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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

No. 16.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


17.

Die junge Gräfin betrat einen der Waldwege, die Sievert als in das Arnsberger Holz führend bezeichnet hatte. … Mit einer immer wieder aufsteigenden Röthe der Scham und Verlegenheit betrachtete sie ihre schlanke, weiße Hand – sie war zum ersten Mal von Männerlippen berührt worden. … Sie fühlte sich heftig abgestoßen, ja, sie konnte sehr ungehalten werden, wenn irgend Jemand den gefeiten Kreis, den sie durch ihre Zurückhaltung um ihre Person festhielt, eigenmächtig überschritt – bei jeder anderen Gelegenheit hätte sie sicher die attakirte Hand ohne Weiteres in das Wasser getaucht – das war unterblieben – nicht einmal der Gedanke an eine solche „Entsühnung“ war ihr gekommen. … Wo war überhaupt in diesem Augenblick der scharf grübelnde Verstand, mit welchem sie sich gewöhnt hatte, alle Dinge in’s Auge zu fassen? …

Sie schritt nicht mit nachdenklich gesenkter Stirn dahin – nach den Wipfeln flog ihr Blick. Durch das Geäste strömte der kräftige Waldhauch, und wo eine kleine, blaue Himmels-Oase herein lugte in die goldengrüne Dämmerung, da zuckten auch glänzende Pfeile an den Stämmen nieder, um unten im kühlen, buntgefleckten Moos zu verlöschen.

War die hereinfließende Bläue da oben sonniger als sonst? Und hatten die Vögel, die über dem blonden Haupt des Mädchens kreisten, heute schönere Lieder in der Brust?

Es war dasselbe leuchtende, jubelnde Sommerleben, wie es seit Jahrtausenden wiederkehrt – und der Quell, der in diesem Augenblick hoch aufsprang in der ahnungslosen, jungen Seele, er war auch alt – so alt eben wie – die Liebe ist! …

„Ach, die schöne Welt - man sieht sie anders, wenn man – gesund ist,“ dachte die Wandelnde und legte die verschränkten Hände auf ihr klopfendes Herz.

Die Waldwiese war leer, als Gisela zurückkam. Nur der alte Lakai Braun war noch da. Er räumte das Geschirr in die Körbe und berichtete seiner Gebieterin, daß Seine Excellenz infolge eines erhaltenen Telegrammes mit den beiden Damen schleunigst nach dem weißen Schlosse zurückgekehrt sei.

Während er mit tiefgebogenem Rücken referirte, betrachtete Gisela die alte Gestalt zum ersten Mal mit prüfendem Blick. Sie wußte noch recht gut, daß er früher schwarzes Haar gehabt hatte – jetzt war es blendendweiß – er hatte sich allmählich unter ihren Augen verwandelt, ohne daß sie es je bemerkt. … Auch der Papa hatte viele weiße Fäden im Haupt- und Barthaar – sie dachte das völlig ungerührt, während die zwei silberglänzenden Streifen über den Augen und der Schnee auf dem Scheitel des Greises plötzlich eine Art von Mitgefühl in ihr hervorriefen.

„Lieber Braun, ich bitte Sie um ein Glas Milch!“ sagte sie – wie klang das fremdartig von ihren Lippen – sie schrak unwillkürlich davor zusammen – sie hatte ja nie gebeten! …

Der alte Lakai fuhr bei den sanften Lauten empor und starrte seiner Herrin fassungslos in’s Gesicht.

„Nun, ist alle Milch getrunken worden?“ fragte sie gütig lächelnd.

Der Mann lief, so rasch seine alten Beine vermochten, nach dem improvisirten Büffet und brachte auf einem silbernen Teller die begehrte Erfrischung.

„Denken Sie doch, Braun, ich weiß nicht einmal, ob Sie Familie haben,“ sagte die junge Dame und setzte das Glas an die Lippen – sie war verlegner in dieser neuen Situation, als wenn sie das ungewohnte Parquet des Fürstenhofes betreten hätte; denn der alte Mann stand vor ihr, wie wenn er erwarte, jeden Augenblick Himmel und Erde einstürzen zu sehen.

„O gnädige Gräfin, das wäre doch auch nicht der Mühe werth –“ stotterte er.

„Ich möchte es aber gern wissen.“

„Nun ja, wenn gnädige Gräfin befehlen –“ versetzte er ermuthigter, und seine zusammengesunkene Gestalt richtete sich empor. „Ich habe Weib und Kind. Zwei meiner Kinder leben noch – vier liegen auf dem Gottesacker. … Ich hatte auch ein Enkelchen – ein liebes, schönes Kind – gnädige Gräfin, das kleine Mädchen war meine ganze Freude –“

Dem allen Mann stürzte urplötzlich und unaufhaltsam ein Thränenstrom aus den Augen.

„Um Gotteswillen, Braun!“ rief das junge Mädchen bestürzt – wie, diese Augen weinten? … Dieses alle, in seiner Dienstmiene versteinerte Gesicht konnte so herzbrechend vergrämt aussehen?

„Nein, nein, bleiben Sie!“ gebot sie, als der Lakai, sichtlich, entsetzt über das despectirliche Hervorbrechen seines Schmerzes, sich entfernen wollte. „Ich will wissen, was Sie so tief betrübt!“

„Wir haben das Kind vor drei Wochen begraben,“ entgegnete

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_241.jpg&oldid=- (Version vom 24.1.2021)