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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


Souveränen anerkannte Reichsverfassung als eine zu Recht bestehende Errungenschaft zu betrachten, für welche jeder gute Deutsche nöthigenfalls mit Gut und Blut einstehen müsse.“ So kam es, daß er wegen verschiedener ihm zur Last gelegter Handlungen bezüglich der Revolution zu Dresden als Hochverräther zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe in Eisen verurtheilt wurde. Was er in den Gefängnissen zu Leipzig, Hubertusburg und Waldheim durchlebt und beobachtet, das hat er in einem Buche niedergelegt (Aus dem Gefängnißleben, Leipzig 1860), welches durch den in mildester Form gebotenen reichen Stoff von dauerndem Werthe nicht nur für Beurtheilung der einschlagenden politischen Verhältnisse oder der Gefängnißverwaltung ist, sondern auch dem späteren unbefangenen Geschichtschreiber grelle Streiflichter in Bezug auf den Stand der Humanität in den jüngsten Reactionsjahren bieten wird; ja, wir glauben nicht zu viel zu sagen, wenn wir das in Rede stehende Buch einen ergreifenden Beitrag zur Geschichte der Cultur oder wenigstens der Civilisation nennen. Es genüge, daß wir eine einzige Thatsache daraus anführen: der Schriftsteller Oelckers bekam seinen Platz als Wollreiniger in der Kämmerei angewiesen zwischen einem Mordbrenner und einem Raubmörder! –

Das Auftreten Oelckers’ im öffentlichen wie im Privatleben trug stets und überall das Gepräge des männlich Bewußten, einfach Würdigen, Selbstlosen, Ehrenhaften. So hat er auch die Züchtlingsjacke getragen, so seine Beobachtungen mit überlegenem Bewußtsein aufgezeichnet. Körperlich fast erliegend blieb sein Sinn ungebeugt, und als man von oben her das Ansinnen an ihn stellte, um Begnadigung zu bitten, sagte er: „Für uns schickt sich nicht, wessen andere sich nicht scheuen. Die höchste Aristokratie versteht sich zu Zeiten zur niedrigsten Volksschmeichelei, und wieder zu anderen Zeiten scheut sie sich nicht, patriotische Gesinnungen als verbrecherische zu bezeichnen. So ist es leider immer gewesen. Für uns andere aber ist nur anständig, uns unter allen Umständen streng gleich zu bleiben, an die Sache, die wir vertreten, stets zuerst, und an unser persönliches Wohl und Wehe stets zuletzt zu denken.“

Am Abend vor Pfingsten des Jahres 1859 wurde er endlich, weil man den kranken Mann doch nicht im Zuchthause sterben lassen wollte – nach zehnjähriger Haft – der Freiheit wiedergegeben; aber auch diese hat ihm nur wenig Blumen geboten. Im Jahre 1861 begab er sich nach Porto Alegre in Brasilien, wo ihm ein Comité der dortigen Deutschen auf Gerstäcker’s Vorschlag die Leitung der „Deutschen Zeitung“ übertragen hatte. Auch hier setzte er den Kampf gegen die Finsterniß und Tyrannei, namentlich gegen die dortigen Jesuiten fort; er gelangte indeß bald zu der Ueberzeugung, daß der Erfolg bei den dortigen Verhältnissen nicht der aufgewendeten Kraft entspräche, und kehrte nach Europa zurück (1862).

Mannigfache Erlebnisse, deren Schilderung sich der Oeffentlichkeit entzieht, bestimmten seinen ohnehin dem lauten Treiben abholden Sinn, sich mehr und mehr in kleine Kreise von Freunden zurückzuziehen. In diesen wußte man aber die stille, harmlose Heiterkeit seines Wesens, der sich häufig ein Zug von Ironie und satirischem Humor beimischte, wohl zu schätzen und übersah willig die kleinen Eigenheiten beim Hinblick auf seinen biedern, treuen, verlässigen, echt deutschen Charakter. Wie er gelebt und gewirkt, ruhig, unerschrocken, unerschütterlich fest, so ist er auch gestorben. An einem der ersten Novembertage des vorigen Jahres trat er in das Redactionszimmer der Gartenlaube und sagte in derselben schlichten Weise, als handele es sich um einen Artikel für die Zeitschrift: „Ich will nun sterben gehen, die Zeit ist da!“ Und als ihm der Redacteur dieser Blätter erschrocken bemerkte, mit dem Sterben habe es noch Zeit, sagte er fast herb: „Ich bin kein Kind, lieber K., und auch kein altes Weib, das sich vor dem Tode fürchtet. Ich weiß, wie es mit mir steht, und wollte Sie nur bitten, mit dem Gelde, das ich Ihnen bringe, die Bedürfnisse für die letzten Monate meines Lebens zu decken. Ich werde das Geld nicht ganz aufbrauchen.“ Er hat’s wirklich nicht aufgebraucht, denn acht Wochen später lag er bereits auf der Todtenbahre. Zu einem Freunde, der ihn auf dem Krankenlager besuchte, sagte er lächelnd: „Ja, wenn man’s nur voraus wüßte, daß der Tod Einem plötzlich käme, so könnte man sich dessen doch wenigstens im voraus freuen!“ So schaute er ruhig auf sein Leben, gelassen dem Tode entgegen. Mit Recht konnte an seiner Gruft das Wort ausgesprochen werden: „Wenn er etwas beschloß, führte er es aus; wenn er etwas that, war es das Rechte und er that es recht. Das Eine sagt Alles: Jeder Zoll ein deutscher Mann!“ K. A.     




