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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

gelegt hat und seinen inneren Kern darlegen will! Es giebt einen Lyriker, den ich nicht nennen will – er ruht mit einem Lorbeerkranz im kühlen Grabe an der Elbe und eine seiner Gedichtsammlungen hat so eben die vierzehnte Auflage erlebt – wenn dieser „Novellen“ schrieb, so wurde auf jeder dritten Seite Kaffee gekocht.

Und meine Befangenheit und mein Kleinmuth will heute nicht aufhören. Denn in dem Convolut Zeitungen, das ihnen Edgar von seinem Casino mitbrachte, befanden sich auch die gelesensten Wiener Blätter, und nach den Recensionen, die Sie darin gefunden haben, brennen Sie vor Begierde auf Robert Hamerling’s „König von Sion“ (Hamburg, Richter), und ich besorge, auch hier, bald nach dem Beginn der Lectüre eines Heldengedichts von mehr als neuntausend Hexametern, begiebt sich etwas Unerfreuliches, zum Mindesten werden Sie mit Polonius im Hamlet, als dem Dänenprinzen ein Schauspieler die Zerstörung Troja’s vorträgt, den feurigsten Schwung der Rede und die erhabensten Bilder und Wendungen mit den Worten einer nüchternen Kritik unterbrechen: „Das ist zu lang –!“

Wir haben zwei unbedingte „Idealisten“ vor uns – Oscar von Redwitz und Robert Hamerling. Letzterer mag mir die Zusammenstellung mit dem Anwalt freiheitsfeindlicher Richtungen vergeben. Hamerling’s Seele glüht im heiligen Feuer der Hingebung an die großen Fragen der Menschheit, buhlt nicht mit der Gunst der Großen, leiht sein schönes, formgewandtes Talent nicht der Verherrlichung einer Romantik, die unter schimmernden Außenseiten von Poesie, unter Blumengewinden und „goldner Saiten Klange“ nur die gemeine, platte Reaction, Despotismus und Pfafferei vertritt.

Durch die Zeitungen ging die Kunde, der Sänger der Amaranth, welchen einst hochfürstliche Gönnerinnen nach Wien berufen hatten, um auf einem dortigen Lehrstuhl den Geist der Zeit, wozu er sich ausdrücklich erboten hatte, in Wissenschaft und Kunst zu bekämpfen, wäre in sich gegangen, bereute die Wege, die er früher gewandelt, und würde in diesem „Hermann Stark“ eine ernste Abrechnung mit seinem Jahrhundert und mit sich selbst halten. Ich habe aber in diesen drei Bänden vergebens nach einer Stelle gesucht, die jene Kunde wahr gemacht hätte. Denn die Reden, die der Advocat Stark hält, die Briefe, die Tagebücher, die er schreibt, gehen jenen allgemeinen Mittelweg der politischen Phrase, der uns übrig bleibt, wenn unsere Gesinnung nicht Fisch, nicht Fleisch ist. Advocat Stark will nicht Demokrat heißen, beileibe nicht, aber er will „verfassungsmäßiges politisches Leben“, „ein einiges Vaterland“ und ähnlichen Wortkram, der, in’s Praktische übersetzt, bei keiner einzigen Abstimmung die liberale Probe halten würde. Nur Entrüstung muß es wecken, einen Autor, der im Stande war, so die akademische Zeit zu durchleben, wie sie sein Held „Arminius Stark“ durchlebt, so die Lieder der Freiheit zu singen, so die Maienblüthe, den Jugendlenz deutschen Lebens durchzuschwärmen mit geschwungener bunter Mütze, mit bunten Bändern über die Brust, dennoch übergegangen zu wissen in die Reihen der Feinde des Zeitgeistes, ja aufgetreten gerade an einer deutschen Hochschule als öffentlicher Ankläger der Gefühle und Gedanken derselben jungen Generation, mit deren Seelenschwung er nun in edelster Begeisterung nach den Schilderungen dieses Buches mitgelebt haben will –!

Der Gegensatz des Idealismus und Realismus wurde ein besonders bezeichnender für die neuere deutsche Literatur. in die Sprache übersetzt, die Ihnen geläufiger sein wird, ist dies der Gegensatz zwischen einer künstlerischen, in unserem Falle dichterischen Schaffensweise, bei welcher ein Idealist die Gegenstände und Personen, die er schildert, den allgemeinen Schönheitsgesetzen näherzurücken sucht und sie mit erklärenden Lichtern umgiebt, während ein Realist sein Talent mehr im Erfassen und Wiedergeben des unmittelbaren Eindrucks und demnach so zu bewähren sucht, daß er Dinge und Menschen bis auf die täuschendsten Einzelheiten ihrer Natürlichkeit schildert. Das Wesen des Realismus, die Wahrheit, ist durch die Kritik der letzten Jahrzehnte mit besonderer Strenge betont worden und hat in der That den Ausschweifungen einer überfliegenden, die Maßstäbe zutreffender Richtigkeit allzusehr verschmähenden Phantasie ein lehrreiches Halt! geboten. Darüber ist man jedoch ebenfalls schon wieder einverstanden, daß beide Weisen, die reale und ideale, ohne einander nicht bestehen können.

