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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


zahlreichen Familien der deutschen gebildete Welt, und ich könnte Ihnen manchen Gelehrten nennen, der in erklärtester Feindschaft zur strenggläubigen Kirche steht und dieser Letzteren dennoch die religiöse Erziehung seiner Kinder überläßt. „Es wird ihnen nichts schaden!“ hören wir ihn darauf antworten. „Es hat mir auch nichts geschadet!“ – Und wir hatten bis jetzt geglaubt, der Unterricht, auch der religiöse, sei nicht nur da, um nichts zu schaden sondern um etwas zu nützen.

Indessen, die Ueberzeugung wird täglich allgemeiner, daß die Gleichgültigkeit der gebildeten freisinnigen Stände für religiöse Dinge die Quelle von tausend Uebeln in unseren gesellschaftlichen und politische Zuständen ist, ja daß eine Nation sittlich verkommen muß, deren begabteste und geistig belebteste Kreise sich von einem Hauptfactor alles Volkslebens, dem religiösen, grundsätzlich fernhalte, um das unentweihte Kindesgemüth der großen Masse der alleinigen Leitung eines Clerus zu überlasse, der eine fremde Welt, eine verschollene Zeit mitten unter uns repräsentirt.

Sie fragen mich nach dem Inhalt der religiösen Bewegung in der französischen Schweiz. An den obigen einleitenden Zeilen habe ich ihn andeuten wollen: Buisson möchte die gebildete Stände für das religiöse Leben wieder gewinnen, indem er ihnen mit beredten Worten und in hinreißendem Tone alle Nachtheile aufdeckt, die ihre Enthaltung der Sache des Fortschritts, der eigene Familie, dem ganzen Volke verursacht, indem er eine religiöse Formel aufstellt, die einfach und doch weit genug ist, um von jedem redlichen Menschen, welches auch seine speciellen Ueberzeugungen seien, angenommen zu werden.

Buisson? – Gestern noch ein unbekannter junger Gelehrter in einem bescheidenen Schweizercanton – heute erwähnen alle Zeitungen der alten und der neuen Welt seinen Namen. So bedarf es in unserer bewegten, schnell lebenden Zeit doch nur des Vorsatzes, etwas Gutes zu wollen und es vernünftig durchführen zu wollen, um Gehör zu finden.

Ferdinand Buisson ist am 20. Dezember 1841 in Paris geboren. Sein Vater war unter der Republik von 1848 Friedensrichter, wurde dann in ähnlicher Eigenschaft von einem Departement in’s andere versetzt und starb als Gerichtsbeamter in St. Etienne, als sein siebzehnjähriger Sohn aus dem dortigen Lyceum sich zum Besuch der Pariser Normalschule vorbereitet hatte. Um seine Studie an der Uuiversität fortsetzen zu können, sah er sich genöthigt, eine Hauslehrerstelle in einer vornehmen protestantischen Familie in Paris anzunehmen. Nach strengen calvinistischen Grundsätzen erzogen und in ausschließlich orthodoxen Kreise sich bewegend, konnte seine reich angelegte Natur erst von den Fesseln des Autoritätsglaubens sich befreien und eine selbständige Richtung einschlagen, als er seine Studie vorzugsweise auf den Ursprung der Reformation richtete und die Entwickelung der protestantischen Kirche bis in ihre Quellen zurück verfolgte. Als im Jahre 1864 Coquerel, einer der bedeutendsten protestantischen Prediger in Paris, durch die orthodoxe Mehrheit von der Kanzel verdrängt wurde, die er so lange Jahre geziert hatte, ergriff Buisson offen Partei für die freisinnige Richtung in der Kirche und schrieb eine Broschüre: „L’orthodoxie et l’Evangile“, welche im protestantischen Frankreich ungemeines Aufsehen erregte und in mehr als zehntausend Exemplaren verbreitet wurde. Ein Jahr darauf, als es sich um die Neuwahlen in der Pariser protestantischen Kirche handelte, trat er eben so entschieden mit einer zweiten Schrift gegen den orthodoxen Glaubenszwang auf, was den Vorstand der Gemeinde, welcher Buisson bis dahin angehört hatte, veranlaßte, den jungen Schriftsteller förmlich zu excommuniziren.

Damit war die Richtung für die fernere Laufbahn Buisson’s gegeben. Er zog sich in die Schweiz zurück, verfolgte auf den Bibliotheken von Genf, Zürich und Basel seine Studien über den Ursprung der Reformation und erhielt 1866 den Lehrstuhl der Philosophie an der neu gegründeten Akademie zu Neuchâtel, wo wir uns als Collegen zusammenfanden.

Nachdem er fast zwei Jahre in stiller Zurückgezogenheit seinen Studien und Pflichten als Lehrer mit außeordentlichem Fleiß gelebt, trat er unerwartet mit einem Vortrage „Die biblische Geschichte in der Volksschule“ in die Oeffentlichkeit und erregte einen Sturm von Erwiderungen aus dem orthodoxen Lager.[1]

Wenn ich hier das Wort „Sturm“ gebrauche, so dürfe Sie dabei nicht an deuntsche Zustände denken. Es ist hier weder ein Pastor Götze noch ein Knak gegen Buissons aufgetreten, von einem Anrufen der weltlichen Gewalt gegen den vermessene Neuerer und Friedesstörer war natürlich in unserer gesegneten, kleinen Republik nicht die Rede, ja, ich erwähne nicht ohne Stolz, die Ideen der Freiheit sind schon so tief in unsere Sitten eingedrungen, daß die fast ausschließlich strenggläubige Gemeindeverwaltung, nachdem ihr die volle Zustimmung des geistlichen Collegiums zugekommen, die Benutzung einer Kirche zu Vorträgen über das freie Christenthum ohne jede Schwierigkeit bewilligte.

