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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

im sogenannten niederen Volke einen solchen glücklichen Instinct der Sprache und eine solche naive und starke Kraft, neue Wörter zu bilden und die vorhandenen in neuer Weise zu brauchen, daß er erstaunt; denn unter Gebildeten ist diese Gabe weit weniger häufig.

So kann es geschehen, daß der Leser des Wörterbuchs sich vor der Fülle desselben im Allgemeinen arm, vor einzelnen Stellen aber doch zugleich reicher fühlt, da er im Stande ist, aus seinem eigenen Leben heraus Lücken auszufüllen und Berichtigungen zu liefern. Jeder mag hier Wohlbekanntes vermissen, aber wäre der Umfang des Werkes auch dreimal so groß, dieselbe Erscheinung würde sich zeigen, so lange die deutsche Sprache als lebensvolle Fluth durch fast fünfzig Millionen Seelen strömt.

Das Wörterbuch hat den Anklang gefunden, den es verdient. Schon lange war der Mangel eines solchen Spiegelbildes unseres nationalen Sprachschatzes fühlbar; denn Adelung’s deutsches Lexikon, verdienstlich zu seiner Zeit, mußte in der unseren als vielfach ungenau und unvollständig erscheinen; berücksichtigte es doch, abgesehen von anderen schweren Mängeln, nicht einmal unsere größten Dichter. Da das Wörterbuch der Brüder Grimm die höhere Aufgabe verfolgt, ein Bild von der Entwickelung und dem gewaltigen Umfang unserer Sprache und damit unserer ganzen zu Wort gewordenen Bildung zu geben, so ist das Werk nicht nur ein Buch für den engen Kreis der Gelehrten, sondern ein werther Hausfreund für die Gebildeten aller Stände geworden. Tausenden hat es Rath und Belehrung in Sachen der Sprachverwendung gespendet. Tausende haben bei der einfachen und leichtfaßlichen Darstellung, welche die Geschichte der einzelnen wichtigen Wörter und die Bildung ihrer Ableitungen hier gefunden hat, beim Durchlesen vieler Artikel sogar anziehende Unterhaltung gefunden.

„Deutsche geliebte Landsleute,“ so schließt Jakob Grimm seine Vorrede zum ersten Bande, und so ruft uns der große Todte noch heute aus seinem Grabe zu, „welches Reichs, welches Glaubens ihr seiet, tretet ein in die euch allen aufgethane Halle eurer angestammten, uralten Sprache, lernet und heiliget sie und haltet an ihr, eure Volkskraft und Dauer hängt in ihr. Noch reicht sie über den Rhein in das Elsaß bis nach Lothringen, über die Eider tief in Schleswig-Holstein, am Ostseegestade bis nach Riga und Reval, jenseits der Karpathen in Siebenbürgens altdakisches Gebiet. Auch zu euch, ihr ausgewanderten Deutschen, über das salzige Meer gelangen wird das Buch und euch wehmüthige liebliche Gedanken an die Heimathsprache eingeben oder befestigen, mit der ihr zugleich unsere und eure Dichter hinüberzieht, wie die englischen und spanischen in Amerika fortleben.“

Wir haben nichts hinzuzufügen. Gab es je ein Werk, welches die verschiedenen deutschen Stämme sich im Geist als Brüder erkennen und lieben läßt, so ist es dieses Nationalwerk, und war je eine Zeit, welche Ursache hat, mit herzlicher Theilnahme auf diese Hinterlassenschaft der Brüder Grimm zu blicken, so ist es die unsere.




Nachtseiten von London.

Sociale Skizze von J. H.
1.
Gepflastert mit Gold. – Die Londoner Docks und ihre Arbeiter. – Zahl der Londoner Diebe. – Organisation derselben. – Diebesschenken und Diebestheater. – Diebesschulen. – Arbeitstheilung und verschiedene Classen der Diebe. – Eine Versammlung jugendlicher Diebe. – Professionsmäßige Bettler und Landstreicher.

Keine Stadt der Welt ist reicher als London, aber auch keine birgt solche Tiefen des Elends in sich. Wie der Besitz maßlos ist, so ist es auch die Armuth. Im Munde des englischen Landvolks heißt es, daß die Straßen von London mit Gold gepflastert seien, und genau unterrichtete Kenner der Verhältnisse versichern, daß, wenn man den Totalreichthum der Stadt berechne, er zu einer so großen Summe ansteige, daß man die ganze Ausdehnung der fast zweitausend Meilen Pflaster, welche die Straßen und Gassen zusammen ausmachen, größtentheils mit Gold belegen könnte. Kostet doch dieses Steinpflaster allein schon nicht weniger als 14 Millionen Pfund, d. i. 168 Millionen Gulden. Dazu halte man die unermeßlichen Summen, welche die Herstellung der unterirdischen Gas- und Wasserleitungen, die über neunzehnhundert Meilen weit sich erstrecken, und der Cloaken verschlang, die ebenfalls Hunderte von Meilen unter London sich verzweigen, und man wird zu dem Schlusse kommen, daß jeder Quadratfuß Erde, den hier das Volk mit seinen Füßen tritt, kostbar ist. Wie hoch aber auch immer der Reichthum sich aufhäufen mag, vielleicht könnte er doch den Abgrund des Elends, der sich hier öffnet, nicht ausfüllen. Von den etwa drei Millionen, die gegenwärtig London bewohnen, befindet sich weitaus mehr als ein Dritttheil in der allerkläglichsten Dürftigkeit.

