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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

trennen, da ich sah, daß der gnädige Herr sich gar so glücklich bei uns fühlte und lieber mit uns verkehrte, als mit seines Gleichen. Er hat ganze Stunden mit mir geplaudert, ohne daß Marie dabei war, und ich habe nicht bemerkt, daß er sich langweilte. Wenn er nicht von gar so hoher Abkunft wäre, so könnte ich mir keinen liebern Schwiegersohn wünschen, denn er liebt Marie wirklich, und sie ist ihm auch von Herzen gut; aber der Abstand ist zu groß; er versteht sie nicht und sie versteht ihn nicht.“

Der Alte nickte von Zeit zu Zeit zustimmend, als ob er sagen wollte: meine Frau spricht mir ganz aus dem Herzen; ich kann es nur nicht so klar von mir geben wie sie.

Alexander und Marie saßen wie regungslos in sich versunken; sie sprachen kein Wort.

Dimitry empfand bei den Worten der braven Frau, was er lange nicht mehr empfunden hatte: wirkliche Achtung vor den Menschen. Er hatte eigentlich gar nichts mehr zu sagen, denn alles Wesentliche war schon gesagt, und das, worauf er sich vorbereitet hatte, paßte nicht zu der Lage. Daß hier von Seiten der Eltern nichts geschehen war, was irgendwie mit eigennützigen Motiven zusammenhing, um Alexander an Marie zu fesseln, war ihm vollkommen klar, und die Worte, die er jetzt an die Mutter richtete, kamen ihm wirklich aus dem Herzen.

„Ihr seid die bravste Frau,“ sagte er, warm ihre Hand drückend, „die mir je vorgekommen; die traurige Pflicht, welche mir auferlegt ist, das junge Paar zu trennen, wird mir dadurch nur um so schwerer. Wenn ich nur die leiseste Hoffnung hätte, den harten Sinn meines Bruders zu erweichen, so würde ich Alles thun, um dies junge Paar glücklich zu machen, statt es zu trennen. Aber ich kenne meinen Bruder … da ist der Brief Deines Vaters,“ fuhr er, nach einigem Nachdenken sich zu Alexander wendend, fort, „lies und entscheide dann selbst!“

Den jungen Fürsten durchrieselte ein eisiges Schaudern beim Lesen des Briefes; er konnte ihn nicht zu Ende bringen; er hielt inne bei der Stelle, wo sein Vater den Fluch über ihn aussprach, falls er sich von der Bauerndirne nicht losreiße.

Das vierte Gebot wird von den Russen strenger gehalten als von andern Völkern; wenn Alexander sich auch nie zu seinem Vater so hingezogen fühlen konnte wie zu seiner Mutter, er war ihm doch immer ein treuer, gehorsamer Sohn gewesen. Dieser Brief aber brachte ihn ganz außer sich.

„Das hab’ ich nicht verdient“ – rief er, jäh aufspringend – „den Fluch meines Vaters hab’ ich nicht verdient um meiner Liebe willen! O Gott! o Gott! laß mich nicht wahnsinnig werden!“

Dann brach er förmlich zusammen, wie bewußtlos.

Während Marie theilnahmvoll um ihn beschäftigt war und seine Schläfen und Stirn mit Wasser kühlte, um ihn wieder zu sich zu bringen, fragte die Mutter ängstlich flüsternd Dimitry:

„Steht das wirklich im Briefe, was er da sagte? Flucht ihm sein Vater um meines Kindes willen?“

Dimitry nickte traurig, und die gute Frau brach in lautes Schluchzen aus.

Alexander kam nicht so bald wieder zu sich; sein Kopf glühte wie die Mittagssonne; er fing an zu phantasiren. Der herbeigerufene Arzt erklärte seinen Zustand für sehr bedenklich. Er wurde vorsichtig in seine Wohnung getragen; Marie und ihre Mutter wichen nicht von seinem Bett; sie wachten die ganze Nacht bei ihm. Der Arzt gab ihm nur noch wenige Tage zu leben, allein unter Marie’s Pflege lebte er noch einige Monate.

Dimitry hatte den traurigen Fall sofort seinem Bruder erst telegraphisch, dann ausführlicher brieflich gemeldet. Die zärtliche Mutter wartete den Brief nicht ab, um an das Lager ihres einzigen Sohnes zu eilen. Schon nach acht Tagen war sie bei ihm. Er kam wieder zu vollem Bewußtsein; der Fluch seines Vaters wurde von ihm genommen, nachdem derselbe seine vernichtende Wirkung schon geübt hatte. Die Fürstin, welche Marie wie ihre Tochter und deren Eltern wie liebe Verwandte behandelte, suchte Alexander durch die Hoffnung aufzurichten, daß er Marie doch noch heimführen könne; allein er schüttelte, so oft sie darauf zurückkam, traurig lächelnd den Kopf und sagte:

„Es ist zu spät, ich bin schon glücklich, daß Du bei mir bist, daß Du Marie liebst und daß Ihr Beide mich pflegt. Mit meinem Leben ist’s aus, aber die Hand der Liebe wird mir die Augen zudrücken.“

Die gute Fürstin begriff vollkommen, warum ihr Sohn sich bei dem Mädchen von Liebenstein so glücklich gefühlt hatte; sie hatte daheim in ihrem prachtvollen Schlosse so gute Tage nicht gesehen wie Alexander in Marie’s Hause.

