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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Auf dem Neuenfelder Kirchhof, neben dem Grab der blinden Frau, wurde der Hüttenmeister in die Erde gebettet; man hatte den Körper des Verunglückten eine halbe Stunde von Neuenfeld entfernt im Weidengebüsch hängend gefunden. … Das Gerücht ging, auch der Student sei ertrunken, denn er war spurlos verschwunden seit der unglückseligen Nacht – „zu seinem Glücke“, sagten die Leute im weißen Schlosse. Sie erzählten in tiefster Indignation, welch’ schreckliche Dinge der verabscheuungswürdige „Demagoge“ Seiner Excellenz in’s Gesicht gesagt – und daß dieses schauderhafte Verbrechen eine eclatante Sühne verlangt hätte, war selbstverständlich. …

Ein Jahr nach diesen Ereignissen, genau zu der Zeit, wo auf dem Grab des Hüttenmeisters die Primeln und Schneeglöckchen ihre schuldlosen Augen aufschlossen, stand ein Brautpaar am Altar der Schloßcapelle zu A. … Auf den Emporen drängten sich die Damen des Adels und der höchsten Beamtenkreise, und sämmtliche Glieder des Fürstenhauses waren anwesend.

Schuldloses Weiß umfloß die Glieder der Braut – weiß war der prachtvolle Spitzenduft über der glitzernden Atlasschleppe und weiß der Orangenblüthenkranz in den dunklen Locken, und das Antlitz leuchtete wie der kalte, unberührte Marmor durch das Helldunkel der Kirche – in den Augen aber loderte Triumph Haltung und Gesichtsausdruck entbehrten völlig den veilchensüßen Hauch bräutlicher Scheu und Demuth; kein „Engel“, wohl aber das schönste Weib stand dort, das die Hand begehrlich nach Glanz und hoher Lebensstellung ausstreckte.

Der mit Orden bedeckte Bräutigam war Baron Fleury, fürstlich A’scher Minister, und neben ihm stand die fürstliche Hofdame Jutta von Zweiflingen, „Tochter des Freiherrn Hans von Zweiflingen und Her Adelgunde, geborenen Freiin von Olden“.

„Tadelloses Vollblut, Durchlaucht!“ flüsterte die Oberhofmeisterin der Fürstin mit dem Lächeln tiefster Befriedigung zu und verneigte sich glückwünschend bis zur Erde.


10.

Seit dem Tod des Hüttenmeisters waren elf Jahre verflossen. … Wäre – wie ein frommer Wahn annimmt – der abgeschiedene, unsterbliche Menschengeist wirklich verurtheilt, in ewig beschaulicher Unthätigkeit auf die alte irdische Heimath herabzusehen, dann hätte der Verstorbene, dessen Herz so warm und treu für seine bedürftigen Landsleute geschlagen, die tiefste Genugthuung empfinden müssen beim Anblick des Neuenfelder Thales.

Das weiße Schloß freilich lag noch so unberührt von Zeit und Wetter auf dem grünen Thalgrunde, als sei es während der langen elf Jahre von einer conservirenden Glasglocke überwölbt gewesen. … Da sprangen die Fontainen unveränderlich bis zu dem wie in den Lüften festgezauberten Gipfelpunkt, und ihr niederfallender Sprühregen ließ die Lichter des Himmels als Gold- und Silberfunken auf der beweglichen Wasserfläche der Bassins noch immer unermüdlich tanzen. Die Bosquets, die Lindenalleen, das grüne Gefieder der Rasenplätze verharrten pflichtschuldigst in den Linien, die ihnen die künstlerische Hand des Gärtners vorgeschrieben. Auf den Balcons leuchtete das unverblichene Federkleid der Papageien – sie schrieen und plapperten die alten, eingelernten Phrasen – und im Schlosse flüsterten und huschten die Menschengestalten mit gebogenem Rücken und scheu devotem Fußtritt genau wie vor elf Jahren. Und sie waren wie hineingegossen in ihre Kniehosen und Strümpfe, und auf den blankgeputzten Rockknöpfen prangte das adelige Wappen, das den freigeborenen Menschen zum „Gut“ stempelte.

Um all’ diese wohlconservirten Herrlichkeiten aber legte sich das ungeheure Viereck der Schloßgartenmauer, leuchtend weiß, sonder Tadel – es war ein streng behütetes Fleckchen Erde, konservativ, unverrückbar stillstehend in den einmal gegebenen Formen, wie die Adelsprincipien selbst.

Mit diesem wohlverbrieften Stillstand contrastirte grell das neue Leben jenseits der Mauer. In tiefen, mächtigen Athemzügen erbrauste es und schwenkte seine grauen Fahnen weithin, selbst bis über das weiße Schloß, wo ihre Enden lustig in der vornehmen Luft zerflatterten – die Industrie in gewaltigem Aufschwunge war zwischen den stillen Bergen eingezogen.