Die kleinen italienischen Straßenmusikanten in Paris. Man sieht in Paris eine Menge italienischer Kinder, Knaben und Mädchen, mit elenden Geigen und Harfen versehen, alle Straßen durchbetteln. Während der jüngsten Ausstellung sollen über sechstausend dieser Kinder ihr trauriges Gewerbe in Paris betrieben haben. Nun hat sich zwar seit jener Zeit die Zahl derselben sehr vermindert, indessen treiben sich ihrer doch noch so viele herum, daß man ihnen auf jedem Schritt und Tritt begegnet. Sie kommen aus Piemont, aus dem Kirchenstaat, aus den Abruzzen. Auf welche Weise haben sie den weiten Weg von ihrer Heimath nach Paris zurückgelegt? Wer hat ihnen den freilich sehr dürftigen musikalischen Unterricht ertheilt? Wie viel wirft lhnen ihr Gewerbe ab und wer theilt mit ihnen den Gewinn? Diese Fragen lassen sich sehr erschöpfend beantworten.

Ein Impresario, auf Französisch „Patron“ genannt, durchstreift von Zeit zu Zeit die italienische Halbinsel, und wo er auf eine arme Familie stößt, wirbt er die Kinder, deren die Eltern gern los sein möchten. Er unterhandelt mit diesen, und ist man Handels einig, so läßt der Patron den Kindern die nöthige musikalische Bildung geben, wenn sie nicht schon, wie es meistens der Fall ist, bereits auf der Geige und Harfe einige Melodien kratzen und kneifen können. Hat er einen Trupp von zehn bis zwölf Kindern beisammen, so macht man sich auf den Weg. Der Patron schreibt die Marschroute vor, zahlt die ersten Kosten und streicht täglich die Einnahme ein. Diese vertheilt er zu gleichen Theilen unter die jungen Künstler, nachdem er für sich zwei Theile eingesteckt. Damit aber die Kleinen nicht faulenzen, sind sie genöthigt, jeden Abend mindestens dreißig Sous heimzubringen. Sie wohnen, oder vielmehr sie schlafen im Quartier Moufetard und zahlen für ihre Schlafstätte drei Sous die Nacht. Das ist aber auch ungefähr die einzige Ausgabe, die sie zu bestreiten haben, denn Kost und Kleidung wissen sie sich zu erbetteln, und Wäsche brauchen sie leider nicht. Sobald der Morgen graut, verlassen sie ihr Lager und zerstreuen sich in alle Theile der Hauptstadt. Die Polizei hat zwar ein Auge auf sie, sie haben aber auch ein Auge auf die Polizei, und sobald sie einen Sergeant de Ville wittern, nehmen sie schnell Reißaus.

Ist die Zeit ihres Engagements zu Ende, so wird dasselbe entweder erneuert, oder sie kehren mit der gewonnenen Summe nach der Heimath zurück, wenn sie es nicht vorziehen, auf eigene Rechnung andere Städte heimzusuchen. Man ist oft und sehr heftig gegen die Werber aufgetreten, welche ein solch’ absonderliches Geschäft mit diesen Kindern treiben, allein diese Patrone sind doch noch weniger verdammungswerth als die Eltern, die ihre Kinder auf die eben erzählte Weise verschachern und dieselben in die Welt hinausschicken, um sie allen Lastern preiszugeben. Die Kleinen gewöhnen sich nicht nur bald an die Bettelei mit Musikbegleitung, sie wissen auch schnell durch Lug und Trug das Mitleid des Publicums zu erregen, und nur wenige von ihnen suchen im reiferen Alter den redlichen Gewinn. Gar manche werden auch durch den Tod hinweggerafft, den sie sich durch die schlechte Nahrung, mangelhafte Bekleidung, Unreinlichkeit und üble Gewohnheiten zuziehen. Es ist entsetzlich, zu denken, wie viel Arbeitskräfte, wie viel Talente, ja wie manches Genie in diesen Kindern erstickt wird! So lange indessen den Eltern das Recht zusteht, über ihre Kinder wie über eine Waare zu verfügen, wird die Presse vergebens gegen den furchtbaren Mißbrauch ankämpfen.




