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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

wo ihm das schöne Mädchen von Liebenstein begegnet war. Wenigstens fünf Mal kam er im Laufe des Nachmittags nach dieser Stelle zurück, warf sich auf den Rasen nieder und ließ das Bild des Mädchens mit solchem Entzücken an seinem geistigen Auge vorüberziehen, als ob er früher nie etwas so Schönes und Anmuthiges gesehen hätte. Am Sonntag-Morgen ließ ihn seine Ungeduld nicht so lange warten, bis die Kirche vorüber war; er ging selbst in die Kirche und war, trotz der ihm völlig fremdartigen Formen des Gottesdienstes, so andächtig, wie er lange nicht gewesen. Er hatte sich wohlbedächtig einen Platz ausgesucht, wo er seine schöne Waldnymphe bequem sehen konnte, allein er wagte kaum die Augen zu ihr aufzuschlagen, um nicht die Aufmerksamkeit der Andern zu erregen. Auch nach der Kirche hielt er sich in angemessener Ferne von ihr, um ihr möglichst unbemerkt in ihr Haus zu folgen. Der Weg führte sie am Curhause vorüber und hier wurde er durch eine Begegnung aufgehalten, die ihm unter anderen Umständen höchst willkommen gewesen sein würde, in diesem Augenblicke aber sehr störend war. Eine wohlbekannte Stimme scholl ihm in’s Ohr, seinen Namen rufend, und unter den mächtigen Kastanienbäumen vor dem Curhause her sah er seinen Onkel Dimitry auf sich zu kommen, der ihm entgegen rief: „Gottlob, lieber Junge, daß ich Dich endlich finde! Schon über eine Stunde bin ich in diesem langweiligen Neste umhergelaufen, um Dich zu suchen; ich komme direct von Rußland an und bringe Grüße und Briefe für Dich mit; thue mir jetzt den Gefallen und lasse uns ein bischen zusammen frühstücken, die lange Fahrt hat mich hungrig gemacht; beim Essen können wir gemüthlich miteinander plaudern.“

Dabei küßte er ihn nach russischer Sitte auf Stirn, Mund und Wange, war aber nicht wenig erstaunt, daß seine Zärtlichkeit nur geduldet, nicht erwidert wurde und daß überhaupt die Überraschung, die er seinem Neffen durch seinen Besuch bereitete, diesen mehr verlegen als freudig zu stimmen schien.

Der junge Fürst, den wir fortan Alexander nennen wollen, konnte trotz inneren Widerstrebens nicht gut umhin, seinem Onkel in das Curhaus zu folgen und sich von ihm erzählen zu lassen, was er Neues aus der Heimath zu berichten hatte. Nach einiger Zeit sagte der scharfblickende Onkel zu ihm: „Lieber Junge, Dir geht etwas ganz Anderes durch den Kopf, als das, wovon wir sprechen; sage mir aufrichtig, was Du hast, ich will Dich in keiner Weise geniren.“

„Ich war, als ich Dir begegnete, lieber Onkel, eben im Begriff, einen gestern angemeldeten Besuch abzustatten,“ stammelte Alexander in sichtbarer Verwirrung.

„Nun, dazu wird ja nach dem Frühstück wohl noch Zeit sein,“ warf Dimitry ein, „zum Besuchemachen ist es ohnehin noch etwas früh.“

Es entging dem Onkel nicht, daß trotz seiner beschwichtigenden Worte der Neffe immer noch wie auf Kohlen saß und mit seinen Gedanken ganz wo anders weilte, als beim Frühstück. Dem welterfahrenen Manne wurde es nicht schwer, herauszubringen, daß bei dem beabsichtigten Besuche seines Neffen das Herz stark im Spiele war.

„Sind schon viele Badegäste in Liebenstein?“ fragte er scheinbar gleichgültig.

„Nein, noch sehr wenige.“

„Hübsche Damen darunter?“

„Nein, gar keine.“

„Hast Du Dich mit den hier ansässigen Familien bekannt gemacht?“

„Nein.“

„Nun, was zum Teufel setzt denn Dein Herz so in Flammen?“ fragte Dimitry, einigermaßen ungeduldig werdend, „denn daß Du verliebt bist, steht Dir auf dem Gesichte geschrieben. Hast Du vielleicht mit einem hübschen Bauernmädchen ein kleines Verhältniß angefangen?“

„Aber, lieber Onkel …“ entgegnete Alexander unmuthig.