Die düstere, schmutzige und schwermüthige Romantik der verrufenen Winkel, in welcher diese zum Theil unheimliche Bevölkerung haust, hatte für mich einen dämonischen Reiz, und ich glaubte, ohne sie London nicht gesehen zu haben; daher war es mein Vorsatz, nachdem ich an der schimmernden Seite desselben mich übersättigt hatte, auch das Kehrbild aufzusuchen und in jene ein paar Streifzüge zu unternehmen. Ich fand lange keinen Gefährten dazu, und so führte mich zuerst der Zufall allein in einige dieser Gassen, als ich die Themse hinab zum Tunnel, der in der Nähe der Londoner Docks liegt, gefahren war. Schon im Tunnel selbst, der seinem Verfall entgegen zu gehen scheint, kam es mir nicht besonders heimlich vor. Eine von seinen beiden Straßen war versperrt, sie ist vielleicht ungangbar; die gangbare aber war nur auf kurze Strecken dürftig von einigen Gasflammen erleuchtet, die vor ein paar geöffneten Verkaufsläden brannten; der weitaus größte Theil derselben, namentlich gegen Süden, Rotherhithe zu, lag ganz in Dunkel gehüllt.

Außer mir promenirten hier nur noch ein paar Frauenspersonen, und so nahm sich der Ort für einen Raubanfall sehr einladend aus. Als ich aus dem Tunnel wieder herausgestiegen war, kam ich, mir einen Weg zum Tower suchend, allmählich in ein Gassenlabyrinth mit elenden, meist einstöckigen Häusern, an deren Thüren gewöhnlich in Lumpen gehüllte Weiber mit Kindern auf dem Arm standen und hinter deren Fenstern, die zum Theil erblindet, zum Theil auch verpappt waren, sich alte verkümmerte Gesichter zeigten. In den Gassen selbst trieben sich schmutzige und halbnackte Kinder herum. Hie und da begegnete mir ein verdächtiger Bursche, der mir in den Weg trat und mich fixirte; dann aber auch wieder rasch dahinwandernde Männer, denen man ansah, daß sie beschäftigte Arbeiter seien. Es war, wie ich aus dem Stadtplan entnahm, die Pfarrei St. George in the East, in der ich mich befand, einer der dichtbevölkerten und ärmsten Theile der Stadt. Während in London durchschnittlich nur fünf Häuser auf einen Morgen Landes kommen, sollen hier dreiundzwanzig auf einem stehen. Die Bewohner sind meistens Docksarbeiter, Säckemacher, Bootführer und solche, die ihren Lebensunterhalt an der Themse finden, Alles sehr arme, aber, wie ich später hörte, größtentheils ehrliche Leute.

Die Arbeiten in den Docks gehören zu den alleranstrengendsten und gewähren den Meisten, die sich ihnen unterziehen müssen, ein höchst unsicheres Brod. Man braucht dafür nichts gelernt zu haben, auch kein bestimmter Charakter ist notwendig; Alles, was gefordert wird, sind kräftige Muskeln, denn es müssen Lasten transportirt werden. Diese Arbeiten versammeln Menschen von allen Lebensaltern, Berufskreisen, Nationen und Himmelsstrichen: abgehauste Gewerbsleute, ehemalige Zolleinnehmer, alte Matrosen und Seeleute, politische Flüchtlinge, herabgekommene Gentlemen, entlassene Beamte, suspendirte Geistliche, freigewordene Sträflinge, Knechte, bekannte Diebe, kurz Jeden, der essen muß und sich auf andere Weise nicht den geringsten Lebensunterhalt schaffen kann oder will. Diebe, welche vorher hier vergeblich Arbeit gesucht haben, werden, wenn sie hernach wieder auf ihrem Handwerk ertappt werden, milder abgeurtheilt, weil man annimmt, sie hätten ihr Brod gern ehrlich verdient. Denn nicht jeder, der sich zu diesen Arbeiten erbietet, findet sie auch schon; gegen und auch über dreitausend Menschen treffen täglich an dem Thore der Londoner Docks ein, aber nur vier- bis fünfhundert sind ständig engagirt, die übrigen können

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_200.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)