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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

eine Augenblick entsühnte ihre ganze liebeleere Vergangenheit, ohne daß sie es wußte – sie gab das tiefbefriedigende Recht der Wiedervergeltung auf gegenüber dem Mitleiden, der Barmherzigkeit.

Der Portugiese schien es anders aufzufassen – er griff rasch nach dem Kind, um es von ihrem Arm zu nehmen. Seine dunklen Augen hefteten sich durchdringend auf ihr Gesicht.

„Das schickt sich nicht für Sie, Gräfin Sturm!“ sagte er – wie schneidend klang die so oft gehörte Phrase aus diesem Munde! Seine Stimme hatte genau jenen eiskalten Klang mit der Beimischung von Hohn, wie vorgestern. „Sie halten Ihr Wort schlecht!“ fuhr er fort. „Ich hörte, wie Sie vorgestern versprachen, sich nie mehr in der Weise vergessen zu wollen. … Sie sind auf dem gefährlichen Weg der Verheimlichung – denn Sie können doch unmöglich im weißen Schlosse erzählen, daß Sie das Kind auf dem Arme gehabt haben!“

Er erinnerte sie an jenen schwachen Moment, wo sie sich der kleinen unschuldigen Gesellschaft im Kahn geschämt und mit ihrem Versprechen zugegeben hatte, daß sie die lieblosen Gesinnungen ihrer Standesgenossen theile. Er war ungesehener Zeuge gewesen; in der rücksichtslosen Art und Weise aber, wie er sie darauf zurückführte, trat seine ganze, von Frau von Herbeck betonte Feindseligkeit zu Tage, und das reizte die eben erst beschwichtigte Mädchenseele abermals zum Trotz.

„Ich werde meine Handlung zu verantworten wissen!“ entgegnete sie stolz und legte nun auch ihren linken Arm fest um das Kind.

Er trat zurück und bog sich wieder über die Frau. Seine Bemühungen blieben ohne Erfolg; er flößte ihr wiederholt Madeira ein und rieb ihre Hände und Schläfe mit einer starken Essenz, aber sie hatte jedenfalls zu lange Mangel gelitten – sie war unfähig sich aufzurichten und konnte noch immer vor Schwäche nicht sprechen.

Langes Besinnen schien nicht Sache dieses Mannes zu sein – er hob plötzlich die Leidende wie eine Feder vorn Boden auf und trug sie auf seinen Armen nach dem Waldhause.

Wie gewaltig, und doch wie leicht die majestätische Gestalt dahinschritt! Welch’ ein Unterschied zwischen ihm, der das Elend mit starkem Arm stützte und es barmherzig an seine Brust nahm, und dem Mann im weißen Schlosse! … Seine Excellenz sprengte ganze Salven luftreinigender Essenzen um sich her, wenn ja einmal ein „Individuum“ mit dem Stempel der Dürftigkeit in seine Nähe gerathen war.


16.

Nun stand Gisela doch wieder auf derselben Stelle, die sie vorhin entsetzt fliehend verlassen hatte. Sie war den voranschreitenden Männern stillschweigend gefolgt, gleichsam magnetisch angezogen durch die Augen der Frau, die zurückgewendet während der ganzen Wegstrecke unablässig auf ihr und dem Kinde geruht hatten. Die Leidende war in’s Haus getragen worden, und nun wartete die junge Dame unter ängstlichem Herzklopfen, bis Jemand kommen und ihr den Kleinen abnehmen würde.

Wie vortrefflich hatte sie sich in ihre Rolle gefunden! Sie zeigte dem Kinde das Aeffchen, den Papagei und trug es nach der Fontaine. … Das junge Mädchen mit dem durchsichtig herabfließenden, seeblauen Gewande, mit dem langwallenden, blonden Haar stand in seiner hinreißenden Lieblichkeit neben der funkelnden Wassergarbe wie die verlockende Brunnennixe selbst – erst mit dieser Erscheinung vollendete sich der Märchenzauber, der um das alte Waldhaus webte und wehte.

Endlich trat der Portugiese wieder auf die Terrasse, und die Haushälterin folgte ihm. Die Frau hatte offenbar keine Ahnung, bei wem sich das Kind befand, das sie holen sollte, und sprang bei Gisela’s Anblick ganz erschrocken die Treppe herab. Sie knixte tief und ehrerbietig.

„Aber, gnädige Gräfin, das ist doch wahrhaftig kein Geschäft für Sie! … Der schwere, schmutzige, kleine Kerl!“ rief sie in halbem Entsetzen und reichte hastig nach dem Kinde. Aber da kam sie schlimm an. Der Kleine schlug beide Aermchen um Gisela’s Hals und warf den Kopf abwehrend und schreiend zurück.

„Still, still, kleiner Schreihals!“ beschwichtigte die gute, dicke Frau ängstlich. „Deine arme Mutter erschreckt sich!“

Alle Bemühungen, das Kind vom Arme der jungen Dame zu locken, scheiterten. Der Portugiese war inzwischen auch die Treppe herabgesprungen – ihn schien das Wehren und Sträuben des Knaben in eine seltsame Aufregung zu versetzen – seine Augen loderten und hafteten selbstvergessen in leidenschaftlicher Unruhe, ja, mit einer Art von Ingrimm auf den kleinen Armen, die beharrlich und immer fester den zarten, weißen Hals umschlangen, während das Köpfchen sich tief in die blonden Haarmassen der jungen Dame wühlte.

