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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

aller Gattungen, die ich nach Tausenden zählen kann, zugeführt worden. Unter diesen haben sich Menschen befunden, welche diesen Namen gar nicht verdienten, in deren Brust kein menschliches Gefühl Raum hatte, deren Leben ein fortgesetztes Verhöhnen aller göttlichen und menschlichen Satzungen, eine ununterbrochene Kette empörender, verabscheuungswürdiger Handlungen war, die, wenn ich so sagen darf, professionsweise die rohesten Verbrechen verübt hatten. Allein nicht ein einziges von diesen unglücklichen Geschöpfen hatte mir Widerwillen in dem Maße eingeflößt, wie jener junge Mann, den ich zu erwarten hatte. Konnte denn das aber auch anders sein?

Das Mädchen hatte mir nahe gestanden, die Eltern waren mir durch jahrelange engeren Verkehr Freunde und als solche lieb geworden. Ich hatte die tiefe Wunde, die der Verbrecher ihnen geschlagen und die sich nie wieder schließen konnte, vor Augen; ich fühlte das bittere Wehe, den tiefen, brennenden Schmerz der Elternherzen; ich sah die Hoffnungen auf ein sorgenloses, auf ein freudenreiches Alter mit einem Schlage vernichtet; ach, ich sah noch mehr! ich sah, daß der Gram über so schmerzlichen Verlust zwei treue Herzen brechen, zwei Menschen vor der Zeit dem Grabe überliefern werde.

War da die Bitterkeit, der Widerwille nicht begründet, mit welchen ich der Einlieferung des Verbrechers entgegensah? Und war es nicht so ganz natürlich, daß diese Bitterkeit später, als der Verbrecher mir entgegentrat, als ich mit ihm ein Zimmer theilen, mit ihm dieselbe Luft einathmen mußte, sich bis zu einem Grade steigerte, der an tödtlichen Haß grenzte? Es war für mich eine ungeheuer ernste Stunde, die ich zu durchleben hatte. Ich fühlte die Nothwendigkeit, die Entrüstung, die Bitterkeit, den Widerwillen zu verleugnen, die innere Stimme zu unterdrücken, alles Böse mit seinen Folgen zu vergessen und ruhig, leidenschaftslos mit dem Verbrecher zu verkehren. Und doch vermochte ich anfangs nicht, dies zu thun. Ich hätte den Menschen mit meinen Händen erdrücken oder unter die Füße werfen und zertreten mögen, und Gott weiß, was geschehen wäre, wenn der Verbrecher mich gereizt, wenn er durch Wort oder Geberden meinem Gefühle Nahrung gegeben hätte!

Die Mittheilungen des Arztes hatten meine Erwartungen auf das Höchste gespannt. Diese Erwartungen blieben unerfüllt. Die schauerliche That, vielleicht aber auch das Ergreifen unmittelbar nach Verübung derselben, also der Verlust der persönlichen Freiheit hatte dem Verbrecher jeden Halt fortgenommen. Er befand sich bei der Einlieferung in einem Zustande fast vollständiger Betäubung. Seine Sprache war matt, tonlos, seine Bewegungen müde, schlaff, sein Handeln willenlos, mechanisch. Er that, was von ihm verlangt wurde, allem Anscheine nach aber ohne klares Bewußtsein.

Unter anderen Verhältnissen würde ein solcher Zustand mir Theilnahme abgenöthigt und das Mitleiden bei mir rege gemacht haben; in diesem Falle blieb ich kalt und ungerührt. Ich überschritt nicht meine Berechtigung, aber ich that auch nichts, um die Härte zu mildern, welche die Ausübung meines Rechtes für den Gefangenen haben mußte. Ich hielt mich streng an die Worte der mir zur Richtschnur gegebenen Verordnungen, ersparte ihm keine, auch nicht die peinlichste Belästigung, und verließ ihn erst, nachdem er durch die Kette an die Gefängniß-Mauer gefesselt war. Die Thür vor seiner Zelle verwahrte ich noch durch ein besonderes Vorlegeschloß, um jedem Anderen den Zutritt unmöglich zu machen. –

Es vergingen Tage, Wochen und Monate. Der Verbrecher hatte sich schon am Tage nach seiner Einlieferung wieder ermannt. Er behauptete vollständig unschuldig zu sein.

„Fränzchen,“ so sagte er, „kam, als sie sich von mir wegwendete, um nach der Stadt zurückzukehren, in der Aufregung dem Rande des Ufers nahe, glitt aus, verlor das Gleichgewicht und stürzte in die Tiefe hinab. Ich sprang hinzu, um sie zurückzuziehen, die Last des fallenden Körpers war aber für meine Kräfte zu schwer, ich vermochte denselben nicht zurück-, den Sturz nicht aufzuhalten; ich konnte auch keine andere Hülfe leisten, der Schreck hatte mir die Besinnung genommen, mich völlig betäubt.“

Es mußte der Untersuchung vorbehalten bleiben, festzustellen, ob diese Behauptungen in Wahrheit beruheten, oder ob dieselben, den erbrachten Beweisen gegenüber, auch nur für wahrscheinlich erachtet werden konnten. Meine Voraussicht in Bezug auf Schilberg war in Erfüllung gegangen. Der Schreck und der Gram hatten den alten Mann darnieder geworfen, seine Kräfte gebrochen. Er war lange Zeit an das Bett gefesselt und später noch an seine Wohnung, die er nicht verlassen durfte, auch nicht verlassen konnte. Der Verkehr mit dem Gefangenen war ihm dadurch unmöglich gemacht. Er beschäftigte sich aber ausschließlich mit der Untersuchung und schien für nichts Anderes Interesse zu haben; jede Gelegenheit, die sich ihm darbot, um über die Sache Nachricht zu erhalten, ergriff er mit beiden Händen.

