Seite:Die Gartenlaube (1869) 220.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

ohne weitere Vorrede Platz nahm. Dann fixirte er mit scharfem Blicke die Anwesenden. In dem Saale entstand eine unheimliche, geraume Zeit andauernde Stille. In der Meinung, eine Rolle in Tausend und einer Nacht mitzuspielen, klappte ich mit innerem Beben meinen Nepos zu und wartete gespannt der Dinge, die da kommen würden. Der Pater L., denn Niemand anders war der eben Eingetretene, öffnete endlich ein kleines Gebetbuch mit reichem Goldschnitt und begann mit hohler Stimme ein höchst erbauliches, fünf bis sechs Seiten langes Gebet zum Heiligen Geiste vorzulesen, an dem die Anderen mit gefalteten Händen still theilzunehmen schienen. Nach Beendigung des Gebets verstattete der Jesuit seinen Zuhörern eine angemessene Pause zu ordnungsmäßiger innerer Verarbeitung des Vorgelesenen. Nachdem er dann kurz die Seminaristen begrüßt und einige einleitende Worte über die hohe Bedeutung und die segensreiche Wirksamkeit der Exercitien gesprochen hatte, begann er seinen ersten Vortrag: „Ueber das Ziel unseres Daseins“.

Durch die dreitheilige Rede wurde dargethan, daß der Mensch nur Gott leben solle, und daß wir die wahre Glückseligkeit nur in Gott und nicht in den werthlosen Gütern dieser Welt finden können. Er redete dabei trotz seiner harten, unheimlichen Stimme mit einer fast kindlichen Unbefangenheit, ja Naivetät, die nur zuweilen bei Androhung ewiger Strafen und beim Hinweis auf’s letzte Gericht in asketische Strenge überging, mit einer eigenthümlich gekünstelten Einfachheit, die auf den harmlosen Zuhörer einen tiefen Eindruck zu machen im Stande war. Dabei behielt er seine Schüler immer im Auge, verfolgte mit Aufmerksamkeit die Eindrücke seines Vortrages, wußte, wenn er zu viel gesagt zu haben schien, einzulenken, wenn er zu milde gesprochen hatte, das Höllenfeuer wieder zur hellen lichten Flamme anzufachen.

Pater L. war eben Jesuit, gehörte jenem Orden an, dessen erstes Ziel es ist, der Menschen Herzen zu ergründen, ihnen ihre schwachen Seiten abzusehen, sich ihnen unentbehrlich zu machen und sie dann zu sich hinüberzuziehen, um sie zum Besten der Gesellschaft Jesu ad majorem Dei gloriam zu verwerthen. –

Daraus entstanden der große Einfluß und die hohe Bedeutsamkeit des Jesuitenordens.

Auf das empfängliche Gemüth der meisten in streng katholischen Gegenden geborenen und theilweise von ultramontan gesinnten Eltern erzogenen Alumnen machte dieser Vortrag, wie jeder folgende, einen tiefen Eindruck, und als der Pater nach vollendetem Vortrag sich entfernte, blieb jeder in stillem Nachdenken auf seinem Platze sitzen, überlegte das eben Gesprochene und nahm sich, durch die plausiblen Gründe des Paters überzeugt, vor, seinen Geist von den Dingen der Welt abzulenken, Gott allein zu lieben, ihm zu dienen und dadurch die ewige Seligkeit zu erlangen. Nur ich, der ich eben erst aus einer echt protestantischen Gegend nach X. übergesiedelt und noch von freierer Weltanschauung und Duldsamkeit in Religionssachen angeleckt war, vermochte mich nicht recht in den asketischen Vortrag des Jesuiten zu finden, und da ich mir überhaupt bisher über religiöse Dinge nie viel den Kopf zerbrochen hatte, so weilten meine Gedanken bald wieder, statt bei Gott, in der kurz verlassenen Heimath.

Die Tagesordnung wurde genau befolgt. Der Pater hielt außer dem vorher erwähnten noch zwei Vorträge an diesem ersten Tage der Exercitien, von denen der eine über die Seele, der andere von der Abscheulichkeit der Sünde, nach der Vernunft betrachtet, handelte. Dazwischen wurden Gebete und Stücke aus Thomas a Kempis vorgelesen, es wurden Rosenkranzandachten gehalten, es wurde Miserere gesungen und das Gewissen erforscht. Letzteres Geschäft war in seiner Art das komischeste. Man versah sich mit einem sogenannten Beichtspiegel, in dem alle nur erdenklichen Sünden gegen Gottes- und Kirchengebote sorgfältig verzeichnet waren. Alle Fehltritte, die der Mensch in seiner Sündhaftigkeit nur begehen kann, sind von frommen katholischen Geistlichen, wahrscheinlich mit gesträubtem Haar, darin gesammelt und einem sündigenden Publico zur geneigten Benutzung beim Beichten zur Verfügung gestellt worden. In diese Sündenregister vertieften sich nun während der drei Heilstage die Seminaristen, und kamen sie an eine Sünde, der auch sie durch ihre menschliche Schwäche erlegen waren, so notirten sie dieselbe genau, mit Angabe aller be- und entlastenden Nebenumstände, sowie der Anzahl der etwaigen Wiederholungen. Der Eine schrieb zitternd nieder: „ich habe an einem Sonntag den Tanzboden besucht“ und für sein Seelenheil besorgt in Parenthese dahinter: „Gott verzeihe mir die Sünde!“ – ein Anderer: „ich bin öfters während der Predigt unaufmerksam gewesen“, und so sammelte sich bei Manchem ein mit Sünden eng beschriebener halber Bogen an, so daß man sich unwillkürlich versucht fühlte, dem Beichtkinde zu rathen, lieber gleich den ganzen gedruckten Beichtspiegel in den Beichtstuhl mitzunehmen. Auch ich schrieb mir so ziemlich den ganzen Beichtspiegel ab, mit Ausnahme der Capitel, die von Mord, Todtschlag, Räuberei, Diebstahl, Brandstiftung, Meineid, Ehebruch, Polygamie und andern Sünden handelten, zu deren Begehung dem schlichten Seminaristen sowohl die nöthigen Mittel, als auch die Gelegenheit und die höhere Intelligenz fehlten.

