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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

„seien Sie unbesorgt, Sie befinden sich in der besten Gesellschaft, in viel besserer jedenfalls als in der Ihrer sogenannten Glaubensgenossen, mit denen Sie hier verkehren werden und müssen – von Einzelnen, insbesondere Ihrem ergebenen Diener selbstredend abgesehen.“

Daß ich nicht zuviel gesagt: unser „Kleinstädter“ hat es später bewiesen, als er mehrere Tage die Wohnung mit mir und meinen thierischen Genossen theilte; denn er hatte rasch gelernt, mit ihnen sich zu befreunden.

Seit jenen Tagen in Alexandrien zum ersten Male habe ich jetzt, und zwar hier in Berlin, wiederum die Freude, sämmtliche der genannten Thiere zu pflegen und zu beobachten, und jeder Tag fast bringt zu den alten Erfahrungen neue.

Das „Berliner Aquarium“ verdankt die Chamäleons, welche es gegenwärtig besitzt, dem Sammeleifer Dr. Schweinfurth’s, des bekannten Afrikareisenden, welcher augenblicklich wiederum im Innern des Erdtheils weilt, um die Pflanzenwelt der von Heuglin thierkundlich durchforschten Gebiete des oberen weißen Niles wissenschaftlich festzustellen. Auf meine Bitten hatte er bei Alexandrien eine ziemliche Anzahl gedachter Thiere durch die zu Allem verwendbaren „Chamari“ oder Eseltreiber, gewitzte Buben mit sämmtlichen Eigenschaften unserer Gassenjungen, sammeln lassen und sie, meiner Weisung gemäß, in durchlöcherten, mit festen senkrechten Stäben und Palmenzweigen versehenen Kisten als Eilgut auf die Reise gegeben.

Für die meisten Kriechthiere ist diese Art der Versendung die einzig ersprießliche. Sie sind in ihrem Freileben oft genug in der übeln Lage, wochen-, ja monatelang fasten zu müssen, und haben es in dieser Enthaltsamkeit weit gebracht. Ein mehrwöchentlicher Hunger schadet ihnen in der Regel nicht, während beigegebene Nahrung insofern nachtheilig ist, als sie doch nicht gefressen wird, verdirbt und verfault, die Luft in dem engen Raume verpestet und den Eingekerkerten Verderben bringt. Von fernwohnenden Freunden des „Berliner Aquarium“ haben wir so lebende Schildkröten, Echsen und Schlangen erhalten, welche drei Monate lang unterwegs und zum Fasten gezwungen waren.

Unsere zarten Chamäleons staken nur vierzehn Tage in ihrem Versandgefängnisse, hatten aber doch schon erheblich gelitten, hauptsächlich wohl in Folge der rohen Behandlung, welche sie abseiten ihrer Fänger zu erdulden gehabt. Eine Anzahl von Leichen deckte den Boden: von den „fünfundachtzig guten, beißenden Chamäleons“, welche Schweinfurth abgesandt, bissen nur einige dreißig noch, während andere jede Behelligung widerstandslos über sich ergehen ließen. Die Gesammtheit trug ein und dasselbe Trauerkleid: anstatt des schönen Blattgrüns, von welchem sich die helleren oder dunkleren Längsstreifen, Flecken und Punkte so hübsch abheben, zeigte die Haut ein gleichmäßiges grauliches Strohgelb, ohne deutliche Abzeichnung, ohne lebhaftere Färbung. Die Thiere waren offenbar ermattet, abgespannt, erschöpft, verschmachtet.

Jetzt galt es, ihnen alle Genüsse zu verschaffen, welche das irdische Leben eines Chamäleons verlangt. Der vorbereitete Kasten wurde mit grünen Zweigen geschmückt, Honig herbeigeschafft, um Fliegen anzulocken, Mehlwürmer zum lecker bereiteten Mahle vorgesetzt und eines der Kriechthiere nach dem anderen in die wohnliche Behausung gebracht.

Der Erfolg entsprach den Erwartungen nicht. Es fehlte an etwas: das war ersichtlich. Wohl richteten sich zehn, zwanzig Augen nach dieser Fliege, nach jenem Mehlwurme; aber der Zungenpfeil, welcher, wie ich wußte, mit so viel Sicherheit geschleudert wird, blieb auf dem Bogen, d. h. in seiner Scheide. Sollte die verschrumpfte Haut durch Anfeuchten geglättet, das Thier hierdurch belebt werden können? Versuchen wir es! Ein Schlauch wird in die nöthige Richtung gebracht, der Hahn geöffnet; ein künstlich erzeugter Regen träuft auf die Ermatteten nieder. Welche Veränderung! Zauberischer, belebender, als diese Labung sich erwies, wirkt nicht das erste Gewitter nach langer Dürre, erquickender nicht der erste Trunk, welcher dem Verschmachteten wird. Jeder Tropfen, welcher auf die lederfarbene Haut fiel, gab ihr an der befeuchteten Stelle die Frische wieder, und wie Nebelgewölk vor der Sonne zerflockte, zerriß, verschwand das Kleid der Entsagung, um dem Gewande der Lebensfreudigkeit Platz zu machen. Aber nicht blos die verwelkte Haut erfrischte sich durch das belebende Naß, auch die Zunge leckte gierig die erquickenden Tropfen auf. Und als diese mehr und mehr abgefallen von den Blättern, faßten die verschmachteten Thiere letztere beiderseitig mit den harten Lippen, saugten förmlich an ihnen und suchten ein anderes Blatt, wenn das erstere abgeleckt oder abgesaugt worden war.

