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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

weisen. Diesmal blieben Wald und Waldhaus beisammen. Eines Tages wurden die Zweiflingen’schen Ahnen und die Hirschköpfe sorgfältig verpackt, aufgeladen und nach A. gefahren, wo ihnen im stolzen Ministerpalais ein besonderer Saal eingeräumt worden war. … Dann kamen Handwerker und renovirten, das alte, baufällige Waldhaus – zu welchem Zwecke, das wußte Niemand. Die neuen Schlösser und Fensterladen wurden nach Vollendung der Arbeiten verschlossen und verriegelt, und nur dann und wann ließ der Generalbevollmächtigte lüften.

Der Minister kam selten nach Arnsberg, aber wenn es einmal geschah, dann – so erzählte man sich – zog er verstohlen die Vorhänge der Fenster zu, die nach Neuenfeld sahen. … Er hatte bei Verkauf des Eisenwerks, das, zuletzt sehr lau betrieben, dem Staat nahezu eine Last geworden war, nicht geahnt, daß es in „solch ungeschickte“ Hände fallen werde. … Diese sogenannte Mustercolonie da drüben war ein vollständiger Hohn auf sein Regierungssystem – unter seinen Augen entwickelte sich der verderbliche Geist der Neuerung, den er am liebsten mit Feuer und Schwert vertilgt hätte. …

Seine Excellenz hielt die Zügel noch genau so stramm, wie vor elf Jahren; in neuerer Zeit jedoch hatte er sein Regierungsprogramm um Eines erweitert: er unterstützte nachdrücklich religiöse Bestrebungen, und es begab sich nun allsonntäglich, daß von den Kanzeln der Segen des Himmels auf seine weisen Maßregeln und sein „Gott wohlgefälliges Regiment“ herabgefleht wurde. … Und die Staatsmaschine war so gut eingeölt und ging so vortrefflich, daß der Fürst des Abends sein Haupt auf das Kopfkissen legte, ohne je von dem Gespenst der Regierungssorgen belästigt zu werden, während sein Minister alljährlich einige Monate zu seiner Erholung auswärts leben konnte. Baron Fleury brachte diese Zeit meist in Paris zu. Als letzter Sproß einer im Jahr 1794 emigrirten französischen Adelsfamilie hatte er selbstverständlich noch viel Anhänglichkeit an die alte Heimath – aber es lagen auch noch andere Gründe vor, wie er sich stets sehr aufrichtig ausließ. … Liegende Gründe besaß er freilich nicht mehr in Frankreich – sie waren nach der Flucht seiner Familie confiscirt worden, und trotz der heftigsten Reklamationen seines Vaters, welcher, infolge der vom ersten Consul Bonaparte ertheilten Amnestie, auf kurze Zeit nach Frankreich zurückkehrte, unwiederbringlich verloren. Dagegen fand der Geflüchtete nach so langer Zeit wunderbarerweise sein gesammtes Baarvermögen wieder. Die Fleury hatten ganz plötzlich, mitten in der Nacht, vor heranziehenden Sansculotten und den eigenen aufrührerischen Gutsangehörigen flüchtend, ihr altes Stammschloß verlassen müssen. Das allmählich und vorsichtig eingezogene Baarvermögen befand sich wohlverpackt in einem Schlupfwinkel des Kellers, mußte jedoch Zurückbleiben. Die wilden Haufen zerstörten das Schloß, entdeckten jedoch den Schatz nicht, den später ein alter, treuer Diener, der ehemalige Gärtner, unbemerkt in seine Wohnung zu retten wußte. Und als dann der zurückgekehrte Fleury zähneknirschend am Gitterthor seines ehemaligen Parkes stand und nach dem neuerbauten Schloß hinübersah, das ihm nicht mehr gehörte, da kam ein alter, halb kindisch gewordener Mann, küßte schluchzend seine Hand und führte ihn in den Keller seines ärmlichen Häuschens vor eine Reihe kleiner Geldfässer, an deren Inhalt auch nicht ein Sou fehlte. … Diese Gelder hatte sein Vater wohlangelegt in Frankreich, wie der Minister oft beiläufig erwähnte, und sie waren es, die sein häufigen Reisen nach Paris nöthig machten.

Was für ein kolossales Vermögen mußte das sein! Der Minister machte einen wahrhaft fürstlichen Aufwand, vorzüglich seit seiner zweiten Vermählung. Seine Einkünfte in Deutschland, so bedeutend sie auch sein mochten, waren dem Verbrauch gegenüber doch nur „ein Tropfen auf einen heißen Stein“, wie der Volksmund sagte. Natürlicherweise gab dieser ferne goldene Hintergrund Seiner Excellenz einen ganz besonderen Nimbus, und es schien fast, als bekleide er seinen hohen Posten fort und fort lediglich aus Hingebung für seinen Durchlauchtigsten Freund, den Fürsten.