Ein nackter Realismus, die baare und platte Darlegung der Wirklichkeit, wenn auch noch so charakteristisch, kann nicht befriedigen ohne Anknüpfung an diejenigen Empfindungen des Wohlgefallens und der höheren ästhetischen Befriedigung, von welchen in meinem vorigen Briefe gesprochen wurde. Sie kennen die Leistungen eines unbedingten Realismus in den Malereien des Franzosen Gustav Courbet, denen sich jetzt auch schon deutsche Leistungen, in München kürzlich ein Bild von Markart, zu nähern anfangen. Die Poesie ist vor den Gefahren dieser immer weiter zu gehen drohenden Anwendung des bei Shakespeare von den Macbethhexen ausgesprochen Satzes der Umkehr: „Schön ist häßlich, häßlich schön!“ durch den Umstand bewahrt, daß sie nicht das bestechende Material, die Farbe, besitzt, um die nackteste Natürlichkeit bei alledem einschmeichelnd darzustellen. Gegen eine Anerkennung des tiefen Zuges im Zeitgeiste, das gleichsam auf den Kopf gestellte Schöne zum Ausdruck des Einspruchs gegen die Voraussetzung, als wäre diese Welt die beste aller möglichen Welten, zu machen und hinter dem Zerrbilde eine Welt der Leere, der Trauer, der Unzufriedenheit, kurz dessen, was man Weltschmerz nennt, ahnen zu lassen, versperre ich mich bei alledem keineswegs.

Robert Hamerling hat sich leider in seinem Ihnen so anempfohlenen Gedicht nicht als ein Idealist gezeigt, der vom Realisten so viel mit aufgenommen hat, um ein Werk der vollkommenen Harmonie hervorzubringen. Die realistische Zuthat zu seiner im Ganzen phantastischen, wenn auch historischseinsollenden Schilderung ist an sich ausgezeichnet; sie bringt herrliche Schlachten-, Aufruhrs-, Naturbilder. Aber die lebendige Farbengebung derselben, ja die den Chroniken entsprechende Treue in diesen Partieen ersetzt nicht das Verfehlte der Hauptidee selbst. „Der König von Sion“ ist jener „Prophet“, den Sie aus Meyerbeer’s Oper kennen – bei Meyerbeer Alles in Allem ursprünglich ein Kellner, den die einem ersten Tenor geziemende Liebenswürdigkeit zur Zeit der Münster’schen Wiedertäuferunruhen (1534) zum König eines erträumten irdischen Sion, eines der nahen Wiederkunft Christi vorausgehenden Weltreiches macht. Hamerling hat aus Jân Bockelson von Leyden einen fahrenden Gaukler, Halbpoeten, Halbschauspieler gemacht. Freiholde nannte man im Mittelalter solche fahrenden Phantasten, Narren, Clowns besserer Art. Die Geschichte giebt dem Dichter dafür allerdings eine Anlehnung. Aber wäre er ihr nur ganz gefolgt! Welche phantastische Posse macht Hamerling aus einem Ereigniß der deutschen Geschichte, das so klar, so in allen Einzelheiten anschaulich vor uns steht!

Das Münster’sche Wiedertäuferreich hat sich von seinen ersten, aus den Kämpfen um die gereinigte christliche Lehre hervorgegangenen Anfängen an bis an das entsetzliche Ende, das es gefunden, so grell in die Annalen der deutschen Geschichte eingeschrieben, daß eine unrealistische Behandlung desselben, eine Idealisirung dieser so gräulich beirrten Menschen, die zwölf Frauen zu gleicher Zeit nahmen und diejenige, die ihnen Ursache zum Mißfallen gab, mit eigener Hand auf offenem Markte köpften, ein Verbrechen am Genius der Geschichte ist, der ohnehin ein poetischer Genius an sich ist und durch die Fortschritte unserer Geschichtschreibung auch in letzterer selbst immer mehr seine Schwingen entfaltet. Wo die Geschichte in so flammenden Zügen geschrieben hat, wo das Ende jener dem Psychologen und Dichter gewiß im höchsten Grade zu empfehlenden gräßlichen Episode des biederen deutschen Volkslebens ausgesprochen liegt in jenem noch jetzt zu sehenden eisernen Käfig am Lambertithurm zu Münster, in jenen eisernen Henkerinstrumenten, mit denen die Achtsexecutoren den König von Sion an allen Gliedern brennen, zerreißen, zerfleischen ließen, wie kann da ein Dichter kommen und uns eine Erfindung glaublich machen wollen von einem träumerischen Jüngling, der, von Zaubergewalten verführt, die Brust von Idealen gehoben, in eine Wirrniß des Lebens geräth, aus welcher ihm zuletzt eine phantastisch ersonnene Frauengestalt, dann der Dolch – des Selbstmordes heraushilft! Klio zeigt dabei auf ihre ehernen Tafeln, und alle ihre Schwestern liefern ihr den Dichter, als einen Verräther am Musenhain, gebunden aus.

Die Geschichte ist das größte Gedicht. Die Ereignisse, in ihren Urquellen erfaßt, die Thaten, in ihren Beweggründen erkannt, spotten alles Menschenwitzes, der sie erklären und auf seine Weise deuten will. Die Riesenharfe, die der Weltgeist spielt, hallt in so mächtigen Tönen wider, daß die Leiern aller Dichter wie Heimchentöne dahinschrillen im rollenden Donner. Wo sich

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