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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

und diese Freiheit zu gebrauchen, werden heimisch im Walde und sind in ihm bekannt und mit ihm und seinen Gefahren vertraut, wenn sie ihr Wachsthum vollendet haben. Dann darf man auch die in der Gefangenschaft großgewordenen Schopfwachteln aussetzen, sie finden in jenen Führer und Erzieher.

In diesen Maßnahmen beruht das ganze Geheimniß des Gelingens derartiger Versuche. Alte Vögel auszusetzen, um sie einzubürgern, ist Thorheit – vorausgesetzt, daß man nicht Hunderte zur Verfügung hat –, Alte mit ihren Jungen freizugeben, ist weise. Der so vielfach besprochene „Instinct“, von welchem Jedermann faseln zu dürfen glaubt und dessen Wirken Niemand beweisen kann, hilft dem Thiere, welches sich nicht selbst zu helfen weiß, nicht im Geringsten, aus dem sehr einfachen Grunde, weil er, für einen vernünftig denkenden Menschen wenigstens, nicht vorhanden ist, also auch nicht helfen kann. Durch Erfahrung gewonnene Einsicht aber und Anstrengung der eigenen Fähigkeit fördert das Thier wie den Menschen. Nach solchen Grundsätzen hat man zu verfahren, wenn man Thiere beurtheilen und richtig behandeln will.

Ein Pärchen Schopfwachteln kostet gegenwärtig sechs bis acht Thaler; ein geeigneter Zuchtkäfig für zehn Paare ist mit dreihundert Thalern herzustellen, die Ernährung der zehn Versuchspaare und ihrer Jungen wird mit dreißig bis fünfzig Thalern jährlich zu bewirken sein. Rechnet man hierzu den Ersatz der freigegebenen Paare während eines fünfjährigen Zeitraumes, welcher mir erforderlich zu sein scheint, so ergiebt sich, daß mit einem Aufwande von sechs- bis achthundert Thalern unseren Waldungen ein neues Wild gewonnen werden kann und gewonnen werden wird. Daß dasselbe mit weit weniger Kosten ebenfalls möglich, leuchtet ein; zehn Paare mit Jungen sind genügend, unter günstigen Verhältnissen binnen wenigen Jahren einen Wald zu bevölkern oder zu übervölkern. Wer im Großen versucht, gewinnt unzweifelhaft; wer im Kleinen versucht, kann nur unbedeutend verlieren. Ein Wagniß ist weder in diesem noch in jenem Falle vorhanden.




Blind und vergessen.

Wo im österreichischen Küstenlande die blaugrünen Fluthen des Isonzo, aus dem engen, hohen Felsenbette tretend, plötzlich breit und mächtig in die Ebene strömen – liegt Görz, das „Paradies am Isonzo“, wenige Meilen von Aquileja entfernt, der altberühmten, nun zu einem elenden Flecken verdorbenen Patriarchenstadt.

Italisches Klima, italische Vegetation und die überaus gesunde Lage haben dem reizenden Görz den Namen „Oesterreichs Nizza“ eingebracht, und der berühmte Statistiker Baron Czörnig, der vor fünf Jahren hier Genesung fand, ist eben damit beschäftigt, das noch fast unbekannte und doch interessante Ländchen nach allen Richtungen zu beschreiben, um die Vorzüge desselben in den weitesten Kreisen bekannt zu machen.

Der ungemein milde Winter – den der Umstand am besten kennzeichnet, daß der Schnee, welcher wenige Stunden davon die Kuppen der Berge bedeckt, in dem lieblichen Thale selbst zu den fast unbekannten Erscheinungen gehört – führt alljährlich eine ziemliche Anzahl Fremder aus allen Theilen Oesterreichs, aber auch Engländer, Franzosen und Russen dorthin, die den Winter in Görz verleben. Die stetig fortschreitende deutsche Cultur hat auch diesem Städtchen, das theils von Italienern (Friauler), theils von Slaven (Slovenen) bewohnt ist, ihr „flammendes Siegel“ aufgedrückt, und deutscher Geist und deutsches Wesen machen sich bereits überall geltend. So haben sich hier namentlich aus Sachsen mehrere deutsche Familien niedergelassen, so bildete sich eine evangelische Gemeinde und erbaute ein ganz stattliches Bethaus. Daß dies mitten unter einer streng katholischen Bevölkerung möglich war, ist bezeichnend genug für die deutsche Willenskraft, umsomehr, als das kleine Görz der Sitz eines wichtigen Erzbisthums ist, dem die Bischöfe von Triest und andern Diöcesen unterstehen.

