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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

„Sie ist bis jetzt einflußlos auf Dein Leben gewesen,“ fuhr er fort. „Von nun an aber wirst Du einen Weg gehen, den sie Dir selbst, kurz vor ihrem frühen Tode, mit fester, sicherer Hand vorgezeichnet hat. Das darauf bezügliche Schriftstück liegt in A. – es soll in Deine Hände gelangen, sobald ich nach der Stadt zurückgekehrt sein werde.“

Er hielt inne, als erwartete er irgend einen unterbrechenden Ausruf, eine Frage seiner Stieftochter; allein sie schwieg beharrlich und erwartete scheinbar gelassen die weitere Entwicklung seiner Mittheilungen. Er sprang in sichtlicher Ungeduld auf und ging rasch einmal im Zimmer auf und ab.

„Du weißt, daß der größte Theil der Völdern’schen Besitzungen vom Prinzen Heinrich herstammt?“ fragte er, plötzlich stehenbleibend, in so kurzem, unumwundenem Ton, als gelte es, mittels eines einzigen Hiebes den dunklen Knoten durchzuhauen.

„Ja, Papa!“ entgegnete Gisela, den Kopf neigend.

„Du weißt aber nicht, auf welche Weise sie in die Hände der Großmama gekommen sind?“

„Man hat nie mit mir darüber gesprochen; aber ich kann mir selbst sagen, daß sie die Güter gekauft haben wird,“ versetzte sie vollkommen ruhig und harmlos.

Ein häßliches Lächeln zuckte um den Mund Seiner Excellenz. Er setzte sich rasch wieder nieder, ergriff die schlanken Hände, die gefaltet auf den Knieen der jungen Dame lagen, und zog sie vertraulich an sich heran.

„Komm einmal her, mein Kind,“ flüsterte er, „ich habe Dir Etwas zu sagen, das voraussichtlich Dein unschuldiges Gefühl für einen Augenblick alteriren wird. … Aber ich füge ausdrücklich hinzu, daß dergleichen Fälle zu Tausenden Vorkommen, und daß die Welt sie sehr nachsichtig beurtheilt. … Du bist achtzehn Jahre alt – man kann und darf nicht immer Kind bleiben hinsichtlich gewisser Begriffe – die Großmama war die Freundin des Prinzen. …“

„Das weiß ich, und so wie ich dieses Freundschaftsverhältniß beurtheile, muß er sie verehrt haben wie eine Heilige!“

„Denke Dir die Sache minder heilig, mein Kind –“

„O Papa, wiederhole das nicht!“ unterbrach sie ihn in flehendem Ton. „Ich weiß es ja seit gestern, daß die Großmama – wenig Herz gehabt hat.“

„Zu wenig? …“ Er bog sich lächelnd zurück – zahllose Linien und Runzeln gruben sich für einen Moment in das Steingesicht, es konnte überraschend ausdrucksvoll und sprechend sein, sobald es frivol wurde. „Zu wenig?“ wiederholte er nochmals. „Wie soll ich das verstehen, meine Kleine?“

„Sie war schlimm gegen die Nothleidenden – sie hat gedroht, die Armen mit Hunden forthetzen zu lassen.“

Der Minister sprang abermals auf – diesmal jedoch in ausbrechendem Zorn. Sein Fuß stampfte den Boden, und auf der Lippe schien ihm eine Verwünschung zu schweben.

„Wer hat Dir diese Schnaken in den Kopf gesetzt?“ rief er grimmig. Er sah sich weit vom Ziel zurückgeschleudert – die unschuldige Kindesseele entfaltete ihre weißen Flügel, sie schwebte über ihm und machte es ihm sehr schwer, den Schmutz seiner Erfahrungen, seines Weltwitzes auf ihr fleckenloses Gefieder zu schleudern.

„Nun denn,“ – sagte er nach einer kurzen Pause stirnrunzelnd, indem er sich mit einer ungeduldigen Bewegung wieder niederließ – „wenn Du es durchaus so willst, die Großmama war also die Heilige des Prinzen – er liebte sie so abgöttisch, daß er in den Zeiten seiner höchsten Verehrung ein Testament verfaßte, in welchem er seine Verwandten verstieß und – die Gräfin Völkern zur Universalerbin einsetzte.“

Jetzt kam eine lebhafte Bewegung in die Züge des jungen Mädchens – sie hob unterbrechend die Hand – „Natürlicherweise hat die Großmama gegen eine solche Ungerechtigkeit energisch protestirt!“ sagte sie in athemloser Spannung, aber doch mit unerschütterlicher Zuversicht.

