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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Minuten gerade zweiundzwanzig Mal ‚meine Herren‘ gesagt. Und trotz dieser dringenden Einladung schenkte das Haus ihm kein Gehör, als er für die Portofreiheit der Reichstags-Abgeordneten seine Lanze einlegte.“

„Sehen Sie,“ sagte wieder ein Anderer, „das ist eben die Eigenthümlichkeit der menschlichen Natur, daß weit öfter der Großvater auf den Enkel, als der Vater auf den Sohn seine berechtigten Eigenthümlichkeiten vererbt. Da sehen Sie sich einmal Twesten an, dessen Großvater war Nachtwächter zu Glückstadt in Holstein. Und noch jetzt, wenn sich der Enkel im Reichstag erhebt, wissen Sie im Voraus genau was die Stunde geschlagen hat.“

„Da kann ich Ihnen aber gleich einen entgegengesetzten Fall anführen,“ sagte ein bekannter Berliner. „Sehen Sie sich einmal den alten bösen Ziegler an. Der hält sich für den reinsten Märker unter der Sonne. Er hegt eine Weltanschauung, die im Aussterben begriffen ist. Er behauptet, die Mark sei eigentlich Deutschland, alles Uebrige schlechte Schlacke um den edeln Stein, die Mark habe eine preußische Provinz nach der andern erobert, sie müsse nach und nach ganz Deutschland um sich vermärkern. In einer unbedachten Stunde wagte nun einmal Jemand sich bis zu einem Zweifel an der rein märkischen Abstammung Ziegler’s, mit der in Ziegler’s Augen unbeschreiblich frivolen Behauptung, daß manchmal sogar in der Mark Männlein und Fräulein auch jenseits der Mark zu freien und sich ihr ehelich Gespons auch aus einem deutschen Boden zu holen pflegten, wo der Sand aufhört und die Natur nicht mit einer so außerordentlichen Sorgfalt jegliche Abwechslung vermieden hat. Der alte Ziegler erstickte seinen Ingrimm zunächst in einer kräftigen Verwünschung und versprach den Frevler wider seine heiligsten Heimathsrechte durch die Vorlegung seiner Familienpapiere vor Gott und aller Welt zu brandmarken. Aber diese Vorlegung erfolgte nicht, und der alte Ziegler wurde täglich mürrischer und gelber im Antlitz. Und was erfuhr man schließlich? Der Großvater Ziegler’s war ein ehrlicher Schwabe, ein Riese von Gestalt, der den heimtückischen preußischen Werbern für die Riesengarde König Friedrich Wilhelm des Ersten in die Hände gefallen und in die Mark importirt worden war. Der Mann hieß auch nicht einmal Ziegler, sondern Ziegenberger. Daraus ist nun Ziegler geworden, wie man den Namen Jakob aus Nebucadnezar herzustellen pflegt. Aber hat Ziegler was von einem Schwaben, von einem Riesen oder Soldaten an sich?“

Der Schatten des Generalpost-Directors v. Philippsborn war an uns vorüber geglitten, ohne sich aufzuhalten, als er wiederholt den Namen Ziegler’s nennen hörte. Ihm war offenbar nicht behaglich bei dem Namen, denn Ziegler hatte heute der „fürstenmäßigen Portofreiheit“ ein Treffen geliefert, gegen das die neuliche Rede Becker’s eitel Liebkosung gewesen war. „Ein Ehrenrecht soll die fürstliche Portobefreiung sein?“ hatte Ziegler dem Regierungstisch entgegengerufen. „Ein englischer Lord, dem Sie dieses ‚Ehrenrecht‘ antrügen, würde Ihnen antworten: ‚O for shame, pfui! Wie können Sie mir ansinnen, daß ich die Dienste staatlicher Anstalten, die ich für meine Privatzwecke benutze, nicht bezahlen darf!‘ Und gleichzeitig sagen Sie, wenn wir die fürstliche Portofreiheit aufheben, müßten wir sie mit Geld ablösen. Ein Ehrenrecht ablösen! Wie paßt das? Ich bin überhaupt kein Freund von Ablösungen; im Lauf der Zeiten löst sich Manches von selbst ab. Meinethalben aber, lösen Sie ab. Geben Sie jedem ‚fürstenmäßigen‘ Menschen jährlich tausend Groschenmarken umsonst; das macht auf den Tag drei Briefe, das wird wohl ungefähr ausreichen. Sie nehmen uns die Steuern mit Scheffeln, lassen Sie’s uns durch Aufhebung der fürstlichen Portofreiheit wenigstens wiedernehmen mit Löffeln.“

So weit der Generalpost-Director spähte und blickte, Ziegler war heute Abend nicht anwesend. Er wurde daher sichtlich menschenfreundlicher. Er brauchte nicht zu fürchten, daß er auf eine Interpellation in einer der historischen Ecken hier, wo der Regierungsvertreter so viel stiller halten muß, als am Bundestisch im Reichstag, werde antworten müssen: „Ja, ich weiß noch viel tollere Dinge als Ihr Alle zusammen.“

Mehr als die Gruppen im Billardzimmer hatte mich schon lange die Aussicht in Bismarck’s Arbeitszimmer gefesselt, zu dem links die Thür offen stand.

„Ist der Eintritt erlaubt?“ fragte ich einen Diener des Hauses.