Wird also hier der Herbst von den letzten Ausläufern der Bora angezeigt, die wenige Stunden von der Stadt, an der Meeresküste, mit einer Heftigkeit wüthet, von der man sich in Deutschland kaum einen Begriff machen kann – und in Triest beispielsweise so stürmisch ist, daß längs der Häuser und Straßenübergänge Taue gespannt werden müssen, um die Passage zu ermöglichen – so treffen nach und nach die Wintergäste, eingehüllt in Shawls, Mäntel und Pelze, in Görz ein, um, kaum angekommen, diese wegzuwerfen und sich in leichtester Gewandung des überaus milden Klima’s zu erfreuen. Da geschieht es denn nicht selten, daß manche Berühmtheiten sich in Görz von der Last ihres Ruhmes erholen und mancher Unsterbliche seinen sterblichen Leib spazieren führt, im Hoff’schen Malzextract die Lethe suchend, aus der er „alles Weh’s Vergessen trinkt“ – wie der slovenische Dichter Presérn sagt, der einzige Dichter übrigens, welchen die Slovenen besitzen.

So ließ sich dort vor einigen Jahren ein Jünger Apollo’s nieder, der vornehmlich bis zum Jahre 1848 zu den gefeiertsten Dichtern Oesterreichs gehörte. Aber das Sturmjahr traf ihn, den k. k. Officier von anno Windischgrätz, wie etwas Niegeahntes, wie ein großes Unglück, von dem er sich nie wieder erholte, das ihn mit seinen Collegen auf dem Parnaß des Vormärz in Conflict brachte, so daß er sich von der Welt, in die er nicht mehr zu passen glaubte, grollend zurückzog.

Wir sprechen von Wilhelm Marsano, dem einst so beliebten Lustspieldichter, Novellisten und Lyriker, dessen „Helden“ – „Brautschau“ – „Spessart“ – „Fortschritt“ – u. s. w. den Weg über alle deutsche Bühnen machten und sich durch vierzig Jahre behaupteten, dessen „Brautschau“ erst vor Kurzem in Berlin neu in Scene gesetzt und mit außerordentlichem Erfolge aufgeführt wurde; – und der jetzt, vergessen von einem Geschlecht, das er und das ihn nicht mehr versteht, als k. k. österreichischer Feldmarschalllieutenant in Pension in Görz seinen Sitz aufgeschlagen hat. Aber geschlossen ist das einst so feurige Auge, gelähmt sind die kräftigen Glieder, die imposante Goethe’sche Gestalt ist gebrochen, und der in seiner Jugend der „Alcibiades von Prag“ genannt wurde, ist nun ein blinder, lahmer, zweiundsiebenzigjähriger Greis.

Carl von Holtei hat vor einiger Zeit in Hackländer’sUeber Land und Meer“ einen Roman („Eine alte Jungfrau“) veröffentlicht, in dem er mit wenigen Worten jener Episode aus dem Leben Marsano’s erwähnt, die wie ein Maienmorgen in den Frühling seines Lebens leuchtete, sein Verhältniß zur berühmten Henriette Sontag. Marsano war damals ein blutjunger Lieutenant und Henriette ein sechszehnjähriges Mädchen, das noch in Prag die Gesangsschule besuchte. Ein zartes Verhältniß umschlang die beiden bedeutenden Geister, es war wie der Blüthentraum zweier Blumen, die im Maienlichte die Kelche gegen einander neigen, um dann abgesondert in goldenen Vasen zu duften und zu prangen, bewundert und erfreuend – und endlich verwelken und sterben, fern und einsam.

Wilhelm Marsano ist am 30. April 1797 zu Prag geboren und gehört seit dem Jahre 1813, wo er als „noch ganz grüner Officier“ den französischen Feldzug mitmachte, der österreichischen Armee an. Doch wir wollen keine trockene Biographie schreiben und verweisen auf das biographische Lexikon von Constantin Wurzbach; wir haben es jetzt mit dem greisen Dichter zu thun, dem, einem zweiten Milton, das Licht der Augen ein „verlorenes Paradies“ geworden.

Wenn man in Görz, über die Piazetta schreitend, die Straße gegen den Isonzo einschlägt, so gelangt man zu zwei Villen, die mit der Front nach dem ebenen blühenden Garten des Görzerlandes hinaussehen und deren Rückseite sich dem kahlen Felsgestein des Monte santo (heiliger Berg) zuwendet, dessen Gipfel die berühmte Wallfahrtskirche krönt. Die zweite dieser Villen bewohnt Marsano mit seiner liebenswürdigen Familie.

Die originelle Lebensweise des blinden Dichters hat ihm in der ganzen Umgebung den Ruf eines Sonderlings verschafft. Um fünf Uhr Nachmittags verläßt er sein Lager und frühstückt, um neun Uhr Abends speist er zu Mittag, um Mitternacht nimmt er den Thee und Morgens vier Uhr geht er zu Bette, um dasselbe wieder Abends um fünf Uhr zu verlassen. Seine Empfangsstunden sind von sechs bis zehn Uhr Abends. Während dieser Zeit ist sein Salon der Sammelplatz aller interessanten Fremden und aller auf irgend eine Bedeutung Anspruch machenden Görzer.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_335.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)