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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

gleichfalls. Sie waren allein. Der Stadtrath hatte schon in A. von seinem Freunde, dem Bahnhofschef, gehört, mit wem er fahre. Er läßt sich natürlich nichts merken, Bismarck noch weniger, denn er hatte keine Ahnung, daß sein Incognito verrathen sei. Sie setzen sich gegenüber. Der Stadtrath fragt den Kellner, welche Suppe frisch sei.

‚Die hier.‘

‚Gut, geben Sie von der.‘

‚Kellner,‘ ruft Bismarck, ‚geben Sie mir auch von der Suppe.‘

Nach der Suppe bestellt sich mein Stadtrath eine halbe Flasche Mosel.

‚Kellner, bringen Sie mir eine ganze Flasche Mosel,‘ sagt Bismarck.

Dann wird die Karte heruntergegessen. Der Stadtrath wählt – Bismarck immer dasselbe; die Karte geht durch den Kellner immer herüber, hinüber. Zuletzt bleibt sie bei Bismarck liegen. Ein Wort wechseln die Beiden nicht.

‚Kellner, geben Sie mir einmal die Karte,‘ sagt mein Stadtrath.

‚Wollen Sie so gut sein,‘ sagt Bismarck, sie ihm über den Tisch reichend. ‚Sie sehen, ich habe immer dasselbe gewählt wie Sie und bin zufrieden, nur mit dem Mosel bin ich ’reingefallen. Wenn Sie erlauben, werde ich nun auch den Käse essen, den Sie bestellen.‘

Das Gespräch war im Gange, es stockte nicht mehr bis zur Abfahrt. Bismarck schilderte die Schönheit des sächsischen Landes, die Bravheit und den Fleiß seiner Bewohner. Mein Stadtrath, der niemals zu den leidenschaftlichen Verehrern des Herrn v. Beust gehört hat, fragt sein Vis-à-vis wie ihm die sächsische Regierung und Politik gefalle. Das Vis-à-vis fährt in seiner Lobrede auf Sachsen fort. ‚Schlägst Du meinen Juden, schlag ich Deinen Juden,‘ denkt mein Stadtrath, und fängt an, Preußen aus vollem Halse zu loben – mit Ausnahme des Berliners.

‚Ja, da haben Sie ganz Recht,‘ sagt Bismarck. ‚Die Geschichte kennen Sie wohl, wie der Alpenwirth den Berliner Jüngling fragt, ob ’s in Berlin auch solche Berge gebe, und der antwortet: ‚Nein, solche Berge haben wir nich, aber wenn wir welche hätten, wären sie noch höher.‘ Nun, mir ist dasselbe wirklich passirt. Ich habe einmal längere Zeit in Hannover gewohnt und ging eines Tags mit einem Berliner Besuch die schöne Allee nach Herrenhausen entlang. „Sehen Sie nur, diese Prachtbäume,“ sagte ich. ‚I wo? des is ja jar nischt jejen die ‚Linden‘ in Berlin.‘ Ein Jahr später ging ich mit dem Mann ‚unter den Linden‘. Sie hatten ihr sommerliches Aussehen, das Sie wohl als hinreichend öde und traurig kennen. „Na, was sagen Sie nun?“ frage ich meinen Begleiter. „Denken Sie einmal an die Allee nach Herrenhausen.“ ‚Ach, lassen Sie mich jehen,‘ sagt er wieder, ich kann mich immer nich jenug ärjern, wenn mir was Besseres jezeigt wird, als in Berlin.‘ Da haben Sie den Berliner.‘

Dann kam Bismarck auf die niederen Stände in Berlin und speciell auf die Packträger zu sprechen. Er beklagte sich, daß kein Mittel ausreiche, sie zuverlässig zu machen.

‚Gott, machen Sie es doch wie bei uns,‘ sagte mein Stadtrath. ‚Lassen Sie die Leute vor ihrem Dienstantritt vereiden.‘

‚O,‘ sagte Bismarck laut lachend, ‚der Zwirn hält nicht!‘

Inzwischen waren die Thüren zum Speisesaal auch für das große ‚reisende Publicum‘ geöffnet worden, das sich allmählich zum Zugabgang einfand. Der in Leipzig allbekannte Colporteur Hartwig benutzte die Gelegenheit, um seinem fliegenden Buchhandel einen schwunghaften Absatz zu verleihen. Er hatte dabei offenbar noch den geheimen Nebenzweck, dem preußischen Ministerpräsidenten einige ungeschminkte Proben seiner politischen Gesinnung zu geben, denn er wußte natürlich längst, wen er vor sich hatte.

‚Nun, meine Herrn, ist was gefällig?‘ sagte Hartwig, indem er Bismarck an die Seite trat und eine Reihe freisinniger Blätter auflegte.

‚Ich danke.‘

‚Deutsche Allgemeine, Kladderadatsch, neueste Nummern enthalten wieder schöne Geschichten aus Berlin. Da hat der Bismarck wieder -‘

‚Bei wem erscheint denn die Deutsche Allgemeine?‘

‚Bei Brockhaus, mein Herr.‘

‚Geben Sie mir die Zeitung. So, und nun noch die Illustrirte,‘ sagte Bismarck.