Die Lebensversicherung auf der ganzen Erde. Ludwig Walesrode hat im Jahrgang 1865 der Gartenlaube bei Gelegenheit seiner Schilderung von Arnoldi’s großem Bürgerwerke in Gotha über die Bedeutung des Instituts der Lebensversicherung so Belehrendes gesagt, daß unsere Leser sich gern eine etwas starke Zahlenreihe werden vorführen lassen, um dadurch einen Ueberblick über die Größe des bis zum Jahre 1868 erzielten Gesammtresultats der Lebensversicherung auf der ganzen Erde zu gewinnen. Theils nach amtlichen statistischen Erhebungen, theils nach sorgfältigen Schätzungen beträgt die Zahl der Capitalversicherungsanstalten sammt dem versicherten Capital in preußischen Thalern: in Großbritannien und Irland 170 mit 3000 Millionen, in den Vereinigten Staaten von Nordamerika 55 mit 1800 Millionen, in Frankreich 16 mit 415 Millionen, in Deutschland (worunter hier das Territorium des ehemaligen deutschen Bundes zu verstehen ist) 34 mit 350 Millionen, im übrigen Europa 25 mit 200 Millionen, und in der gesammten übrigen Welt 30 mit 250 Millionen.

Zeigen uns schon diese Zahlen, wie weit wir Deutschen in der Benutzung dieser so äußerst heilsamen volkswirthschaftlichen Anstalten – und folglich auch im Verständniß derselben – hinter Engländern und Nordamerikanern zurückstehen, so wird uns selbst eine Gleichstellung mit den Franzosen verwiesen, sobald wir die kolossale Gesammtversicherung von mehr als 6000 Millionen Thalern auf die Bevölkerung der betheiligten Territorien uns repartirt denken. Darnach kommt von der Gesammtbevölkerung versichertes Capital auf den Kopf in Großbritannien und Irland bei 30 Millionen 100 Thaler, in den Vereinigten Staaten bei 32 Millionen 56,25, in Frankreich bei 38 Millionen 10,92, in Gesammt-Deutschland bei 50 Millionen nur 7 Thaler! Wenn auch das übrige Europa und die übrige Welt ein noch geringeres Verhältniß ergiebt, so ist das ein schlechter Trost für uns, die auf ihre Volksbildung so stolzen Deutschen, auf diesem praktischen Gebiet wieder einmal so gar unpraktisch dazustehen.

Die älteste Lebensversicherungsanstalt ist 1706 in der Amicable Society oder Perpetual Assurance auf Gegenseitigkeit gegründet. Die Engländer besaßen bereits fünfzehn Versicherungsanstalten, da 1829 La Compagnie d'assurances générales sur la vie in Paris auf Actien in’s Leben gerufen wurde; das erste derartige Institut auf deutschem Boden war „die allgemeine Versorgungsanstalt in Wien“, die im Verein mit der ersten österreichischen Sparcasse auf Gegenseitigkeit gegründet wurde. Gleichwohl war der Anfang schwach, und erst in Gotha wurde 1827 mit der „Lebensversicherungsbank für Deutschland“ ein Löwe geboren. Desto langsamer war die Nachfolge, denn solcher Löwen könnte das große deutsche Volk ein paar Dutzend brauchen. Am nächsten dem Gothaer Löwen scheint die Leipziger „Teutonia“ zu stehen, die sich, wie jener, soeben auch ihren eigenen Palast bauen will.

Die neueste Schrift über diesen hochwichtigen Gegenstand, ein „Theoretisch-praktisches Handbuch der Lebensversicherung“ von dem Professor W. Karup in Dresden, erscheint soeben bei Albert Fritsch in Leipzig und sollte von jeder Gemeinde angeschafft und zur möglichst allgemeinen Belehrung öffentlich aufgelegt und erklärt werden. H.     




Berichtigung. In dem in Nr. 7 unsers Blattes unter den „Blättern und Blüthen“ enthaltenen Artikel „Ein neuer Tenor im Werden“ bitten wir anstatt „Warda“ Wurda lesen zu wollen.

Die Redaction.     



Inhalt: Reichsgräfin Gisela. Von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Bilder aus dem Schwarzwald. IV. Im Thale von Gutach. Mit Abbildung. – Ein Schwingfest im Berner Oberland. Von Max Wirth. – Literarische Briefe. An eine deutsche Frau in Paris. Von Karl Gutzkow. II. – Wild-, Wald- und Waidmannsbilder. Von Guido Hammer. Nr. 29. Winterjagd. Mit Abbildung. – Blätter und Blüthen: Das harte Brod des Locomotivführers. – Von einem Zuchthäusler. – Die kleinen italienischen Straßenmusikanten in Paris. – Die Lebensversicherung auf der ganzen Erde. – Berichtigung.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_176.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)