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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

ausgewiesen oder eingesperrt, die Buchdrucker mit Concessionsentziehungen bedroht, um das Erscheinen der Blätter zu hindern. Unter solchen Verhältnissen sah sich die Urwähler-Zeitung nach langen, schweren Kämpfen gezwungen, vorläufig einzugehen, um jedoch bald wieder als „Volkszeitung“ im Verlag von Franz Duncker ihre Auferstehung zu feiern. Selbst die loyale Kreuzzeitung wurde nicht geschont und eine Zeit lang systematisch chicanirt, weil sie nicht in allen Stücken nach der Pfeife des „Dey von Berlin“ tanzen wollte.

Nach dem Tode Hinckeldey’s durch die Hand des „edlen“ Hans von Rochow, wie ihn der Präsident des Herrenhauses nannte, athmete die gequälte Presse wieder auf, obgleich sie unter dem Ministerium Manteuffel-Westphalen keineswegs auf Rosen gebettet lag. Aber weder die Tyrannei des früheren Polizeipräsidenten, noch die späteren „Preßordonnanzen“, noch die zahlreichen Processe und Verurtheilungen konnten die fortschreitende Entwickelung der Zeitungen aufhalten und die mit jedem Tage mehr anerkannte Macht der Presse beschränken.

Statt eines elenden, zusammengestoppelten Blättchens auf grauem Löschpapier erscheinen jetzt neun große Zeitungen, die täglich, zum Theil zweimal, oft mit fünf bis acht Beilagen versehen, ausgegeben werden. In ihrem Dienste stehen der elektrische Telegraph und das transatlantische Kabel, welche die wichtigsten Nachrichten mit Blitzesschnelligkeit aus den fernsten Ländern ihnen zutragen. Die bedeutendsten und tüchtigsten Männer sind an der Redaction oder als Mitarbeiter beschäftigt. Ein Heer von Setzern und Druckern arbeitet bei Tag und Nacht; Ballen von unendlichem Papier werden von der Schnellpresse mit Hülfe der Dampfkraft überwältigt und Tausende von Exemplaren, die oft die Stärke eines mäßigen Buches erreichen, verbreiten an jedem Morgen mit den neuesten Nachrichten Bildung, Aufklärung und Gesittung in allen Schichten der Gesellschaft.

Außer den politischen Blättern besitzt Berlin noch zwei Gerichtszeitungen, die ebenfalls sich noch mit Politik befassen, ferner die beiden humoristischen Wochenschriften „Kladderadatsch“ und „Wespen“, während für die Interessen der Kunst, Wissenschaft, der Mode und des Theaters, für kirchliches Leben und ähnliche Zwecke gegen zweihundert mehr oder minder bekannte und verbreitete Organe sorgen.

Von den beiden ältesten Berliner Zeitungen nimmt unstreitig die Vossische in der Gunst des Publicums den ersten Rang ein. Sie ist dem echten Berliner unentbehrlich und wenn er in der Fremde weilt, greift er gewiß zuerst nach der geliebten „Tante“, um zu erfahren, was in der Heimath passirt. Diese Vorliebe verdankt sie wohl zumeist ihren trefflichen Eigenschaften einer treuen Berichterstatterin, indem sie wie ein Spiegel das Bild des Berliner Lebens wiedergiebt; außerdem aber dem Umstande, daß sie ähnlich wie die „Times“ stets mit der öffentlichen Meinung Hand in Hand geht und mit anerkennungswerther Unabhängigkeit den gesunden Menschenverstand und den vernünftigen Fortschritt repräsentirt. Zu allen Zeiten kämpfte sie, wie noch jetzt, auf politischem und auf religiösem Gebiete für die Freiheit des Gewissens, vertrat und vertritt sie stets das liberale Bewußtsein des aufgeklärten und gebildeten Bürgerstandes, beseelt von jenem Geiste humaner Duldung, den sie von ihrem ältesten und größten Mitarbeiter, Gotthold Ephraim Lessing, geerbt zu haben scheint.

Zugleich hat sie immer das große Glück oder Verdienst gehabt, daß sie noch stets zur rechten Zeit auch den rechten Mann zu finden wußte. So war der bekannte Rellstab der ganz geeignete Mann für sie in jenen Tagen, wo das artistisch-literarische Interesse noch das politische Leben überwog. Damals schwur der Berliner auf seinen Rellstab, und so leicht hätte Niemand ein Urtheil über eine Oper oder ein Schauspiel abgegeben, bevor nicht der große Kritiker der Vossischen sein Wort gesprochen. Mit Entzücken wurden seine gemüthlichen Weihnachtswanderungen, mit Bewunderung seine harmlosen Reisebilder gelesen. Er war im eigentlichen Sinne der Genius der Vossischen Zeitung, bis die Revolution auch ihn von seinem literarischen Throne stürzte und seiner patriarchalischen Herrschaft ein Ende machte.

