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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Mich interessirten jedoch die Colonisten selbst weit mehr. Schon bei meiner ersten Ankunft in Kronschtádtskaja Kolónia glaubte ich anfangs zu träumen. Wußte ich doch bestimmt, daß ich in Rußland am äußersten Ende der Ostsee sei, und doch – war ich wie durch Zauberei in ein schwäbisches Dorf versetzt. Daran war kein Zweifel möglich. Wie ließ sich sonst die Tracht, die Sprache, das Wesen der Colonisten erklären? Die Männer trugen die langen Tuchröcke mit blanken Knöpfen, die bis an den Hals zugeknöpften, meist bunten Westen, die etwas bauschigen dunklen Beinkleider, welche in den hohen, engschäftigen Stiefeln steckten, gerade so, wie ich es so oft im Schwabenlande bei den dortigen Bauern gesehen hatte. Die Colonistinnen hatten das in lange Zöpfe geflochtene Haar auf dem Hinterkopf brezelförmig aufgesteckt; sie trugen die kleinen, spitzig auslaufenden, aus bunter, mit silbernen Blumen bestickter Seide angefertigten Schwabenhäubchen, die mit breiten bunten Bindebändern unter dem Kinn festgehalten wurden, eine hoch hinauf gehende dunkelfarbige Jacke mit langen, enganschließenden, nur an der Achsel aufgebauschten Aermeln, kurze bunte Faltenröcke und weiße kokette Schürzen. Alles wie die „Schwobenmaidli“. Und nun die Sprache! Frauen wie Männer, Greise wie Kinder plauderten in einem so unverkennbar schwäbischen Dialect mit einander, wie ich ihn in Würtembergs Dörfern nirgends reiner gehört hatte. Bei näheren Nachfragen löste sich mir das Räthsel leicht und einfach.

Auf Veranlassung der damaligen russischen Regierung war in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts die Kronstädter Colonie von würtembergischen Auswanderern gegründet worden. Unter dem mächtigen und gütigen Schutz der Großfürstin Helene Páwlowna hatten jene rasch im fremden Lande feste Wurzel gefaßt, das ihnen angewiesene Terrain cultivirt, aus ihm reiche Ernten gewonnen, diese gut verwerthet, waren zu Wohlstand gekommen und hatten endlich in der weiteren Umgegend die Nebencolonien Strélena, Snámensky, Oranienbaum und Peterhof (die Russen, welche in ihrer Sprache das „h“ überhaupt nicht haben, sagen Petergof) gegründet. Mit größter Strenge hatten die Colonisten dabei vor Allem darauf gehalten, daß Niemand unter ihnen ein russisches Element in seine Familie aufnahm; nur untereinander schlossen sie ihre Ehebündnisse. Gerade hierin waren sie auch von der Großfürstin Helene Páwlowna bestärkt worden. So haben sie sich ihren lutherischen Glauben,[1] ihre deutschen Sitten und Eigenschaften, ihre schwäbische Tracht und Sprache bewahrt.

Auch bei der Betreibung ihrer Landwirthschaft verfahren sie im Wesentlichen, soweit es das dortige Klima mit seinem kaum vier Monate dauernden Frühling und Sommer irgend erlaubt, ganz so, wie es ihre Ahnen in der deutschen Heimath gehalten hatten und ihre dortigen Stammesgenossen noch jetzt halten. Ja sogar die Beinamen der ersten Gründer der Colonie, welche diese in Würtemberg gehabt hatten, sind auf ihre Nachkommen übergegangen, obwohl sie in keiner Weise mehr passen. Da giebt es noch einen „Schmalz im Dunkeln“, einen „Jörg an der Eck“, einen „Krischan in der Dell“, wenngleich der jetzige Schmalz nicht im Dunkeln, der Jörg nicht an der Ecke und der Krischan nicht in einer Dell (Thal, Vertiefung) wohnt. Aber auch die Fehler der Vorfahren hatten sich auf die Colonisten vererbt: Bauernstolz und Bauernneid, Bauernmißtrauen und Bauerngeiz, und ebenso die oft etwas zweifelhafte Reinlichkeit der schwäbischen Bauern, welche hier freilich neben dem unzweifelhaften Schmutz ihrer russischen Nachbarn relativ immerhin einen recht guten Eindruck machte. Männer wie Frauen waren übrigens ohne Ausnahme stattliche Erscheinungen, letztere zum Theil sogar sehr hübsch. Specielle Erinnerungen, wie es im Heimathsdorf, Würtemberg, Deutschland aussehe, hatten sich nur wenige bei ihnen erhalten. Was aus beiden – Würtemberg und Deutschland – geworden, oder noch werden könne, war ihnen ziemlich gleichgültig. Wenn ich den Einen oder Anderen fragte: „Ob er denn gar keine Lust habe, nach der Heimath zurückzukehren,“ bekam ich stets die Antwort: „Worum? Hie hent mer’s zehn moal besser, als mer’s dahoim je g’hätt hättet.“ Dagegen erkundigten sie sich in echt germanischem Sinne mit Eifer nach den Wein- und Bier-Preisen in Deutschland, und was ich ihnen in dieser Beziehung mittheilte, erregte ihr Mißvergnügen, weil bis auf den Schnaps, den sie zum Glück nicht sehr liebten, in Rußland alle Spirituosen so „verdeixelt“ theuer seien.