Endlich hatten sich alle an dem immer wieder gespendeten Trunke zur Genüge erlabt, und nunmehr erregten die krabbelnden Mehlwürmer, die honiglüsternen Fliegen gebührende Theilnahme. Aus den blätterdürren Leibern der Chamäleons waren wohlgerundete geworden, in die geknickten Beine Kraft und Strammheit, in die matten Augen Beweglichkeit, in das kleine Hirn Thatkraft gekommen. An den Zweigen kletterten die Thiere auf und nieder; um die besseren Plätze stritten sie sich mit drohenden Grimassen und Beißen; mit den Wickelschwänzen umschlangen sie sich gegenseitig, wenn es an Raum fehlte; alle Winkel der Höhe und Ebene durchspähten die von einander unabhängigen Augen. Dutzende von solchen Augen zielten nach einer und derselben Beute; die von der einen Zunge gefehlte Fliege fiel der zweiten, dritten, zehnten gewißlich zum Opfer. Ganze Schüsseln voller Mehlwürmer wurden geleert im Umsehen, und die von Neuem beschickte Tafel war theilweise schon wieder abgegessen, bevor wir, die stellvertretenden Aufwärter, unserem willig geübten Amte allseitig genügt.

So ging es auch in den nächsten Tagen in unserem Gefangenhause zu, und ich verstand die Weisheit des alten Noah, von jeglicher Thierart nur ein Männlein und ein Weiblein mit in die Arche zu nehmen; denn – achtzig Chamäleons hätte er nicht ernähren können. Der Inhalt einer großen, mit Kohlraupen vollständig angefüllten Schachtel, welche ein Gärtner gespendet, war nach vierundzwanzig Stunden in den hungrigen Magen geborgen; ein Pfund Mehlwürmer hielt kaum eine Woche an, obgleich mit diesem theuren Futter nach Möglichkeit gespart und Alles gethan wurde, um Fliegen herbeizulocken. Unsere Thüringer Bauerstuben kamen mir Tag und Nacht nicht aus den Gedanken, weniger ihrer Besitzer als der Fliegen halber, welche in ihnen während des Sommers die unbestrittene Herrschaft führen und metzenweise gefangen werden. Doch auch die scheinbar Unersättlichen hatten allgemach des Guten genug gethan und nahmen zuletzt ein bescheideneres Wesen und damit eine geregelte Lebensweise an.

Die eine Beobachtung, daß selbst Chamäleons vom Durste geplagt werden und über demselben sogar das Fressen, wenn auch nicht vergessen, so doch verschieben, klärte mich vollständig auf über den bis dahin mir räthselhaften Verbreitungskreis unserer Thiere. Früher hatte ich nicht begreifen können, warum man sie blos an der südlichsten Küste Europa’s, im Süden Andalusiens, und an den Küsten Afrika’s findet, weshalb sie häufig vorkommen in der Wüste bei Alexandrien, aber fehlen in den Wüsten zu beiden Seiten des Nilthals, obgleich hier und dort die Pflanzenwelt annähernd dieselbe, insbesondere eine Art von Thymian, ihr entschiedenes Lieblingsgewächs, hier wie dort gedeiht. Aber nicht an gewisse Pflanzen sind sie gebunden, sondern an Gegenden, in denen es zeitweise regnet oder doch allnächtlich so stark thaut, daß sie die lechzende Zunge wenigstens einmal täglich erfrischen können.

Da, wo sie vorkommen, sind sie nicht selten, fallen jedoch keineswegs so leicht in’s Auge, als man wähnen möchte. Die Uebereinstimmung ihrer Färbung mit dem Blattgrün ihres Wohnstrauches ist ihr bester Schutz und ihr geringer Verstand doch immer erheblich genug, um zu wissen, daß solcher Schutz durch Bewegungslosigkeit noch wesentlich verstärkt wird. „Ein gesehenes Chamäleon ist ein verlorenes Chamäleon“; denn zu einer Abwehr feindlicher Angriffe hat unser Kriechthier keine Waffe. Wohl sperrt es angesichts des sich ihm nahenden Menschen, von dem es sich entdeckt sieht, das Maul auf, giebt sich ein grimmiges Ansehen und versucht selbst zu beißen: aber was hilft das Alles einem hungrigen Raubvogel, einem unternehmenden Raben, Nashornvogel oder Storch gegenüber? Verwundet doch der schwachzähnige Kiefer nicht einmal die zarte Haut des Menschen, geschweige denn die beschilderte Klaue des Raubvogels oder den hornfesten Schnabel der anderen genannten Feinde! Wenn man weiß, wie scharf das Vogelauge sieht, wundert man sich billig, daß noch so viele Chamäleons diesem und einem Grabe im Magen des betreffenden Ausspähers entgehen können. Allerdings gleicht die starke Vermehrung viele Verluste wieder aus: ich habe in einzelnen Weibchen einige zwanzig, in anderen über dreißig entwickelte, legreife Eier gefunden und glaube, daß das Wachsthum der überraschenden Verdauungsfähigkeit dieser Thiere entsprechen wird.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_134.jpg&oldid=- (Version vom 8.8.2016)