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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

„Edle Kassandra, so viel wissen wir armen, blinden Sterblichen auch!“ spottete die Hofdame. „Freilich stiftet er Unheil – er macht dem Volke zu viel weis’; aber das giebt sich – lasse ihn nur erst heimisch werden in unserem Kreise! … Es ist wahr, er kann nicht lächeln; was er sagt, das klingt unbeugsam, und sieht aus wie ein Felsblock neben dem elegantes Conversationston unseres Durchlauchtigsten. … Liebste Lucie, diesen Mund lächeln zu machen, den stolzen Sinn zu brechen, alle die gerühmten Vorsätze über den Haufen zu werfen, einzig durch die Liebe – das wäre eine Aufgabe, eine Wonne!“ …

„Probir’s nur und verbrenne Dich!“ entgegnete die Blondine und verschwand hinter der Thür ihres Zimmers, die Hofdame aber fuhr erglühend empor – die Baronin Fleury war unbemerkt auf dem weichen Teppich hinter ihnen hergegangen und maß jetzt die junge Dame vorüberschreitend mit einem langen, spöttisch mitleidigen Blick.

Die schöne Excellenz war bereits zum Spaziergang gerüstet und betrat mit den Herren zugleich das Vestibüle. Die Thüren des Musiksalons standen weit offen, um die kühle Luft der Halle in den sonnenerhitzten Raum einströmen zu lassen. Es sah schwül aus da drinnen – die purpurnen Vorhänge verbreiteten einen gleichmäßigen dunkelblutigen Schein, den nur dann leuchtende Reflexe durchzuckten, wenn draußen der Windhauch einzelne Blätter her Orangenbäume bewegte und dem Sonnenlicht eine Bresche öffnete. Diese Lichtpunkte glitten unheimlich geschäftig über den Plafond und die weißen, mit vergoldeten Ornamenten bedeckten Wände; es lag etwas Beseeltes in dem huschenden Spiel, etwas wie ein Aufleben musikalischer Reminiscenzen – unter ihnen flatterte vielleicht auch jenes Notturno von Chopin, welches einst das Signal zu einem grausamen Verrath gewesen war.

Die Baronin trat rasch, mit ärgerlich gerunzelter Stirn, in den Salon – sie war heute plötzlich von ihren gewohnten Morgenübungen abgerufen worden und hatte vergessen, den Flügel zu schließen.

„O nein, meine Gnädigste,“ protestirte der Fürst, als sie den Deckel ergriff, „der Moment ist zu günstig für mich, der Flügel steht offen und die Noten liegen auf dem Pult – o bitte, nur eine einzige Pièce – Sie kennen ja meine Schwäche für Liszt und Chopin!“

Die Baronin lächelte, streifte aber sofort die Handschuhe ab, warf den Hut auf einen Stuhl und setzte sich an den Flügel. Sie legte das Notenblatt weg und griff präludirend in die Tasten. Das blendend schöne Weib war wie überschüttet von der rothen Gluth, und als die Saiten in stürmischer Gewalt unter den weißen Händen erbrausten, während sie langsam die Wimpern hob und die lodernden Augen wie in trunkener Selbstvergessenheit durch das Zimmer schweifen ließ, da erinnerte dieser Kopf freilich nicht an das keusche Gebild der heiligen Cäcilie, wohl aber an jene trojanische Helena, deren Gestalt noch zu uns herüberdämmert voll bestrickenden Liebreizes, aber auch angestrahlt von der Gluth, welche Dämonen schüren.

Die Herren traten geräuschlos in den Salon und verharrten an der Thür; der Portugiese dagegen hatte das Schloß verlassen er stand draußen unter den Orangenbäumen mit fest zusammengepreßten Lippen und schwerathmender Brust. … Lief nicht eine unverwischbare Linie über diesen weiten Platz hinweg durch die Alleen und weiter, die sumpfigen Wiesen drüben jenseits der Mauer durchschneidend? Eine Linie, geröthet von edlem Herzblut, das weder der strömende Regen, noch die bleichenden Sonnenstrahlen wegzulöschen vermochten? … Da war er ja gewandelt, der muthmaßliche Brandstifter, und neben ihm die hehre, schweigende Gestalt mit dem zu Tode getroffenen Herzen in der Brust! … Scholl nicht durch die rauschenden Accorde da drinnen der schrille Ton der Klingel, mittels dessen der Hochgeborene einst eine Meute elender Bedientenseelen auf das fliehende Brüderpaar hetzte? … Und da drüben starrte die schroffe Felsenkante in die Lüfte – golden floß das Sonnenlicht an den Zacken nieder und in die Ritzen und Spalten hinab, da, wo das verwitternde Gestein seinen eigenen Staub aufspeicherte, kroch das Grün des Waldbodens mit schmeichelndem Fuß. … Und wenn es den ganzen starren Block umwob, es konnte doch nicht die Fußstapfen Dessen verwischen, der einst, die hereinbrechende Nacht über dem Haupte und in der Seele, da droben seinen letzten furchtbaren Kampf gekämpft, während ihm unten die reißenden Wasser bereits das kühle Bett bereiteten, in welchem plötzlich Alles, Alles, das wilde Weh, die Verzweiflung und die nicht zubesiegende Liebe verstummen sollten. …