„Nun, was wäre denn das für ein Unglück? Etwas muß der Mensch doch haben, um sich in einem so langweiligen Neste die Zeit zu vertreiben.“

„Ich begreife nicht, was Dir hier so langweilig erscheint,“ erwiderte Alexander in der Absicht, dem Gespräche eine andere Wendung zu geben; „ich habe von Liebenstein immer als von einem der reizendsten Badeplätze Thüringens sprechen hören und habe Alles noch weit schöner gefunden, als ich erwartete. Diese reine, gesunde Luft, diese Baumgruppen, dieses frische, üppige Grün, diese waldreichen, anmuthig geschwungenen Berge und Höhen ringsumher, diese mannigfaltigen Abstufungen und Fernsichten –“

„Nun höre auf mit Deiner Naturschwärmerei,“ rief Dimitry, „ich habe die schönsten Gegenden der Welt besucht und mich darin gelangweilt, wenn ich nicht Menschen fand, die mir zusagten; und wo ich solche Menschen fand, da konnte ich alle Berge, Wälder, Hügel und Fernsichten entbehren. Ich brauche Aufregungen, Zerstreuung, Gesellschaft, Spiel – das giebt’s hier nicht und darum ist’s hier langweilig. Doch,“ fuhr er einlenkend fort, „Du wirst schon wissen, warum es Dir hier gefällt, und ich will Dich in Deinem Vergnügen durchaus nicht stören. Mein Aufenthalt hier sollte ohnedies nur von sehr kurzer Dauer sein und ich fühle gar keine Lust, ihn länger auszudehnen. Thue mir jetzt den Gefallen, Deinen Besuch zu machen; ich schreibe inzwischen einen Brief, dann kannst Du mich ein wenig umherführen und mit den Herrlichkeiten von Liebenstein bekannt machen, und beim Diner werden wir das Weitere besprechen. Es ist jetzt zwölf Uhr, ich denke, wir bestellen unser Diner gegen vier Uhr, da wird sich für Alles Zeit finden.“

Alexander war froh, endlich loszukommen, er machte sich sogleich auf den Weg, hatte aber Mühe, das Häuschen wieder zu finden, wo er seinen Besuch abstatten wollte, denn es standen mehrere kleine Häuser nebeneinander, die sich sammt den umgebenden Gärtchen auf’s Haar ähnlich sahen. Während er noch so umherspähte, ohne Jemandem auf der Straße zu begegnen, den er hätte fragen können, bemerkte er durch ein offenstehendes Fenster den nicht zu verkennenden Kopf des schönen Mädchens von Liebenstein, dessen Namen er bis dahin nicht einmal kannte. Ungesehen trat er durch das offene Gärtchen näher hinzu und sah, wie sie mit ihren Eltern bei Tische saß, eben im Begriff, das Tischgebet zu sprechen. Der Vater hatte sein Käppchen abgenommen, und alle Drei schauten mit gefalteten Händen andächtig vor sich hin, während die Suppe auf dem Tische dampfte.

Alexander, gerührt von dem erbaulichen Anblicke, wollte sich schon wieder zurückziehen, da es ihm unpassend schien, den guten Leuten gerade bei Tisch in’s Haus zu fallen, allein in diesem Augenblicke bemerkte ihn die Tochter des Hauses, ging auf das Fenster zu und bat ihn, hereinzutreten. Dieser Einladung vermochte er nicht zu widerstehen.

Die beiden Alten empfingen ihn mit einer ungezwungenen Höflichkeit, die ihn überaus wohlthuend berührte. Sie ließen sich beim Essen gar nicht stören, sondern baten ihn, bei ihnen Platz, zu nehmen.

„Marie, bring’ doch einen Stuhl herbei und einen Teller für den Herrn,“ sagte die Mutter, eine wohlerhaltene, noch sehr hübsche Frau von etwa vierzig Jahren, und trotz ihrer großen, auffallend klugen Augen von sehr gutmüthigem Ausdruck.

Marie hätte der Weisung der Mutter nicht bedurft, um Teller und Stuhl für den jungen Fürsten herbei zu tragen, der sich plötzlich als Gast an diesem Tische sah, ohne selbst recht zu wissen, wie er dazu gekommen war; nur Eines fühlte er deutlich, daß es ihm unmöglich gewesen wäre, der Einladung nicht zu folgen. Obgleich er noch nie unter so bescheidenen Verhältnissen gespeist hatte, fühlte er sich doch gleich ganz wie zu Hause und aß die Suppe, sowie die großen thüringischen Knödel (oder „Hütes“ wie man sie im Volksmunde nennt), welche das Mittagsmahl bildeten, mit einer Behaglichkeit, als ob er nie bessere Sonntagsspeise gekostet hätte. Nach Tisch wurde wieder ein kurzes Gebet gesprochen, und Marie sagte zum Fürsten:

„Wenn es Ihnen recht ist, gnädiger Herr, so wollen wir ein Bischen in den Garten gehen; mein Vater pflegt nach Tisch im Armstuhl hinter dein Kachelofen ein kleines Schlummerstündchen zu halten und ich möchte ihn darin nicht stören.“

Dem guten Alexander war in Mariens Gegenwart Alles recht; er folgte ihr in den Garten und fand ein ganz besonderes Sonntagsvergnügen darin, mit ihr, die etwas Brod mitgenommen hatte, über den Zaun weg die Hühner zu füttern, wobei er lächelnd bald sich, bald Marie, bald die Hühner ansah, gleichsam als wollte er sich überzeugen, daß er nicht träume, sondern wache. Darauf mußte er Marie in den Stall folgen, wo sie ihm, nicht ohne Stolz, zwei wohlgenährte Kühe und vier Ziegen als Viehbesitzthum des väterlichen Hauses zeigte. Auch für diese Thiere hatte sie etwas zu schnuppern mitgebracht, sie streckten ihr gleich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_274.jpg&oldid=- (Version vom 28.8.2016)