Vor sechs Jahren hatte der Staat das Hüttenwerk veräußert – es ging in Privathände über und nahm sofort Dimensionen an, die sich bis dahin Niemand hatte träumen lassen. Mit fabelhafter Geschwindigkeit breitete sich ein kolossales Etablissement auf der Neuenfelder Thalsohle aus. Da, wo ehemals die Esse des Hochofens einsam in die Lüfte ragte, dampften jetzt vierzehn Fabrikschlote; mit der Eisenindustrie war eine Bronzegießerei verbunden worden. In früheren Zeiten lieferte das Werk nur sehr primitive Eisenfabrikate, jetzt aber gingen die herrlichsten Kunstgußartikel in die Welt.

Der riesige Gebäudecomplex, in welchem es rastlos hämmerte und pochte und wo geformt und gegossen, geschmiedet und gefeilt, bronzirt und geschwärzt wurde, füllte nahezu den Raum zwischen dem ehemaligen Hüttenwerk und Dorf Neuenfeld aus; das Dorf selbst aber war nicht wieder zu erkennen. … Der gewaltige Betrieb beanspruchte viele Hände; das alte Arbeitspersonal war verschwindend klein, – da kamen die Bedürftigen und Unbeschäftigten der Nachbarorte, und wie durch einen Zauberschlag verschwand das Gepräge der Noth und des Elends, das der reizenden Gebirgsgegend bis dahin einen unheimlichen Zug verliehen hatte. … Man hätte fast annehmen mögen, der neue Besitzer habe bei seiner Schöpfung einzig und allein diesen Zweck im Auge gehabt, denn es wurden sehr hohe Löhne gezahlt, und die Sorgfalt für das Wohl der Arbeiter zeigte sich unermüdlich thätig; allein der Unternehmer war ein wildfremder Mann, ein Südamerikaner, der, wie man erzählte, nie einen Fuß auf europäischen Boden gesetzt hatte. Er war und blieb unsichtbar, wie eine Gottheit hinter den Wolken, und wurde durch einen Generalbevollmächtigten, ebenfalls einen Amerikaner, vertreten. … Somit zerfiel der Glaube an eine außergewöhnlich humane Bestrebung, und das Ganze galt „für eine überseeische Speculation, der man noch viel Unkenntniß der deutschen Verhältnisse ansehe“.

Man schrieb es jedenfalls auch auf Rechnung dieser „Unkenntniß“, daß die Neuenfelder Lehmhütten mit ihren papierverklebten Fenstern und geflickten Schindeldächern verschwunden waren – „sie hatten ja bis dahin vollkommen ausgereicht für die Bedürfnisse dieser Leute, es war kein Einziger darin erfroren.„ … An ihrer Stelle erhoben sich jetzt schmucke, zweistöckige Häuser mit rothem Ziegeldach und hellgetünchten Wänden, und an diesen Wänden rankten sich wohlgepflegt Kletterrosen und die wilde Rebe empor und flochten Guirlanden um die Fenster. Der Gartenfleck aber, der ein Haus von dem anderen trennte und der sich auch noch schmal vor der Straßenfronte hinstreckte, zeigte am deutlichsten, daß Geschmack und Sinn für das Zierliche keineswegs das Monopol der gebildeten Welt sind – unter dem Druck der Noth und Armuth schlafen sie nur. … Das ehemals so öde Stück Gartenland durchliefen jetzt saubere, mit weißblühenden Federnelken oder Buchsbaum eingefaßte Kieswege, und Obstbäume und Gemüsebeete zeugten von sorgfältig pflegenden Händen. Einst hatte nur die plumpe Scheibe der Sonnenrose über den verwilderten Zaun genickt, nun aber waren die Rabatten bestreut mit veredelten Blumen, und die Stachelbeerumzäunung hatte einem zierlichen, hellangestrichenen Staket weichen müssen. Und die knorrigen Linden, die als traute Cameraden der alten Schindeldächer so viel Noth und Kummer miterlebt hatten, klopften lustig an die neuen, blinkenden Fensterscheiben und beschatteten ein behagliches Kiesplätzchen und eine Gruppe weißer Gartenmöbel zu ihren Füßen.

Der unsichtbare Mann in Südamerika mußte ein wahrer Crösus und, wie die harmlosen Neuenfelder Leute sich ausdrückten, „viel, viel reicher als ihr Landesherr“ sein, denn er hatte nicht allein ihnen, sondern auch seinen Arbeitern in den Nachbarorten, die neuen Wohnungen gebaut. Das vorgestreckte Capital wurde ihnen in verhältnismäßig sehr geringen Summen vom Wochenlohn abgezogen, so daß sie in den Besitz gesunder und stattlicher Wohnhäuser kamen, fast ohne zu wissen wie. Der Unsichtbare hatte auch eine Volksbibliothek, eine Pensionscasse und noch andere segensreiche Anstalten gegründet, und so zogen die Intelligenz und der Fortschritt wie auf Sturmesflügeln in Regionen, die, tief zu Füßen des weißen Schlosses liegend, doch „von Rechtswegen und bis an das Ende aller Tage“ in den wohlverbrieften Stillstand mitgehörten. …

Außer dem Hüttenwerk hatte der Fremde auch das ganze ehemalige Zweiflingen’sche Waldgebiet käuflich an sich gebracht. Baron Fleury hatte eine so fabelhafte Summe für den Besitz erhalten, daß er ein Thor gewesen wäre, das Angebot von sich zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 146. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_146.jpg&oldid=- (Version vom 14.8.2016)