Ha, ha, ha, und die Frau da drin in dem Zimmer mit den rothglühenden Vorhängen spielte eben wieder Chopin! Sie hatte die Treue gebrochen und einen Mord auf der Seele – aber das gerade machte sie pikant. … Die Herren, die bewundernd um sie her standen, hatten ja alle, ehe sie sich standesgemäß verheirathet, kleine Liaisons gehabt – lächerlich, wer dabei an Sünde denken wollte! Aber ein nicht zu sühnendes Vergehen wäre es gewesen, aus einem solchen Spaß Ernst Zu machen und bürgerliches Element in das blaue Blut zu mischen. Die letzte Zweiflingen hatte mit bewundernswerthem Tact und Standesgefühl das Erniedrigende ihrer sogenannten Brautschaft begriffen und, vollkommen berechtigt, die Kette zerrissen, die sie hinabziehen wollte. Von dem, der darüber zu Grunde ging, sagte man einfach, im Hinblick auf die Motte, die sich an das strahlende Licht wagt und elend verbrennt: „Warum war er so einfältig!“ … Fluch, Fluch und ewigen Haß der ganzen Kaste, die Gottes Gebote und Absichten geradezu auf den Kopf stellt, die sich einen Thron baut aus zertrümmerten Menschenrechten und darüber hinaus in alle Welt ihr Banner flattern läßt mit der hohnvollen Devise: „Mit Gott und Recht.“

Der Portugiese stieß ein dumpfes, heiseres Hohnlachen aus, seine Rechte krümmte sich zur Faust und zuckte hoch in die Luft, als wolle sie mit einem zerschmetternden Schlag wieder niederfallen, während die Kiesel zu den Füßen des empörten Mannes umherstoben – diese kleinen, abgerundeten Steine glänzten in der Sonne und rollten flink und lustig weiter. … Waren nicht auch einstmals die blanken Kupferdreier der kleinen Gräfin Sturm über diesen Platz hingerollt? Und hatte nicht eine unbarmherzige Faust den armen, gebrechlichen Kindeskörper geschüttelt, in welchem ein mißverstandenes, barmherziges kleines Herz schlug? … Aus dem grüngoldenen Halblicht unter den Eichenwipfeln, umsprüht von den funkelnden Tropfen des Wasserstrahles, dämmerte ein Mädchenhaupt mit blond niederwallendem Haar empor, und die blaßrothen, unschuldigen Lippen sagten lächelnd: „Die schlimme Zeit liegt hinter mir.“

Die gehobene Faust des Portugiesen sank schlaff nieder, und seine Linke legte sich über die Augen. Er hörte nicht, wie drin das Musikstück, in welchem ein diabolischer Geist wühlte und sprühende Raketen auswarf, geschlossen wurde; er sah und hörte nicht, daß Frauengestalten an ihn heranschwebten und die feinen Lackstiefeln der Herren mit leisen Sohlen auf den Kies heraustraten. … Eine leichte Hand klopfte schmeichelnd auf die Schulter des „Träumers“.

„Nun, mein lieber Oliveira?“ sagte der Minister.

Der Portugiese fuhr bei dem Klang dieser Stimme empor und wich zurück, als sei die Hand, die ihn berührt, rothglühendes Eisen gewesen. Er stand plötzlich in seiner ganzen Majestät vor der „zutraulichen Excellenz“ und maß den schmächtigen Mann mit einem stolzen Bück von Kopf bis zu Füßen.

„Was wünschen Sie, Fleury?“ fragte er zurück, den Namen ohne jedwede Titelverzierung schwerbetonend.

Die Wangen Seiner Excellenz färbten sich mit einer fahlen, jäh aufflackernden Röthe, und die plötzlich entschleierten Augen, funkelten in maßloser Entrüstung; über die Gesichter der umstehenden Cavaliere aber glitt ein unverkennbarer Ausdruck von Schadenfreude: Sie sämmtlich waren Creaturen des Ministers; bei allem übermäßigen Dünkel auf ihre alten, aristokratischen Namen litten sie es doch stillschweigend, daß der allmächtige Minister ihre Standesattribute in seiner Anrede ignorirte, während sie die „Excellenz“ so ängstlich streng festhielten, wie die „Durchlaucht“ dem Fürsten gegenüber. Sie knirschten in den Zaum, und das Lächeln der Unbefangenheit wurde ihnen blutsauer, aber sie lächelten trotzdem – war doch Seine Excellenz in solch’ zutraulichen Momenten guter Laune und manchem stillen Wunsch zugänglich. … In diesem Augenblick aber hatte er seinen Meister gefunden – die Lehre war ihm zu gönnen.

Er machte ihnen übrigens nicht die Freude, seiner Verblüffung weiteren Ausdruck zu geben – Seine Excellenz bemerkte ja nie eine Niederlage, die zu strafen augenblicklich nicht in seiner Macht lag; er hatte die Antwort nicht verstanden und reichte mit bewunderungswürdiger Gelassenheit der sehr verlegenen Gräfin Schliersen den Arm.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 286. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_286.jpg&oldid=- (Version vom 22.8.2016)