Auf ihre russischen Nachbarn sahen sie mit großer Verachtung herab; von den Finnen sprachen sie gut. Dank verschiedenen ihnen bei ihrer Einwanderung zugesicherten und bis hierzu von der Regierung nicht zurückgenommenen Privilegien und der Protection der Großfürstinnen Helene Páwlowna und Katharine Michaílowna (Tochter der Ersteren, Gemahlin des Prinzen von Würtemberg) lassen sie sich von den russischen Behörden nichts Ungehöriges gefallen. Als während meines Aufenthalts in Kronschtádtskaja Kolónia einmal auf Anordnung eines höheren russischen Wegebaubeamten vier Männer aus der Snámensky’schen Colonie, weil sie sich geweigert hatten, für die Ausbesserung der Staatschaussee bei Peterhof Frohndienste zu leisten, in den dortigen Thurm gesteckt worden waren, schlugen die übrigen Colonisten energisch Lärm und erwirkten rasch die Freilassung der Verhafteten. Den Schulz von Snámensky aber setzten sie ab, weil er in der Sache „net Courasch g’nug g’hätt hoat“.

Ihre Kirche liegt im Park der Großfürstin Katharine Michaílowna auf einer Anhöhe über dem Städtchen Oranienbaum. Dort wohnt im Sommer ein eigener Prediger, und während dieser Zeit findet jeden Sonntag Gottesdienst statt. Im Winter wird solcher nur alle vier Wochen gefeiert, der Prediger kommt dann immer eigens hierzu von Petersburg nach Oranienbaum. Auch ein Schulhaus hat die Colonie, das aber, weil die an und in ihm nöthigen Ausbesserungen nach einem bestimmten Turnus von den einzelnen Gemeindemitgliedern beschafft werden sollen, nicht gerade im besten Stande war. Der Gehalt des Lehrers besteht in zweihundert Rubeln baaren Geldes und in Naturalleistungen, welche von den Colonisten nach dem Verhältniß der Größe ihrer Höfe zu liefern sind. Damals war der Schullehrer ein ganz gescheidter und unterrichteter Mann, und ich fand die Schulbildung bei den Kindern, wie bei den Erwachsenen im Ganzen nicht auf niedrigerer Stufe stehend, als sie in den meisten Dörfern Süddeutschlands durchschnittlich zu sein pflegt.

Der angesehenste und vornehmste Mann in der Colonie war mein Hauswirth, der Schulz Conrad Daniel Craubner in der Dell (von den Russen Daniel Iwánowitsch genannt). Er war ein stattlicher Mann, etwas corpulent, reichlich vierzig Jahre alt, seinen Untergebenen und seines Gleichen gegenüber trat er mit ungeheurer Würde, Höhergestellten gegenüber mit mißtrauischer Vorsicht auf. Galt es einen Profit zu machen, so zeigte er sich als geriebener Patron. Ging er Sonntags im Festanzug, im langen Rock aus feinem dunkelblauen Tuch, in der hohen schwarzen Weste, dem bunten Halstuch, den schwarzen Beinkleidern, den blanken, vorn mit Troddeln verzierten Stulpenstiefeln, den spanischen Rohrstock mit silbernem Knopf in der Hand, seiner Familie zwei Schritte voraus zur Kirche, so erinnerte er mich immer an Auerbachs berühmten Dorfschulzen, den Buchmeier. In seinem eigenen Hause spielte er übriges keineswegs die erste Flöte. Vielmehr wurde dieses Instrument einzig und allein von seiner etwa siebenzigjährigen Mutter geblasen, welche bei einer fast unnatürlichen Corpulenz von ungewöhnlicher Behendigkeit und Rüstigkeit war, das ganze Hauswesen dirigirte und Sohn, Schwiegertochter (ein dickes, gutmüthiges, dunkeläugiges Weibchen) und die ganze Reihe ihrer Enkel als absolute Regentin tyrannisirte. Conrad Daniel Craubner stammte direct von dem eigentlichen Gründer der Colonie ab und hatte wie das größte, so das bestcultivirte Gehöft. Auf Beides war er nicht wenig stolz. Als wir näher mit einander bekannt geworden waren, weihte er mich in die Geschichte seiner Familie und der ganzen Colonie ein, übergab mir auch eines schönen Tages, als einen Beweis seines besonderen Vertrauens zu mir, die Familienpapiere derer von Craubner. Sie waren in der That mindestens eben so interessant wie die mancher Herren von -witz oder -ow.

Ein Vorfahr meines Hauswirths Christian Ulrich Craubner hatte, laut Zeugniß des dortigen Bergmeisters vom Jahre 1770, in Freudenstadt in Würtemberg das Bergwerkshandwerk erlernt, war dann in Reutlingen Grobschmied geworden und hatte es schließlich in Tuttlingen gar bis zum Schulmeister gebracht. Seine rege Wanderlust ließ ihn aber hier nicht Ruhe finden; mit seiner Familie – er hatte elf Kinder – siedelte er erst nach Oesterreich, dann nach Preußisch-Polen über und wanderte schließlich nach

Rußland aus. Was von dieser Zeit an ihm begegnet ist, hat

  1. Nach russischen Gesetzen müssen, wenn in einer Ehe auch nur einer der Ehegatten sich zur orthodox-griechischen Religion bekennt, sämmtliche Kinder unter allen Umständen in der griechischen Religion getauft und erzogen werden.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 319. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_319.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)