„Gewiß.“

Ich schritt über die Schwelle. Der tapfere jugendliche Abgeordnete Evelt aus Sigmaringen stand in der Mitte des Zimmers in andächtiger Betrachtung. Ich ahnte, was ihm durch die Seele ging. Er hatte im Jahr 1866 als hochgestellter preußischer Beamter den vorgeschobensten Posten preußischen Landes, seine zweite Heimath, die Fürstenthümer Hohenzollern, vor dem Eindringen der bundestäglichen Heerschaaren nach Kräften zu vertheidigen. Bei lange schwankendem Kriegsglück wäre ihm auch eine nähere Bekanntschaft mit dem Hohenasperg so sicher gewesen, daß selbst sein politischer Gegner Schäffle ihm ein Asyl anbot in seinem Hause. Aber hier in diesem Gemach waren die Pläne zu einer anderen Wendung der Geschicke längst gedacht und durch außerordentliches Kriegsglück so rasch gereift, daß auch Evelt im Süden wenig mehr zu thun blieb, als dem Bundestag im Norden, nämlich feierlich zu protestiren.

Ich sah mich im Zimmer um. In der Mitte desselben, doch rechts fast bis an die Wand gerückt zwischen den beiden Fenstern, die auf die Terrasse gehen, stand Bismarck’s Schreibtisch, ein langes Pult, auf vier Füßen ruhend, zu beiden Seiten des Schreiberaums unter- und oberhalb des Pultes mit offenen Fächern versehen. Der Arbeitsstuhl Bismarck’s ist ein runder Sessel von massivem Eichenholz, ohne Lehne, mit drehbarer Sitzscheibe, die letztere von ansehnlichen Dimensionen. Rechts vom Schreibenden, im rechten Winkel an das Pult stoßend, steht das Actenregal. Acten enthielt es nicht, aber rechts am Fuß des Schreibtisches standen einige verschlossene Portefeuilles. Das Licht fällt von links, gedämpft durch weiße Gardinen und rothseidene Uebervorhänge. Zahlreiche weiße Handschuhe, und Degen so viele, um eine ganze Generalität auszurüsten, sind auf einem Tisch aufgespeichert, der rechts von der Thür steht, durch die wir eintraten. Auf dem Secretair daneben hat der Graf seine Kopfbedeckungen, bürgerliche, dienstliche und militärische, zu einer kleinen Ausstellung vereinigt. Die andere Hälfte der Wand, durch deren Thür wir eintraten, nimmt ein mit blauem Brokat überzogenes Sopha von kolossalen Dimensionen ein. Es ist sehr lang und fast so breit als lang, ohne Rücken- und Seitenkissen, nur am Kopfende ist eine Schlummerrolle angebracht und liegt ein Kissen mit prachtvoller Stickerei und der Anschrift: „Zur Erinnerung an das Jahr 1866.“ An Bildern hängen an den Wänden die lebensgroßen Köpfe des große Kurfürsten, Friedrich’s des Großen, Friedrich Wilhelm’s des Dritten und des Königs Wilhelm in trefflichen Stichen. Neben König Wilhelm die Madonna von Murillo auf der Mondsichel, gleichfalls in Stich, höchlich verwundert über die weltlichen Genossen. An der Wand hinter’m Arbeitstisch endlich eine reizende Uhr in Schweizerhausform, aus Holz geschnitzt, mit Wachtelschlag. Der Kukuksruf hätte eine zu aufregende Nebenbedeutung gehabt. Unter dem Bilde des Großen Friedrich, gerade über dem Haupte Bismarcks, wenn er auf dem Sopha ruht, hängt ein kleines Bild seiner Mutter, deren Andenken er, wie bekannt, höher schätzt als irgend etwas auf Erden. Selbst auf dem einfachen Standpunkt von Mann gegen Mann ist es wohlthuend, daß wir in vielen Briefen, die in letzter Zeit aus seinen Familienpapieren in die Oeffentlichkeit gekommen sind, ein so reiches Gemüthsleben, ein so lebhaftes Natur- und so ausgeprägtes Familiengefühl finden, wie wohl Wenige es in dem trotzigen Kämpfer gesucht hätten.

„Trotz aller Parforce-Jagd auf Anekdoten aus Bismarck’s Vergangenheit,“ sagte mir ein sächsischer Abgeordneter, „die nun schon Jahre lang ohne alle Schonzeit von Sonntags- und Werktagsjägern, von Hesekiel und anderen großen und kleinen Propheten getrieben wird, kann doch niemals auch nur die Hälfte aufgespürt werden von dem, was derselbe Alles gesagt, geschrieben, gethan hat. Und wer einigermaßen ehrlich ist, wird bekennen müssen, daß die frische Ursprünglichkeit und Eigenart der Form seiner Rede kaum wortgetreu wiederzugeben ist. So ist mir eine Unterredung bekannt, die er mit dem Stadtrat P. aus der sächsischen Stadt M. in der Eisenbahnrestauration des Berliner Bahnhofs in Leipzig hatte, die zu dem Köstlichsten gehört, was ich bisher von ihm vernommen habe. Bismarck war nämlich (im Jahre 1863) beim König in Karlsbad gewesen, und reiste im strengsten Incognito über Leipzig nach Berlin zurück. Auf dem Berlin- Anhalter Bahnhof in Leipzig ist über eine Stunde Mittagszeit bis zum Abgang des nächsten Zugs nach Berlin. Mein Stadtrath

P. aus M. tritt in den reservirten Speisesalon, Bismarck

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 345. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_345.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)