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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

No. 18.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Mädchen von Liebenstein.
Der Wirklichkeit nacherzählt von Friedrich Bodenstedt.


1.

Vor einigen Jahren gebrauchte die Stahlbäder von Liebenstein in Thüringen ein junger russischer Fürst von sehr einnehmendem Aeußern, liebenswürdigem Charakter und feiner Bildung. Er führte ein sehr zurückgezogenes Leben und befolgte die Vorschriften des Arztes auf das Gewissenhafteste, stand früh auf, nahm regelmäßig seine Bäder, mied alle größeren Gesellschaften, brachte den größten Theil des Tages in Berg und Wald zu und legte sich frühe schlafen. Er war schon Mitte Mai nach Liebenstein gekommen, um den Frühling in seiner ganzen Herrlichkeit zu genießen, und wurde dabei vom Wetter außerordentlich begünstigt. Eines Tages, als er, in Gedanken an seine ferne Heimath verloren, langsam durch den Wald schleuderte, der über den Feodorenplatz und das Felsentheater zu der alten, den Waldberg krönenden Ruine führt, welche dem Bade seinen Namen gegeben hat, hörte er plötzlich hastige Schritte hinter sich, unterbrochen durch eine sehr wohltönende Stimme, welche rief: „Gnädiger Herr, gnädiger Herr!“

Sich umdrehend, sah er ein hochgewachsenes, maienfrisches Mädchen auf sich zu kommen, das in der linken Hand einen großen Strauß Maiblumen trug und in der rechten Hand ein Taschentuch, welches sie ihm entgegenhielt mit den Worten: „Haben Sie nicht dies Taschentuch verloren, gnädiger Herr?“

Mechanisch nahm er das Taschentuch wieder zu sich und vergaß selbst der Ueberbringerin für ihre Mühe zu danken, so ganz verloren war er in dem Anblick der jungfräulichen Gestalt vor ihm. Die Maiglöckchen in ihrer Linken sahen aus, als ob sie zu ihr gehörten, als ob sie ihr aus der Hand gewachsen wären, so frisch und fühlingsartig war ihre ganze Erscheinung. Sie trug nach thüringischer Sitte ein turbanartig um den Kopf geschlungenes buntes Tuch, welches ihr üppiges dunkles Haar fast ganz verhüllte, die reine hohe Stirn aber frei ließ. Der hohe Hals war ebenfalls mit einem bunten Tuche umwunden, dessen Enden sich vorne in dem viereckigen Mieder verloren. Der kurze Rock ließ die hohe Gestalt etwas weniger groß erscheinen, als sie wirklich war, und zeigte dafür ein Paar nicht gerade ganz kleine, aber schlanke, hochspannige, wohlgeformte Füße.

Dem Russen kam das junge Mädchen, trotz seiner bäuerlich einfachen Tracht, fast wie eine überirdische Erscheinung vor. Er hatte kaum den Muth, sie anzureden, und faßte sich erst ein Herz, als sie, ohne seinen Dank abzuwarten, mit der größten Unbefangenheit, leichten Schrittes, weiter ging.

„Sie müssen mich für recht unartig halten,“ sagte er, sie rasch einholend, „daß ich Ihnen noch nicht einmal für Ihre Mühe gedankt habe, aber …“

„Was ist da zu danken?“ unterbrach sie ihn lächelnd; „ein verlorenes Taschentuch aufheben, ist keine Mühe.“

„Darf ich fragen, für wen Sie die Maiblumen gepflückt haben?“ sagte er bescheiden.

„Nur für’s Haus,“ antwortete sie freundlich; „es ist morgen Sonntag, und da sorge ich immer dafür, daß Blumen im Zimmer sind.“

Sie hatten in diesem Augenblick den Saum des Waldes erreicht, und es war, als ob ein gewisses Zartgefühl den Russen abhielt, das junge Mädchen in’s Freie zu begleiten. Auch war er unter dem Zauber ihrer Erscheinung in einer Befangenheit, deren er sich vergeblich zu erwehren suchte. Doch konnte er den Gedanken nicht ertragen, sich auf längere Zeit von ihr trennen zu müssen.

„Ihre Eltern leben noch?“ fragte er sie in treuherzigem Tone.

„Ja freilich!“ antwortete sie.

„Und würden es Ihre Eltern nicht mißdeuten, wenn ich Ihnen morgen einen Besuch machte?“

„Ei gewiß nicht! Warum sollten sie das mißdeuten? Sie werden uns morgen zu jeder Zeit willkommen sein; nur dürfen Sie nicht während der Kirche kommen, sonst würden Sie Niemanden zu Hause treffen.“

„Wann ist die Kirche?“

„Morgens von halb zehn bis elf Uhr und Nachmittags von zwei bis drei Uhr.“

„Und wo ist Ihr Haus?“

„Wenn Sie mit mir gehen wollen, will ich es Ihnen gleich zeigen.“

Er begleitete sie bis zu ihrem nicht fern gelegenen Häuschen und nahm dort mit einem herzlichen Händedruck, den sie ebenso herzlich erwiderte, von ihr Abschied, mit der Bitte, ihn für morgen bei ihren Eltern anzumelden.




2.

So lange hatte dem jungen Fürsten die Zeit nie gedauert, wie an diesem Sonnabend-Nachmittage, der seinem Sonntagsbesuche vorherging. Er ließ bei Tisch fast Alles unberührt passiren und besuchte gleich nach Tische die Stelle im Walde,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 273. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_273.jpg&oldid=- (Version vom 24.1.2021)