‚Sehen Sie, hier ist auch die neueste Volkszeitung. Lesen Sie nur einmal den Leitartikel.‘

‚Wollen Sie mir einen Gefallen thun, guter Mann?‘ sagte Bismarck zu Hartwig.

‚Mit dem größten Vergnügen.‘

‚Nun, so stellen Sie Ihr Geschäft ein.‘“

Ich stieß meinen Erzähler an. Bismarck war in’s Nebenzimmer getreten, das zur Familienwohnung gehört, links vom Arbeitszimmer. Er stand dicht an der Thür. Er konnte hier in seinem Privatzimmer etwas zu besorgen haben. Wir kehrten in den Billardsalon zurück. Mir fiel jetzt erst die kolossale Größe des Bärenfells auf, das unter dem Billard liegt. Es ist so lang wie das Billard selbst. Bismarck hat den Bären in Rußland geschossen, nachdem er ihm fünf Nächte hintereinander aufgelauert hatte.

Der große Nimrod trat so eben an unsern Kreis am Billard heran, lehnte sich mit dem Rücken dagegen, während er sprach, dann setzte er sich auf’s Billard, seine Füße berührten kaum noch den Boden! Und während er auf’s Lebhafteste mit Hennig und uns Uebrigen über allerlei Fragen der innern Disciplin des Reichstags verhandelte, warf er mit der Hand von Zeit zu Zeit eine Billardkugel fast ganz nach hinten, daß sie jedesmal die beiden anderen auf dem Billard berührte.

„Ich werbe heute Abend bei Ihnen um eine Herabsetzung der Beschlußfähigkeitsziffer des Reichstags,“ sagte er unter Anderm. „Ich beurtheile die Sache allerdings lediglich nach meiner Erfahrung. Aber ich versichere Sie, es giebt Fälle, wo ich mich in Fragen, die ich nicht verstehe, ruhig nach einem Gewährsmann umsehe, von dem ich mir die Direction für meine Abstimmung geben lasse, oder dem ich meine Stimme im Bundesrath in den Fragen seines Fachs übertrage. Solche Leute muß es geben, denn es kann unmöglich jeder Alles wissen. Nehmen Sie z. B. an, es wird in einem gewissen Ministerium irgend ein wichtiger Referent krank, so kann das Geschäft oft weit empfindlicher aufgehalten werden, als wenn der Herr Chef selbst unpäßlich wäre. Er weiß ohne den Referenten nicht ein und aus. Das ist auch der einzige Grund, warum sich ein Minister meist langsamer verbraucht, als man eigentlich annehmen sollte. Sehen Sie, ähnlich dachte ich mir Ihre Stellung. Es kann doch ein Abgeordneter auch mit dem größten Fleiß nicht alle Fragen gleichmäßig verstehen. Er muß in bestimmten Fällen den Kopf rechts oder links auf einen Führer richten können, mit dem er aufsteht oder sitzen bleibt.“

Man stimmte dem Grafen im Allgemeinen zu; doch Hennig als sprechender Kern des Kreises warf ihm ein, das Geheimniß der außerordentlichen Ausdehnung mancher Debatten und in Folge dessen der Lichtung der Versammlung sei viel mehr die Redelust einzelner Abgeordneten, als ihre Gleichgültigkeit gegen die Sache.

„Ja, aber giebt es denn in aller Welt kein Mittel, dem zu steuern, was ich eine überreiche Duldsamkeit gegen den Eigennutz der Beredsamkeit nennen möchte?“ rief Bismarck. „Jeder Mensch ist doch schließlich zur Nothwehr, mindestens zum passiven Widerstand berechtigt. Ich denke mir z. B., wenn ein Abgeordneter urplötzlich das Bedürfniß empfindet, zweihundert ehrliche Männer eine Stunde lang mit einer Auseinandersetzung über das beste Rayongesetz der Welt zu unterhalten, wozu ihm aller und jeder Beruf abgeht, oder ein General geriethe plötzlich auf das Gebiet der Naturwissenschaften und spräche über künstliche Fischzucht oder über die Begründung von Arbeitergenossenschaften – da müssen Sie doch ein Mittel haben, dem Manne bemerklich zu machen, daß Sie von ihm nicht viel lernen können.“

„Das einzige Mittel, Excellenz, was in diesem Falle mit der Verfassung und der Geschäftsordnung so lange vereinbar ist, als es der Präsident sich nicht verbittet, ist das: tüchtig mit den Pulten zu klappern und anderweit nach Möglichkeit Lärm zu machen,“ sagte Hennig achselzuckend.

„Ich spräche keine drei Secunden weiter, wenn ich jemals so schätzbare Beweise der Aufmerksamkeit des hohen Hauses erhielte,“ erwiderte Bismarck, „und würde höchstens darüber im Zweifel sein, wie ich einen passenden Schluß finden könnte. Aber denken Sie einmal darüber nach, ob nicht Ihr verehrter Präsident etwas mehr in der Richtung thun könnte. Er hat doch schließlich das kostbare Gut der gemeinsamen Zeit zu verwalten und muß unter Umständen gegen den Eigennutz der Beredsamkeit entschieden rücksichtslos sein.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 346. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_346.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)