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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

bezeichnet wird. Einer von seinen juristischen Helden, der immer auf ein dumpfhohlklingendes Schreibepult klopft und zu seinen Clienten sagt, das sei ihr Fels, auf den sie bauen können, und der hernach zum Sarge für den betrogenen Jüngling wird, ist echter Vertreter dieser Canzleijuristen. Mitten in den freundlichsten Straßen mit lachenden Fenstern fällt uns manchmal ein ganz verfallenes, gleichsam zerlumptes Haus auf, in welchem die Jungen nach und nach alle Fensterscheiben zerschmettert haben. Wenn wir fragen, warum das Haus so gespenstisch und hohläugig dastehe, erhalten wir immer zur Antwort: „It is in Chancery“. (Man streitet sich darum im Canzlei-Gerichtshofe.) Während des Processes, der früher oft halbe oder ganze Menschenalter dauerte, gehört es Niemandem und darf also nur von Fledermäusen und Spinnen bewohnt werden. Neuerdings sind einige Reformen in diesem Canzleigericht eingeführt worden, namentlich ein kürzeres Verfahren, aber im Uebrigen erben sich immer noch Gesetz und Rechte wie eine ewige Krankheit fort.

„Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage;
Weh Dir, daß Du ein Enkel bist!
Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
Von dem ist leider nie die Frage.“

Ja, die Gerichtshöfe sind, und nicht blos in England, oft nur Schlachthäuser des Rechtes, welches nach Arndt „in jedem Erdensohne fließt und in uns quillt wie Herzensblut“.

England ist allerdings insofern ein freier Staat, als Niemand durch Haß- und Verachtungsparagraphen und dergleichen Bestimmungen im Gebrauche seiner Meinungs-, Gedanken-, Schreibe- und Preßfreiheit gestört wird, aber desto schlimmer wirthschaften und wüthen Gesetze, Parteien und Gerichte über Mein und Dein. Das Canzleigericht gehört zu den verrufensten Anstalten dieser Art. Man sieht es diesen grimmigen, staubigen, verzerrten Gebäuden um den schönen grünen Platz des Lincoln’s-Inn-Feldes gleich an, daß sie weder guten Menschen noch guten Zwecken zur Herberge dienen können. Die großen Vorhöfe sehen so mürrisch auf das ärmliche Gras zwischen den Steinen herunter, die Mauern, Pfeiler und Stakete sind so verwittert und verrostet, daß es jedem guten Menschen bei diesem Anblick schon bange wird. Es liegt aber doch ein unheimlicher Reiz darin, wie in allem Grauenhaften. Selbst was nur grau vor Alter ist, ist ja oft schon dem Menschen heilig. Auch giebt es wirklich einen verschönernden Rost der Jahrhunderte.

Etwas der Art zieht uns an in diesen Mauern. Die ganze Ostseite des Platzes, eine Backsteinmauer mit schnörkelhaftem Thorweg und phantastischen Thürmchen auf Balustraden, dazu schweren, mit Eisenstäben und Bolzen mißtrauisch geschlossenen Thüren mit einem Wappenschildungethüm darüber, welches nur in einer vorsündfluthlichen Zeit gelebt haben kann, da es keiner gegenwärtigen Thiergestalt entspricht, sieht schon wie eine massive Abschreckung für das außerhalb vorüberströmende Leben aus. Nur der schöne, auch im Winter grüne Rasen auf dem Platze innen giebt uns Muth, ohne Furcht einzutreten und damit sind wir also in Lincoln's-Inn, dem Canzleigerichtshofe. Wir sehen auch gleich einen anderen grünen Platz vor uns, auf dessen linker Seite ein merkwürdiges Bauwerk von Backsteinen architektonisch an eine Kirche und Festung und für die Nase an irdische Herrlichkeiten des Essens erinnert. Befestigte Kirche zu einem Speisesaal verweltlicht – das ist gewiß charakteristisch und erklärt auch den Namen Inn (Wirthshaus).

Als nämlich noch die schnöden Advocaten des alten angelsächsischen gemeinen Rechts (Common Law) durch die Geistlichkeit von den Universitäten und den geistlichen Gerichten ausgeschlossen waren, bewilligte ihnen der König verschiedene Wohnsitze, die deshalb Inns of Court (Gasthäuser des Hofes) genannt wurden. Hier richteten sie sich zunftmäßig ein und sorgten natürlich vor allen Dingen für einen guten Speisesaal. Dieser bildet noch jetzt den Prüfstein für juristische Thätigkeit, insofern jeder Student dieser Zunftjuristen mindestens dreimal im Jahre hier gespeist haben muß, wenn ihm die Studienzeit angerechnet werden soll.

An dieser Halle vorbei schreiten wir gerade aus auf eine Reihe niedriger, klösterlich düsterer Gebäude, unter denen der eigentliche Canzleihof, wie wir ihn in der Abbildung sehen, fast den ganzen Raum im Vordergrunde einnimmt. Die Veranda desselben von steinernen Balustraden überragt, erinnert, wie die ebenfalls so geschmückten Dächer, an Festungsarchitektur der Normannen, wie diese nebeneinander aufgerichteten Steinplatten, vier bis sechs Zoll auseinander, den in England noch sehr häufig vorkommenden Baustil kennzeichnen. Im Mittelgrunde unseres Hofes und Bildes sehen wir die Kirchenkuppel und rechts das Thürmchen mit der Wetterfahne hervorragen.