Mit Buisson’s Angriff gegen die sogenannte biblische Geschichte war der Kampf eröffnet, welcher auf beiden Seiten mit Wärme und Feuer, aber ohne jede Gehässigkeit und mit Fernhaltung jeglicher pesönlichen Färbung geführt wurde. Die rationalistische Schule wurde neben Buisson von Felix Pecant aus Nimes, Leblois aus Straßburg und Reville aus Rotterdam auf das Glänzendste vertreten. Die Orthodoxie fand einen gelehrten, stets schlagfertigen Kämpen in Professor Friedrich Godet in Neuchâtel, dem ehemaligen Erzieher des preußischen Kronprinzen, und Felix Bovet, einem unstreitig gemüthvollenn Vertreter des schweizerischen Pietismns; der zahlreichen Pfarrer nicht zu erwähnen, welche von der Kanzel herab an dem Kampfe teilnahmen und ihre Predigten drucken ließen.

Und welches wäre nun die Glaubensformel, zu deren Annahme das freie Christenthum jeden redliche Menschen einladet?

„Es giebt nur einen nothwendigen Glauben“ sagte Buisson, „und das ist gerade derjenige, der nicht von einem Artikel des Katechismus abhängt: es ist der Glaube an das Gute, der Glaube an alle unsichtbaren Wirklichkeiten, die sich nicht in den Büchern, aber auf dem Grunde der Menscheseele findet, der Glaube an das Recht und die Pflicht, an die Heiligkeit und die Liebe, Alles Dinge, durch welche Gott im Menschen offenbart wird. Aber wehe in der That, wehe Dem, der in seinem Gewissen sich diesen Glauben erschüttern läßt, den Glauben an die Pflicht, die Triebfeder, die wirkende Kraft des ganzen Menschenlebens! Der freilich hat keinen Grund mehr zu leben, der nicht an das sittliche Leben glaubt.“

Erschrecken Sie nicht, dieser Satz scheint bei näherem Eingehen auf den Plan unseres neu erstandenen Freiheitsapostels durchaus nicht als eine in die blaue Luft hinausgesendete blos theoretische Seifenblase. Denn es liegt nicht etwa in der Tendenz Buisson’s, eine neue Religion zu gründen. An voller Uebeeinstimmung mit einer in Deutschland längst sehr stark und geistvoll vertretenen, meistens an Schleiermacher anknüpfenden Richtung, wollen auch diese schweizeischen Kämpfer gegen die Orthodoxie die alte christliche Kirche nur reformirt, d. h. von den sinisteren Zuthaten befreit wissen, durch welche die Theologie sie seit Jahrhunderten entstellt und um ihre ursprüngliche Kraft und Reinheit gebracht habe. Deshalb soll auch weder der Name Christen, noch der Name Protestanten aufgegeben werden.

Nach Buisson ist eben die Kirche nicht eine Verbindung von Menschen, welche genau dasselbe denken, dieselben Wahrheiten aufstellen, dasselbe Bekenntniß unterzeichnen und sich verpflichten, nie etwas an den festgesetzten Glaubensartikeln zu ändern. Die Kirche ist ihm vielmehr eine Gemeinschaft mit Aufgaben der That, eine Verbindung von Menschen, die gemeinsam an der sittlichen Vervollkommnung ihrer selbst und der ganzen Gesellschaft arbeiten. Ihre Basis ist sittlich und nicht theologisch, ihr Zweck ist praktisch und nicht doctrinal. –

„Möget ihr glauben,“ ruft Buisson in dieser Beziehung seinen Freuden zu, „Jesu einen ausnahmsweisen Ursprung und ein ausnahmsweises Lebensende zuschreiben zu müssen, oder möget ihr in ihm nur einen Menschen sehen, welcher die Sprache seines Landes geredet, die Ideen und Sitten seine Zeit in sich aufgenommen und für alle folgenden Zeiten das große Gesetz der religiösen Entwicklung, d. h. das Sittengesetz begründet – wenn ihr nur seine Gebote zu den euren macht, so seid ihr Christen. Er selbst hat dies gesagt, und wir stellen sein Wort höher als das, was alle Doctoren und Concilien decretiren mögen. Was

ihm genügte, genügt uns; wir maßen uns nicht an, christlicher

  1. Eine deutsche Ausgabe dieses Vortrags ist so eben in der Schweighauserischen Verlagsbuchhandlung in Basel erschienen. Eben daselbst Buissons’s zweiter Vortrag „Das freie Chrisienthum und die Kirche der Zukunft“. Wir möchten die Leser der „Gartenlaube“ speciell auf diese beiden durch Inhalt und Form gleich ausgezeichneten Schriften aufmerksam machen.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 359. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_359.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)