auf seine oben genannten beiden Schriften verweisen. Nach der praktischen Seite hin ist eine außerordentliche Bewegung durch Buisson’s entschiedene Forderung hervorgerufen worden, daß der Unterricht in der biblischen Geschichte vom Lehrplan der Volksschule entfernt werden soll. Weit entfernt davon, im Geiste unserer alten rationalistischen Schule dies oder jenes Wunder auf natürliche Weise zu erklären oder ihm eine symbolische Deutung zu geben, wobei der Bibel doch immer noch eine ausnahmsweise Behandlung vor allen anderen Denkmälern des Alterthums zu Theil wird, fordert Buisson, daß der Unterricht der jüdischen Geschichte an seiner Stelle in den Unterrichtsplan der allgemeinen Geschichte eingereiht werde und daß außerdem in den Schulen nur eine „Geschichte der Religion“ gelehrt werde, wie Letzteres meines Wissens an der Züricher Cantonsschule schon seit einigen Jahren der Fall ist. Der unendliche Aufwand von Verstandeskräften, welchen die moderne wissenschaftliche Orthodoxie zur Vertheidigung des Wunderglaubens hat aufbieten müssen, ist doch damit noch viel weniger zum Ziele gekommen, als der grübelnde und arbeitsvolle Scharfsinn der mittelalterlichen Theologen. Das ungeheure künstliche Gebäude, welches der Autoritätsglaube zu seinem Schutze aufgebaut, bekommt vielmehr täglich so viel Risse und Löcher, daß es kein Wunder ist, wenn ein großer Theil seiner Bewohner es verläßt, um nicht unter den Trümmern verschüttet zu werden.

An diese Flüchtlinge der orthodoxen Kirche, die heimathlos umherirren, die sich selbst von jeder religiösen Gemeinschaft ausgeschlossen haben oder die gewaltsam vertrieben worden aus den bestehenden Kirchen, an sie wendet sich die heutige religiöse Bewegung. Sie haben einen großen Kampf aufzunehmen, eine ernste Pflicht zu erfüllen; mögen sie sich derselben nicht entziehen. Nicht eine neue Religion sollen sie gründen helfen, dies wäre ein sinnloses Bemühen. Was nicht in der Vergangenheit Wurzeln hat, das hat auch keine Zukunft. Sie sollen Christen bleiben im Sinne des großen Nazareners, der nirgend gesagt hat, daß diejenigen verdammt seien, welche nicht an seinen göttlichen Ursprung glauben, daß es kein religiöses Leben ohne Wunderglauben geben könne; sie dürfen sich Protestanten nennen, weil sie von dem Grundsatz ausgehen, daß keine menschliche Autorität, sie heiße Papst, Concil, Synode, das Recht habe, sich zwischen den Einzelnen und seine Ueberzeugungen zu stellen.

Praktisch gestaltet sich jedoch diese Bewegung verschieden, je nach dem Boden, auf dem sie angeregt wird. Eben weil die freien Protestanten den historischen Zusammenhang mit der christlichen Kirche nicht aufgeben wollen und dürfen, muß ihre Organisation je nach den örtlich und historisch entwickelten Verhältnissen sich gestalten. Während z. B. in der deutschen Schweiz, in Holland, und theilweise in Frankreich und Deutschland dieser Fortschritt sich innerhalb der Kirche vollzieht, indem die Gemeinde einfach einen Pfarrer wählt, der im Geiste der Neuzeit wirkt, wird an anderen Orten diese Bewegung sich außerhalb der officiellen Kirche Bahn brechen und in anderer Weise zum Ziele gelangen müssen.

Buisson’s Wirksamkeit ist im großen Publicum der Laien, auch die Frauen nicht ausgenommen, bisher eine sehr erfolgreiche und durchgreifende gewesen. Nach allen Hauptorten der französischen Schweiz, auch nach Bern ist er gerufen worden, und überall, wo er als Redner aufgetreten, hat die Reinheit seiner Gesinnungen, die Kraft seiner Gedanken tausend Hörer ergriffen, hat sein Wort gezündet. Eine frische Saat ist ausgestreut, sie keimt, sie drängt empor zum Lichte. Ein fröhliches Erntefest allen denen, die vorwärts schauen und die am guten Werke schaffen!

Mit diesem Gruße drückt Ihnen herzlich die Hand Ihr getreuer

Stephan Born.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 360. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_360.jpg&oldid=- (Version vom 11.6.2022)