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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

überhaupt für ein sehr zeitraubendes und überflüssiges Institut ansehe.“

Doch bereits war es elf Uhr geworden, und in immer größerer Anzahl verabschiedeten sich die Gäste beim Kanzler. Auch ich reichte ihm die Hand zur Empfehlung. Er sagte Allen „auf Wiedersehen“. Der Saal hatte sich erheblich gelichtet. Die letzten Dialoge, denen ich auf meinen Etappen zum Rückzuge begegnete, waren der des Hamburger Hinrichsen, des hochgebildeten Vertreters seines heimathlichen Freihandels, mit dem Präsidenten des Bundeskanzleramts Delbrück, diesem, wie wenige, freisinnigen, klaren, liebenswürdigen preußischen Bureaukraten, wobei Hinrichsen die Segnungen des Entrepôtsystems mit großer Beredsamkeit enthüllte, während Delbrück seiner Miene nach den dereinstigen Zollanschluß Hamburgs nicht gerade als ein Unglück zu betrachten schien; – und dieser Gruppe gegenüber eine neugewählte Landratte im Zwiegespräch mit dem stets lächelnden Admiral Jachmann, diesem Seehelden an einem Glase Maitrank die Bewegungen der See und die Kriegstüchtigkeit der Minitors erläuternd. Der Waldmeister spielte die Rolle des Monitors mit Erfolg.

Vor den Gemächern der Gräfin Bismarck, wo unsere freundliche Wirthin mit ihrer Tochter und Verwandten im häuslichen Kreise saß, traten wir, uns verbeugend, vorüber und saßen eine Viertelstunde später im Hôtel Petersburg bei einem echten Schwechater in der „Exkneipe“.




Ein würtembergisches Dorf an der Ostsee.

Als Lehrer an einem deutschen Gymnasium in Petersburg, wohin ich im Herbst 1864 gekommen war, hatte ich mich, des lieben Broderwerbs willen, so angestrengter Thätigkeit ausgesetzt, daß ich beim Beginn des nächsten Sommers mit seinem unleidlichen Temperaturwechsel das dringende Bedürfniß fühlte, einmal wieder eine reinere, gesundere Luft einzuathmen. Wohin aber mit einer Casse, welche eine weite Reise ebenso wenig gestattete wie den Aufenthalt in einem der vornehmen russischen Villeggiaturorte? Ich klagte einem mir bekannten deutschen Kaufmann, der bereits seit zwanzig Jahren in Rußland lebte, meine Noth. – „Gehen Sie doch nach der Kronstädter Colonie!“ meinte er.

Was er mir auf meine Fragen über diesen Ort Näheres mittheilte, sprach mich derart an, daß ich schon am nächsten Morgen, einem Sonntag, mich nach dem Peterhofer Bahnhof begab und mir ein Billet nach Oranienbaum löste. Dort angekommen, ward ich mit einem der vor dem stattlichen Bahnhofsgebände haltenden schmierigen „Ismóschtschiks“ (russische Droschenkutscher) mit ihren noch schmierigeren kleinen Droschken handelseins über den Preis, für den er mich nach Kronschtádtskaja Kolónia bringen sollte, und ließ mich rasch durch die schlecht gepflasterten Straßen Oranienbaums, eines hübschen, freundlichen Städtchens, rasseln. Dann ging es noch eine kurze Strecke – bis an das Ende des das gleichnamige, der Großfürstin Helene Páwlowna gehörige Schloß umgebenden Parks – auf einer erträglichen Chaussee im munteren Trabe weiter. Von da ab stolperten wir etwa eine halbe Stunde lang auf einem niederträchtigen Lehmweg, dessen tiefe Löcher man vergebens mit alten Kohlstrünken, Holzabfällen, Reisig etc. einigermaßen auszufüllen versucht hatte, derart hin und her, daß ich mich nur mit großer Mühe auf meiner lehnenlosen Droschke festzuhalten vermochte. Endlich bogen wir rechts ab, und im Galopp – bergauf fährt der russische Wagenlenker nie Schritt – ging’s einen mäßig steilen Hügel hinan, auf dessen Rücken ich das Ziel meiner Reise erblickte.

Kronschtádtskaja Kolónia liegt auf dem unteren Absatz einer vielleicht zweihundert Fuß hohen Anhöhe, der sich anfangs steil, dann in sanfterem Fall auf das ziemlich breite, ganz flache Wiesenufer des finnischen Busens niedersenkt, während die Anhöhe selbst hinter der Colonie zuerst eine Art von kleinem Plateau bildet, hierauf aber zum eigentlichen Kamm der Hügelkette sachte ansteigt. Es wird von nur sieben in einer Linie neben einander liegenden Gehöften gebildet. Zu jedem derselben gehört ein Streifen Landes, der von dem am Fuß des Hügels hinlaufenden Fahrweg an sich über das Dörfchen selbst hinaus durch das ganze Plateau hin in beträchtlicher Länge ausdehnt. Die Wiesenpartie zwischen Fahrweg und Meer ist Krongut. Die Gehöfte der Colonie bestehen aus dem eigentlichen Wohnhaus, den Ställen, Scheunen und anderen zum Zweck der Ackerwirthschaft bestimmten Nebengebäuden und endlich aus freundlichen, mit Balcons und Galerien versehenen, villenartigen Bauwerken, den Miethwohnungen für Sommergäste. Alle diese Gebäude sind aus Holz aufgeführt, die Hauptwände aus mächtigen Tannenholzblöcken ineinander gefügt, die Dächer mit Schindeln gedeckt. Die Wohnhäuser und jene Villen sind mit hellen, lebhaften Farben angestrichen. Um so freundlicher schauen sie aus den sie umgebenden Linden- und Obstbäumen heraus.