Die Untersuchung war endlich abgeschlossen und der Tag zur öffentlichen Rechtsprechung bestimmt. Von da ab zeigte Schilberg eine auffallende Unruhe; er aß und trank hastig und unregelmäßig, er schlief weder während der Nacht, noch am Tage, und lief in seiner Wohnung von einem Orte zum anderen, als ob er von einer unsichtbaren Macht verfolgt werde. Je näher der entscheidende Tag heranrückte, desto mehr traten diese krankhaften Erscheinungen hervor. Am Abend vor demselben trat Schilberg ganz unerwartet in mein Arbeitszimmer. Er hatte sich mühsam bis dahin geschleppt und schien nicht weiter zu können, alle Kräfte zugesetzt zu haben. Sein Zustand machte mich besorgt.

„Ja, ja!“ stieß er nach kurzer Rast keuchend heraus, „ich bin nicht mehr der, der ich früher war. Du mein Gott, was ist aus mir geworden! Wenn ich nur Ruhe finden könnte! Herr Inspector, Sie müssen mir dazu verhelfen. Ich alter Mann habe ja so viel verloren: Kind, Amt und Gesundheit! Haben Sie Mitleid mit mir, helfen Sie mir zur Ruhe, erbarmen Sie sich meiner Angst!“

„Aber was wollen Sie denn?“ fragte ich tief bewegt.

„Ich muß dem Kerl in die Augen sehen, ich muß wissen, ob er wahr redet!“

Das namenlose Elend des alten Mannes jammerte mich; ich wollte ihm die Ruhe geben, die er suchte, und führte ihn zu dem Verbrecher. Auf dem Wege nach dem Gefängnisse zeigte Schilberg sich vollkommen ruhig, aber tief bewegt. Von Zeit zu Zeit stöhnte er laut, um der gepreßten Brust Erleichterung zu verschaffen. Kein Wort kam über seine Lippen. Im Gefängniß setzte er sich auf die einzige Bank, stützte den Kopf mit beiden Händen und verharrte regungslos in tiefem Schweigen. Der Verbrecher lag vor ihm auf dem Strohsacke, eingewickelt in die Decke, nur der Kopf war sichtbar. Das Licht, das ich mitgenommen und auf den Tisch gestellt hatte, warf seinen Schein voll auf diesen Kopf. Die Augen waren geschlossen, der Verbrecher schien fest zu schlafen, er rührte sich nicht. Schilberg hatte sich bald erholt; er richtete sich in seiner ganzen Höhe auf und blickte starr in das Gesicht des Verbrechers. Die monatelange Haft hatte dies Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verändert. Die Farbe war verschwunden, die vollen Wangen fehlten, von dem runden Kinn war nur der spitz hervorstehende Knochen übrig geblieben, die geschlossenen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Der Anblick dieses entstellten Kopfes schien auf Schilberg keinen Eindruck zu machen, er blieb kalt, keine Muskel an ihm zuckte.

„Du da,“ sagte er nach einer Weile halblaut, doch fest, „steh’ auf. Ich weiß, daß Du nicht schläfst. Im Schlafe ruht das Auge wie im Tode. Deine Augen sind lebendig; sie springen unter den Lidern aus einem Winkel in den andern. – Du schläfst nicht!“ wiederholte er mit stärkerer, aber dumpfer Stimme, „mich kannst Du nicht täuschen. Steh’ auf!“

Ich hatte noch nie so reden hören. Der tiefe Ernst des alten Mannes und seine dumpfe, hohle Stimme, die wie aus einem geschlossenen Grabe herauftönte, waren schauerlich ergreifend. Die Wirkung blieb nicht aus. Der Verbrecher öffnete die Augen und richtete diese voller Angst auf den alten Mann.

„Was wollen Sie?“ stammelte er.

„Du hast nicht geschlafen, Du hast mich täuschen wollen. – Ich komme zu Dir, um nur eine Frage an Dich zu richten; ich komme aber nicht allein, mein Kind, mein Fränzchen ist mit mir. Wenn Du sie auch nicht siehst, sie ist doch bei mir. Und über uns ist der liebe Gott! Bedenke das, ehe Du mir antwortest.“

Schilberg näherte sich dem Lager, blieb dicht vor demselben stehen und blickte stier und starr auf den Verbrecher herab. Dieser hatte sich in halber Höhe erhoben, seine Augen hatten sich vergrößert, der Mund war halb geöffnet, auf den linken Arm stützte sich der Körper, den rechten hielt er wie abwehrend oder schützend vor sich.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_106.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)