Noch sonderbarer als die Bauten erscheinen uns die Menschen darin. Bei aller ihrer Geschäftigkeit und Erregung stehen sie oft in unheimlich lispelnden Gruppen und verrathen Qual und Angst in ihren Gesichtern. Die schwarzmänteligen Unholde mit ihren graugelockten Perrücken, scharfen Gesichtern und grausamen Augen entscheiden ja innerhalb der unheimlichen Räume umher über ihr Lebensglück, über Schätze, auf welche sie Anspruch machen, und über das Vermögen, welches sie noch besitzen; denn die Kosten müssen unter allen Bedingungen in ganzer Höhe und Masse bezahlt werden. Der Verurtheilte hat in der Regel nichts mehr, so daß der glückliche Gewinner bluten muß.

Ein ängstlich niedriger Gang führt uns in den zweiten, kleineren Canzleihof mit der im Tudorstil erbauten Kirche. Die kolossalen Pfeiler und Bogen, auf welchen sie ruht, beschatteten früher eine Promenade, jetzt einen vom rostigen Eisengitter eingeschlossenen Kirchhof für die Anwälte. Kirche und Kirchhof in dieser Festung der Juristenzunft? Wie antwortet man auf dieses Fragezeichen? Am besten damit: es ist eben englisch; gelehrte Abhandlungen darüber würden ebenso viel Raum als Anstrengung erfordern. Nur die Juristenzünfte und das zunftmäßig eingetheilte englische Recht bedürfen noch einer Erklärung. Es giebt in England ein von den Angelsachsen aus Deutschland eingebürgertes gemeines Recht (Common Law) mit allen den Rechtsgewohnheiten, welche aus der alten germanischen Freiheit hervorwuchsen. Es ist nicht geschrieben und deshalb das heilige Recht, welches in uns wie Herzensblut quillt. In Deutschland ist es durch tyrannisches römisches, dynastisches und hierarchisches Recht, in England durch Millionen von Paragraphen des statute-law, d. h. von Parlamentsbeschlüssen, vielfach verdrängt und überwuchert worden.

Das gemeine Recht ist meist nur noch geblieben, um Streitigkeiten über Mein und Dein zu entscheiden. Die Rechtsbestimungen dafür sind ursprünglich Sitte, Gebräuche und Zustimmung der freien Persönlichkeit. Aber im Laufe der Zeit wurden Erklärungen und Auslegungen der Richter zur Hauptsache und diese deshalb mehr oder weniger Despoten. Indem sich nun Richter und Advocaten immer wieder über das gemeine Recht erhoben und allgemeine Principien des Rechts zur Geltung brachten, entstand die dritte Art des englischen Rechts, das Billigkeitsgesetz (Law of Equity).

Die Eifersucht der Sachsen und Normannen nach dem Siege der letzteren vor mehr als achthundert Jahren gab der Geistlichkeit unter einer Reihe unfähiger Könige überwiegenden Einfluß auf weltliche Angelegenheiten. Endlich ward durch die magna charta, die constitutionelle Grundverfassung vom Jahre 1215, auch ein Rechtsboden gewonnen. Civilgerichtshöfe brauchten nun dem Hofe des Königs nicht mehr zu folgen, sondern konnten sich gewissermaßen als selbständige Geschäfte etabliren. In Folge davon entstand besonders das Oberlandesgericht (Court of common pleas) zu Westminster als Rechtsbollwerk gegen die Willkür der Geistlichkeit. Diese war freilich bedeutender Grundbesitzer und hatte zugleich die Universitäten in ihrer Gewalt, von denen sie die Jurisprudenz ganz ausschloß. Sachsen und Normannen mit dem ganzen Rechtsbewußtsein des Volks, gegen diese Geistlichkeit vereinigt, verschafften den Rechtsgelehrten die Mittel und die Macht, materiell und geistig befestigte Sitze der Rechtslehre und Gerichtshöfe in Form von Zünften und Innungen zu bilden. Dies war damals sehr vernünftig und nothwendig; aber „Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage“; und so haben sich diese besonderen Gerichtsinnungen mit ihren verschiedenen Arten von Recht und Gericht bis auf den heutigen Tag erhalten.

Die erste dieser Innungen bildete sich in dem vorher von Tempelherren bewohnten Ritterhofe an der südlichen Grenze der City bis zur Themse hinunter. Sie ist noch jetzt als Temple eine der interessantesten Merkwürdigkeiten und Schönheiten Londons. Der duftige, sonnige, stille Garten desselben mitten in dem betäubenden Geräusche Londons, der plätschernde Springbrunnen, der nackte Mohr mit der Sonnenuhr und die im classischen normännischen Baustil ausgeführte Kirche, das Anlernen, Lehren und

Leben darin ist schon oft in englischen und deutschen Büchern mehr

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_238.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)