Das südliche, jähzornige Naturell des Mannes kam plötzlich erschreckend zum Durchbruch – er stampfte leise mit dem Fuße auf und hob wiederholt die Rechte, als wolle er den kleinen Trotzkopf von dem jungen Mädchen fortschleudern und ihn wie einen Wurm zertreten.

Ueber Gisela’s Gesicht lief eine jähe Purpurröthe – sie sah mit einem schweren Blick nach dem Hause – es war unverkennbar, sie kämpfte mit sich selbst. Bei der heftigen Bewegung des Portugiesen jedoch drückte sie den Knaben beruhigend an sich.

„Still, mein Kind – ich bringe Dich zu Deiner Mutter!“ sagte sie mit entschlossener und doch so süß beschwichtigender Stimme und ging festen Schrittes über den Kiesplatz und die Treppe hinauf.

Sievert hatte den Auftritt von der Thür aus mit angesehen.

Als Gisela auf die Schwelle trat, blieb sie einen Moment vor ihm stehen. Sie hatte sich hoch und stolz aufgerichtet, aber in der Art und Weise, wie sie das schöne Haupt zu ihm hinneigte, kam die ganze kindliche Unschuld, das Jungfräuliche in ihrer Erscheinung hinreißend zum Ausdruck.

„Seien Sie unbesorgt,“ redete sie ihn mit leise zuckenden Lippen an. „Wenn mir auch das Unheil auf dem Fuße folgt, wie Sie sagen – in dem Augenblick hat es gewiß keine Macht, denn ich gehe den Weg der Barmherzigkeit.“

Der alte Soldat schlug, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben vor einem Menschen, die Augen nieder, während die junge Gräfin in die Halle trat.

Die nachfolgende Haushälterin öffnete eine Thür, die in das südliche Thurmzimmer führte. Da lag auf einem Feldbett, in sauberen, weichen Hüllen das arme Weib und streckte seinem Kinde angstvoll die Hände entgegen – es hatte jedenfalls sein Schreien gehört. Gisela setzte den Kleinen auf das Bett; dabei wurde ihre Hand mit schwachem Druck festgehalten – die Leidende zog sie an ihre müden, bleichen Lippen. Welch schweres Opfer ihr, dem armen, verachteten Weibe, in diesem Augenblick von der stolzen Hochgeborenen gebracht wurde, ahnte sie darum nicht.

Die junge Gräfin hatte von jener Sturmnacht, wo sie mit ihrem Stiefvater Zuflucht im Waldhause suchte, nur noch dunkle, unklare Vorstellungen – hatte man doch auch Alles gethan, die Erinnerung an den Vorfall in ihrer Seele zu unterdrücken. Sie erkannte das Zimmer nicht wieder – sie wußte nicht, daß sie in diesem Augenblick auf derselben Stelle stand, wo einst die unheimliche blinde Frau ihre kleine Hand ingrimmig von sich geschleudert hatte. Jener furchtbare Moment hatte mithin keine Gewalt mehr über sie. Gleichwohl fühlte sie das Herz von einer unerklärlichen Bangigkeit zusammengeschnürt.

Ihre Augen glitten scheu durch das Zimmer – es machte einen so düsteren, freudlosen Eindruck mit seinen tiefen, in klafterdicke Mauern eingebrochenen Fensternischen. … Alte, abgenutzte Möbel, wie sie im weißen Schloß kaum die Domestikenstuben aufzuweisen hatten, standen an den Wänden, und darüber hingen verblichene Pastellbilder in schwarzen Holzrahmen, Portraits mit schlichtem Ausdruck und in anspruchsloser, bürgerlicher Kleidung. … Hier hauste sicherlich der unheimliche alte Mann – dieser augenblicklichen Annahme widersprach jedoch eine sehr elegante goldene Uhr, die auf einer Kommode pickte, wie auch ein kleiner Tisch in einer der Fensternischen, der mit zierlichem Schreibgeräth bedeckt war.

Ueber dem Kopfende des Feldbettes wallte ein dunkler Vorhang, und er war es hauptsächlich, der so geheimnißvoll beklemmend auf das junge Mädchengemüth wirkte. Er schien offenbar mehr dazu bestimmt, profane Augen, als das verderbliche Sonnenlicht abzuwehren – bis in diese Ecke vermochte kein Strahl zu dringen. … Bei den Bemühungen um die Kranke war ohne Zweifel unabsichtlich an der niederhängenden Schnur des Vorhanges gezogen worden, er zeigte sich in der Mitte getheilt – es war ein schmaler Spalt, aber er genügte gerade, um zwei Augen in die Welt sehen zu lassen – zwei melancholische, von dunklen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_226.jpg&oldid=- (Version vom 15.12.2019)