Das weiße Schloß sah also, wie gesagt, seinen Besitzer selten; deshalb stand es aber doch nicht ganz verwaist. Die junge Gräfin Sturm bewohnte ihr nahegelegenes Gut Greinsfeld und kam oft, in ihrer Vorliebe für Arnsberg beharrend, auf Monate herüber. Freilich schien dann jedesmal das Schloß zwiefach umgürtet in vornehmer Unnahbarkeit; denn die junge Dame war streng in Standesvorurtheilen erzogen und zudem von Kindheit an so leidend, daß sie in förmlich klösterlicher Zurückgezogenheit ihr junges Leben verbringen mußte. In ihrem sechsten Jahre war sie infolge eines heftigen Schreckens von einem Nervenübel befallen worden. Diese Krankheit nahm insofern einen bedenklichen Charakter an, als sie bei jeder Gemüthsbewegung wiederkehrte, und da die Aerzte schon vorher einstimmig erklärt hatten, daß die Constitution des Kindes unhaltbar sei, so gehörte die kleine Reichsgräfin Sturm in den Augen der Welt bereits zu den Todten, und der Minister wurde stillschweigend beglückwünscht, denn er war der Universalerbe des Kindes.

Aerztlicher Verordnung zufolge wurde die Kleine in die Greinsfelder Gebirgsluft gebracht. Man umgab sie mit allem Glanz und Comfort, die ihre hohe Lebensstellung erheischte, aber auch mit der tiefsten Einsamkeit, welche nur Frau von Herbeck, ein Arzt und eine Zeit lang ein Religionslehrer theilten. Für die Bewohner von A. erlosch das junge, dem sicheren Tod verfallene Dasein bereits mit dieser Uebersiedelung, und die Dorfleute in Arnsberg und Greinsfeld sahen das bleiche Gesichtchen auch nur flüchtig hinter den Glasscheiben des vorüberrollenden Wagens, oder wenn es ihnen gelang, einmal scheu durch den streng abgeschiedenen Schloßgarten zu huschen. Nicht einmal in der Kirche hatten sie den Genuß, ihre kranke Herrin mit Muße betrachten zu können, denn sie wurde, als von katholischen Eltern, auch im katholischen Glauben erzogen und betrat das protestantische Gotteshaus niemals.

So verging ein Jahr um das andere, deren jedes nach menschlichem Dafürhalten eine Gnadenfrist war für die hinwelkende Menschenknospe. … Die Herren Mediciner hatten wichtig den Finger an die Nase gelegt und eine Prognose gestellt, an der kein Gott rütteln konnte – und aus dem prophezeiten Tod und Moder stieg fast urplötzlich eine Lilie empor und sah lächelnd dem Leben in’s sonnige Antlitz. – – – –

Da, wo das ehemalige Zweiflingen’sche und das Arnsberger Waldgebiet zusammenstießen, lag ein hübscher, kleiner See. Er gehörte noch in das Weichbild des weißen Schlosses, aber die Buchen, die seinen westlichen Saum bestanden, waren bereits Vorposten des Nachbarreviers.

Die heiße Julisonne brannte senkrecht über dem Gewässer; glatt, wie eine goldene Tafel lag sein Mittelpunkt da – nur bisweilen zitterten leise Schwingungen vom Ufer her und gruben krause, wunderliche Charaktere – vielleicht ein Gedicht des Waldes – in die Fläche. Der Wasserring aber, über welchem das Ufergebüsch und die verschränkten Eichen- und Buchenäste hingen, war dunkel und geheimnißvoll wie der Wald selbst. … Und auf dieser gründämmernden Bahn zog leise ein Kahn hin. Das Ruder reichte hinaus in die sonnendurchleuchtete Fluth und hinterließ, leicht einsinkend, eine schmale, blitzende Furche; manchmal verschwand es – dann drehte sich der Kahn und fuhr auf das Land auf.

Ein Mädchen saß am Ruder, und auf der schmalen Bank ihr gegenüber hockten drei Kinder, zwei Knaben und ein allerliebstes, kleines, blondköpfiges Mädchen. Die Kinder sangen aus voller Brust, mit glockenhellen Stimmen:

„Ich hab’ mich ergeben
Mit Herz und mit Hand
Dir, Land mit Lieb’ und Leben,
Mein deutsches Vaterland!“

Der Kahn saß fest und schwankte nicht mehr, und da ließ es sich noch einmal so schön singen über den See hinüber und zwischen die ernsthaften Waldbäume hinein.

Das Mädchen am Ruder hörte schweigend zu. Hinter ihr durchschnitt ein sanft emporsteigender, moosbewachsener Weg das Dickicht, und der Wald that sich tief auf in seiner grünen Finsterniß. Auf die Kindergruppe fiel noch ein Hauch des goldenen Tages draußen – das blonde Haar des kleinen Mädchens flimmerte, und die Knaben, die nach dem See hinaussangen, hielten die Hand schützend über die Augen. Die junge Schifferin aber saß tief im grünen Dämmerlicht, nur über ihre Kniee hin legte sich ein blasser, durch das Blätterdach zuckender Goldstreifen wie ein reichgewirkter Tunica-Saum, und die perlmutterweiße Stirn umkreiste traumhaft ein blauschimmerndes Stäbchen – eine verirrte Libelle.

Die Kinder schwiegen und horchten mit angehaltenem Athem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_147.jpg&oldid=- (Version vom 18.9.2021)