„O Kind, es kommt ganz anders, als Du denkst! … Das muß ich Dir übrigens sagen, die ganze Welt würde gelacht haben, wenn die Großmama in Deinem Sinn gehandelt hätte – gegen die Annahme einer halben Million protestirt man nicht so ohne Weiteres, Liebchen! … In diesem Fall ist das Verhalten der Großmama, welches die Erbschaft ruhig acceptirte, nicht im Entferntesten anzutasten – der Fehlende war Prinz Heinrich, nicht sie! … Dagegen kommen wir jetzt an einen Punkt, den auch ich nicht entschuldige –“

„Papa, ich möchte lieber sterben, als diesen Punkt hören,“ fiel das junge Mädchen mit vollkommen klangloser Stimme ein. Sie saß da mit blutlosem Gesicht und zuckenden Lippen und lehnte den Kopf an das Sophapolster zurück.

„Herzenskind, es stirbt sich nicht so leicht. … Du wirst weiterleben, auch wenn Du diesen dunklen Punkt kennst, und wenn ich Dir rathen soll, so suchst Du ihn möglichst schnell wieder zu vergessen. … Das Testament des Prinzen lag also bereits seit Jahren da, und sein Verhältniß zu Deiner Großmama blieb ein ungetrübtes, bis sich plötzlich böswillige Einflüsterungen zwischen die beiden Menschen drängten – es geschah öfter, daß sie im Groll von einander schieden. … Da gab die Gräfin Völkern einen großen Maskenball in Greinsfeld – der Prinz war nicht erschienen, – man hatte sich wieder einmal gezankt. … Plötzlich gegen Mitternacht wird der Großmama gesagt, Prinz Heinrich liege im Sterben – wer ihr die Nachricht zugeflüstert, weiß bis heute Niemand. – Sie stürzt aus dem Saal, wirft sich in einen Wagen und fährt nach Arnsberg – Deine Mutter, damals ein siebzehnjähriges Mädchen, das den Prinzen geliebt hatte, wie einen Vater, begleitete sie.“ …

Er schwieg einen Moment. Der gewiegte Diplomat zögerte doch unwillkürlich, ehe er den falschen Zug in dem entworfenen Bild weiter vertiefte. Er ergriff ein Flacon und hielt es an das todtenbleiche Mädchengesicht, das mit zugesunkenen Wimpern an dem Polster lehnte. Bei dieser Berührung fuhr Gisela, die Augen aufschlagend, empor – sie stieß seine Hand zurück.

„Mir ist nicht übel – erzähle weiter,“ sagte sie hastig, aber mit ungewöhnlicher Energie. „Meinst Du, es sei süß, auf der Folter zu liegen?“ Ein herzzerreißender Blick brach aus den braunen Augen.

„Das Ende ist rasch erzählt, mein Kind,“ fuhr er mit gedämpfter Stimme fort. „Aber ich muß Dich dringend bitten, den Kopf oben zu behalten – Du siehst sehr verstört aus! … Du wirst bedenken, wo Du bist, und daß gerade heute die Wände Ohren haben! … Der Prinz lag eben im Verscheiden, als die Gräfin Völkern athemlos an seinem Bett zusammenbrach; aber er hatte noch so viel Bewußtsein, sie hinwegzustoßen – er muß ihr bitter gegrollt haben. … Auf dem Tisch lag ein zweites, eben vollendetes Testament, unterschrieben von der Hand des Sterbenden und von den Herren von Zweiflingen und Eschebach, welche zugegen waren – es setzte das fürstliche Haus in A. zum Universalerben ein. … Ich selbst befand mich in jener verhängnißvollen Stunde auf dem Weg nach der Stadt, um den Fürsten zu einer Versöhnung an das Sterbebett zu holen. … Der Prinz starb, eine Verwünschung gegen die Großmama auf den Lippen, und eine halbe Stunde darauf warf sie – im Einverständniß mit den Herren von Zweiflingen und Eschebach – das neue, ebenvollendete Testament des Prinzen in die Kaminflamme und– trat die Erbschaft an!“ – – –

Gisela stieß einen markerschütternden Schrei aus. … Ehe es der Minister verhindern konnte, sprang sie empor, riß einen Fensterflügel auf und stieß die Jalousie zurück, so daß der letzte, volle Strahl der Abendsonne purpurn über Parquet und Wände hinfloß.

„Nun wiederhole mir im hellen Tageslicht, daß meine Großmama eine Verworfene gewesen ist!“ schrie sie auf – ihre süße, weiche Stimme brach in einem gellenden Aufschluchzen.

Wie ein Tiger stürzte sich der Minister auf das Mädchen und riß es vom Fenster hinweg, während er die bleichen, knöchernen Finger roh auf ihre zarten Lippen preßte.

„Wahnwitzige, Du bist des Todes, wenn Du nicht schweigst!“ stieß er zwischen den Zähnen hervor.

(Fortsetzung folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 356. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_356.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2020)