Es sollte nach Beendigung der Exercitien nämlich eine Generalbeichte abgelegt werden, d. h. die Beichtenden sollten sich noch einmal aller ihrer seit der Geburt oder der letzten Generalbeichte gethanen Sünden entledigen. Wenn man bedenkt, daß der Gerechteste im Tage sieben Mal fällt, ferner, daß junge Leute von vierzehn bis zwanzig Jahren nicht gerade zu den Gerechtesten zu zählen pflegen, so wird man leicht beurtheilen können, welche Unmassen von Sünden an diesen Tagen von den im Seminar befindlichen dreißig Zöglingen zu Papier gebracht und nachher gebeichtet wurden. Auch kann man sich nicht wundern, wenn mancher der Sünder am dritten Tage der Exercitien von irgend einem asketischen Geistlichen anderthalb bis zwei Stunden im Beichtstuhl aufgehalten und ihm eine Levitenpredigt gehalten wurde, in der ihm der Priester die meisten seiner Fehltritte als abscheuliche, die Hölle oder im besten Falle nur eine erkleckliche Reihe von Jahren Fegefeuer nach sich ziehende Frevelthaten darstellte. Ebenso wird die Freude erklärlich sein, welche um sich griff, als die Beichtprocedur zu Ende geführt und jeder seine Sünden los geworden war. Natürlich gab man diese Freude für eine christliche, durch die endliche, gründliche Reinigung der Seele herbeigeführte aus, wenn sie auch bei Manchem, vielleicht bei Allen, in dem endlichen Schluß des Exercitiums und dem glücklich vollbrachten Beichtbekenntnisse begründet war.

Doch ich greife vor. –

Der zweite und dritte Heilstag verlief genau wie der erste. Immer von Neuem rollten die Perlen der Rosenkranzschnuren durch die Finger der Alumnen, von Neuem ertönte des Abends der einförmige Misereregesang, begleitet von dem nervenbetäubenden Gequiek eines in der Capelle aufgestellten Unicums von Musikinstrument, das – wohl nur aus Ironie – Orgel genannt wurde, aber nur ein zweifelhaftes und noch dazu defectes Halbgebilde von Harmonium und Leierkasten war. Wieder nahm ein rothhaariger, heimtückischer, dabei aber sehr frommer älterer Alumne, der zugleich Küster und Factotum in der Anstalt sowie der Urtypus eines rechten Seminaristen war, ein altes, abgegriffenes Exemplar des Thomas a Kempis oder die Philothea des heiligen Franz von Sales zur Hand und las mit langweiliger, eintöniger Stimme Abschnitte daraus vor, wobei die übrigen, die Hände über den Schooß gefaltet, mit gesenktem Blicke dasaßen und meistentheils die bekannte blitzschnelle Umdrehung der beiden Daumen um einander übten, ein Manöver, welches dem Nachdenken sehr förderlich sein soll.

Während der Zeit, welche nach der Tagesordnung zum „Nachdenken über den Gewissenszustand“ angewandt werden sollte, setzte man sich an sein Pult, stützte das Haupt gedankenschwer auf beide Hände, sah erst die Wand, dann die Zimmerdecke, darauf die Stiefeln, resp. Hausschuhe genau an, kaute dann an den Nägeln und ließ zur Abwechslung, vielleicht von drei zu drei Minuten, einen vernehmlichen Seufzer hören. Welchen Ausdruck tiefster Frömmigkeit kann man nicht in einen einzigen Seufzer legen! Der Herr Präses Hochehrwürden verstand es, besonders schön und fromm zu seufzen. – Die „freie Zeit“ wurde, da man während der drei Exercitientage nicht sprechen durfte, mit Lesung irgend eines frommen Buches ausgefüllt.

Pater L. hielt an den beiden letzten Tagen noch sieben Vorträge und zwar folgende:

Von der Abscheulichkeit der Sünde nach den historischen Strafen,
Von den Qualen der Hölle,
Betrachtung über den Tod,
Betrachtung über das Gericht,
Von der Barmherzigkeit Gottes,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 220. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_220.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)