Mein Ismóschtschik brachte mich aus eigenem Antriebe vor das Haus des Vorstehers der kleinen Colonie. Dieser selbst, welcher, vor seinem Hofthor stehend, mein Gefährt und mich schon aus der Ferne beobachtet hatte, trat, als die Droschke hielt, heran und fragte mich, als ich ausgestiegen war, in gutem Russisch nach meinem Begehr. Ich antwortete ihm in deutscher Sprache, ich beabsichtige mir hier eine Sommerwohnung zu miethen. Ueber des Mannes Antlitz flog ein freudiger Ausdruck. „Ah, Se sinn ach ä Deitscher!“ rief er und schüttelte mir nun zum Willkommen derb die Hand. – Ich fand in seiner eigenen „Villa“, was ich suchte, ein freundliches, großes, nach Norden, d. h. dem Meere, gelegenes, mit einem Balcon versehenes Zimmer und zwei daran stoßende luftige Kammern. Sie waren, wie fast alle Miethwohnungen in der Colonie, unmöblirt. Mit Hülfe eines Kronstädter Möbelhändlers – ich fuhr noch am selben Tage auf leichtem Kahn nach der der Colonie gerade gegenüber liegenden Festung in nicht ganz einer Stunde hinüber – und meines Hauswirthes hatte ich jedoch bald ein genügendes Ameublement zusammen, richtete mich häuslich ein und verlebte dann drei Monate in Kronschtádtskaja Kolónia in der angenehmsten Weise.

Von meinem Balcon aus hatte ich eine wirklich sehr schöne Aussicht; sie beherrschte mehrere prächtige Parks russischer Großen, weite Acker-, Gehölz- und Wiesengebiete und in der Ferne das Meer mit der Inselfestung Kronstadt und deren vielen Festungs-Inselchen und wurde, wenn die aufgehende und mehr noch die untergehende Sonne ihren prächtigen Farbenreiz auf diese Bilder legte, zu einer wahrhaft großartigen.

Völlig Nacht wurde es Ende Juni und Anfang Juli in diesen Gegenden nicht. Denn, während in der genannten Zeit die Sonne erst etwa um halb elf Uhr Abends unterging, erhob sie sich schon bald nach zwei Uhr Morgens wieder, und auch in der Zwischenzeit blieb es so hell, daß man, ohne sich die Augen besonders anzustrengen, zu jeder Zeit draußen oder am Fenster sehr gut lesen konnte. Den Augenblick, wo die Sonne am Horizont verschwand, wie denjenigen, in welchem ihr goldener Saum wieder aus dem Meer empor zu steigen begann, verkündeten stets zwei von den Wällen Kronstadts dröhnende Kanonenschüsse.

Allerliebste Spaziergänge ließen sich von der Colonie aus in deren Umgebung machen. Außer den genannten Parks ladet dazu besonders der aus Rothtannen und Birken bestehende, hinter der Colonie liegende Gemeindewald ein, welchem viele hie und da darin versteckte erratische Granitblöcke und mächtige Farrenkrautbüsche etwas Urwaldartiges geben. Auch am Meeresstrand hinzuschlendern, an welchem noch hie und da zur Zeit des Krimkrieges aufgeworfene Schanzen zu finden sind, verlohnte schon der Mühe, obwohl der hier sehr schmale und flachuferige finnische Busen nichts von der Großartigkeit der Nordsee hat. Sein Wasser erscheint bei ruhigem Wetter meist dunkelblau, selten grünlich schillernd, bei starkem Wind dunkelbraun. Am auffallendsten war mir der Reichthum und die Ueppigkeit der Vegetation in diesen Gegenden. Die Flora war dieselbe wie die Mitteldeutschlands, aber die einzelnen Pflanzen und Blumen zeigten sich weit größer, kräftiger, als sie dort zu sein pflegen.

Kein Wunder daher, daß die Colonie als Sommeraufenthalt für nicht allzu reiche Bewohner Petersburg’s und Kronstadt’s sehr beliebt ist. Alle Villen der Colonisten waren Ende Juni mit Miethern überfüllt, unter denen sich besonders kleine Beamte, Kaufleute und Handwerker befanden. Die meisten waren deutschen Ursprungs.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 318. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_318.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)