Mit dem Jahre 1848 gewann die Vossische Zeitung an dem leider zu früh gestorbenen Dr. Otto Lindner ein frische, bedeutende Kraft, welche die neue Ordnung der Dinge forderte. Mit einer gründlichen philologischen Bildung, einem tiefen philosophischen Wissen und den gediegensten künstlerischen Studien besonders auf musikalischem Gebiete verband Lindner einen seltenen politischen Scharfblick und eine große Energie des Charakters, die zuweilen selbst an Schroffheit grenzte. Durch diese Eigenschaften gab er dem ihm anvertrauten Blatt eine feste, entschiedene Richtung, indem er es zugleich aus der gemüthlichen Weißbier-Sphäre localer Beschränkung zu einem höheren, selbst ideellen Standpunkt mit bewunderungswürdiger Kraft und Vorsicht erhob. In der „Sonntagsbeilage“ erschien er zwar als Anhänger der Schopenhauer’schen Philosophie, aber in dem politischen Theil der Zeitung war er nichts weniger als ein thatenloser „Quietist“, sondern einer der muthigsten Kämpfer für Freiheit, Recht und Wahrheit. Hier erwarb er sich vor Allem das große Verdienst, durch seine unablässigen Angriffe wesentlich mit zur Beseitigung des Manteuffel'schen Regiments beigetragen zu haben. Auch in dem Conflict zwischen der jetzigen Regierung und dem Abgeordnetenhause unterstützte er mit der ganzen Macht seines Talents und seines Charakters das letztere, während er mit staatsmännischer Einsicht die großen Ereignisse des Jahres 1866 erfaßte und in diesem Sinn das Werk der deutschen Einheit nach Kräften zu fördern suchte.

Nach seinem beklagenswerten Tode übernahm sein schlesischer Landsmann und langjähriger Mitarbeiter, Dr. Hermann Kletke, die Redaction, dieselbe im gleichen Geist fortführend. Ursprünglich nur als begabter Lyriker, als Dichter reizender Kindermärchen und viel gelesener Jugendschriftsteller bekannt, entwickelte der liebenswürdige und bescheidene Kletke eine überraschende politische Befähigung und eine Vielseitigkeit, wodurch die von ihm jetzt geleitete Zeitung eher gewonnen als verloren hat. Noch heute wie früher ist die Vossische Zeitung das Lieblingsblatt des gebildeten Bürgerstandes, auf dessen Anschauungen sie den größten Einfluß übt. Unter ihren Mitarbeitern befinden sich viele ausgezeichnete Männer, wie der Nestor der Berliner Journalistik, der fünfundachtzigjährige Professor Gubitz. Gegenwärtig zählt dieselbe mehr als siebenzehntausend Abonnenten, außerdem hat sie die zahlreichsten Annoncen, so daß sie an manchen Tagen bis zehn Bogen Beilagen bringt. Ihre Besitzer, die Lessing’schen Erben, Verwandte des berühmten Lessing, beziehen aus ihr eine höchst bedeutende Jahresrevenue.

Ihre gleichaltrige Collegin, die Spener’sche Zeitung, wird dagegen wegen ihrer mehr vermittelnden Stellung und minder entschiedenen Haltung vorzugsweise in den höheren Beamten- und Professorenkreisen gelesen. „Onkel Spener“ macht weit mehr den Eindruck eines alten, behaglichen und bedächtigen Herrn, der sich nicht gerne echauffirt und lieber mit aller Welt in Frieden lebt, als die lebhafte, sanguinische Tante, welche nach Art resoluter Frauen kein Blatt vor den Mund nimmt und, wenn es ihr zu toll wird, kräftig dazwischen fährt. Durch den früheren Besitzer und Redacteur, Dr. Spiker, der wegen seiner Vorliebe für englische Institutionen und Literatur den Beinamen „Lord Spiker“ führte, hat die Spener’sche Zeitung eine gewisse vornehm steife, gentlemanlike reservirte Haltung angenommen. Obgleich von der Regierung unabhängig, erhält sie wegen ihrer gemäßigten Stellung von Zeit zu Zeit einen freundschaftlichen Händedruck in Form vertraulicher Mittheilungen aus „sicherer Quelle“ oder einen Wink von hochgestellten Beamten, die mit dem stets anständigen Onkel auf vertrautem Fuß stehen. Ganz besondere Aufmerksamkeit schenkt sie den Erscheinungen des Büchermarktes, die sie weniger mit kritischer Schärfe als bibliophiler Sorgsamkeit bespricht, wodurch sie sich in den gelehrten Kreisen Anerkennnug erworben hat.

Ihr jetziger Redacteur, Dr. Alexis Schmidt, zugleich Vorsitzender des Vereins der „Berliner Presse“, genießt wegen seines biederen Charakters, seiner Humanität und Gefälligkeit die allgemeinste Verehrung. Wie in seinem Blatt nimmt er auch im Leben eine zwischen den Parteien stets vermittelnde, die Extreme versöhnende und darum höchst beliebte Stellung ein.

Unter den demokratischen Zeitungen Berlins behauptet die „Volkszeitung“, welche an die Stelle der eingegangenen „Urwähler-Zeitung“ getreten ist, noch immer den höchsten Rang. Sie besitzt in ihrem eigentlichen Redacteur Herrn Bernstein, dessen Portrait und Biographie die Gartenlaube bereits im Jahrgang 1861 brachte, eine wahrhaft bewunderungswürdige, unerschöpfliche Kraft. Seine zahllosen Leitartikel, seine naturwissenschaftlichen Aufsätze haben die Volkszeitung zum gelesensten Blatt gemacht. An populärer Begabung findet

er kaum seines Gleichen, an Scharfsinn und geistvoller Auffassung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_327.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)