Sie erfüllte auch den letzten Wunsch des Sterbenden, in Liebenstein begraben zu werden, und versprach ihm aus freien Stücken, jedes Jahr nach Liebenstein zu kommen, um an seinem Grabe zu beten und frische Blumen darauf zu pflanzen. –

Sie hielt Wort.

Als sie das erste Mal wieder kam, geschah es in Begleitung ihres Gemahls, den der Tod seines einzigen Kindes tiefer erschüttert hatte, als man bei dem rauhen Manne erwartet haben würde. Allein eine innere Stimme rief ihm zu: „Du bist der Mörder Deines Sohnes!“ Und dieser Vorwurf drückte ihn, bis er ihm das Herz zerdrückt hatte. Er vermachte in seinem Testamente große Summen den Findel- und Waisenhäusern in Moskau und Petersburg und gedachte reichlich der Armen.

Als die Fürstin zum zweiten Male wieder kam nach Liebenstein, kam sie als Wittwe. Sie brachte reiche Geschenke mit für Marie und ihre Eltern, die solche annahmen und – wie Alles, was sie schon früher von Alexander erhalten hatten – bei Seite legten und aufbewahrten wie geheiligte Dinge, die gar nicht zu ihnen gehörten. Marie war nie zu bewegen gewesen, von den Schmucksachen, welche Alexander ihr geschenkt hatte, etwas Anderes zu tragen als ein goldenes Kreuz mit dem Bilde des Heilandes; die goldene Kette ließ sie ablösen und trug das Kreuz an einer schwarzen Schnur am Halse.

Eines Tages ließ sich bei der Fürstin ein junger, sehr schmuck aussehender Mann melden, der sie sehr verlegen und bewegt um ihre Vermittelung bei Marie bat, die er leidenschaftlich liebe und der er auch früher, bevor sie den jungen Fürsten gekannt, nicht ganz gleichgültig gewesen sei. Allein damals habe er nicht gewagt um sie zu werben, weil ihm noch die Mittel zum Heirathen gefehlt hätten, und später habe ihn ihr Verhältniß zum Fürsten und ihre Trauer um seinen Tod von ihr ferngehalten. Inzwischen sei er aber durch Fleiß und Glück in sehr behagliche Verhältnisse gekommen und würde ganz glücklich sein, wenn es ihm gelänge ihre Hand zu erhalten, denn ein braveres Mädchen als die Marie lebe im ganzen Thüringer Lande nicht.

Die Fürstin versprach ihre Vermittelung. Marie’s Zustimmung war schwer zu gewinnen, aber ehe der Herbst in’s Land kam, wurde sie gewonnen, denn der junge Mann war ihr in der That nicht gleichgültig.

Als die Fürstin zum dritten Mal seit dem Tode ihres Sohnes nach Liebenstein kam, veranstaltete sie selbst die Hochzeitsfeier des hübschen Paares, das sie gar zu gern mit sich nach Rußland auf ihre Güter genommen hätte. Allein Marie wollte ihr theures Liebenstein mit dem geheiligten Grabe und ihre Eltern nicht verlassen.

Ich begegnete ihr vor einigen Tagen, als sie an der Seite ihres Mannes von dem Grabe des todten Freundes kam, das sie mit frischen Blumen geschmückt hatte. Sie trug auf dem Arme einen allerliebsten Jungen und sah selbst noch ganz mädchenhaft aus. Ich blieb vor ihr stehen, streichelte dem Jungen die Wangen und fragte: „Wie heißt der Kleine?“

Und sie küßte das Kind und sagte: „Alexander.“




Ein Geschichtsschreiber der Wahrheit.

Am 23. Juni 1848 trat in der Paulskirche zu Frankfurt am Main ein Mann auf die Rednerbühne, um über die Gestaltung der provisorischen Centralgewalt für Deutschland sein Wort zu sprechen. Schon damals hatte der Parteihaß aus dieser Versammlung die Würde vertrieben; in den Hallen, in welchen nur heiliger Ernst zu walten hätte befugt sein sollen, erscholl oft rohes Gelächter des Hohnes und Spottes aus den Reihen der Gegnerpartei eines Redners, und solche Mißhandlung traf oft die einst gefeiertesten Männer der Nation. Leider ist diese Erscheinung eine herrschende in allen Versammlungen unserer Volks- und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 292. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_292.jpg&oldid=- (Version vom 20.10.2019)