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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Aus den Erinnerungen eines Gefängnißinspectors.

Nr. 4. In den Augen mußt Du lesen!

Die Gefangenenaufseher werden ausschließlich aus versorgungsberechtigten Militärpersonen recrutirt, d. h. aus Soldaten, welche eine gewisse Anzahl Jahre gedient haben, in Folge des Dienstes zum weiteren Dienen untauglich geworden sind und deshalb auf Grund ärztlicher Zeugnisse als Ganz- oder Halb-Invaliden entlassen werden mit der Berechtigung, im Civildienst bis an ihr Lebensende fortzudienen. In der Regel sind diese Leute den Anforderungen nicht gewachsen, die an sie gestellt werden. Es fehlt ihnen meist die geistige Befähigung, welche der Verkehr mit Gefangenen unerläßlich macht, oder es kleben ihnen aus ihrer früheren dienstlichen Stellung Gewohnheiten an, die nicht in das Gefangenenhaus passen.

Eine Ausnahme von dieser Regel machte der Gefangenenaufseher Schilberg. Ich will dem Manne keine Lobrede halten, seine Eigenschaften nicht einzeln herzählen, um ihn als Musterbeamten darzustellen, ich muß aber bemerken, daß er nicht allein die ihm in seiner Stellung obliegenden Pflichten mit der peinlichsten Genauigkeit erfüllte, sondern daß er noch viel mehr that, daß er die Gefangenen ohne Ausnahme für seine Kinder ansah und denselben noch weit größere Sorge und Theilnahme zu Theil werden ließ, als sich sein eigenes Kind von ihm zu erfreuen hatte. Und doch hatte er dies Kind so unendlich lieb!

Schilberg wohnte nicht in dem Gefangenenhause. Er verließ dasselbe aber nur selten, eigentlich nur während der Nacht, wenn er vom Dienste frei war. Seine Bedürfnisse, die höchst einfach waren, wurden ihm entweder von seiner Frau oder seiner Tochter zugetragen. Mit seiner Frau machte er bei diesen Gelegenheiten wenig Umstände. „Hinstellen!“ war in der Regel Alles, was sie von ihm zu hören bekam. Dagegen verabsäumte er niemals, ihr die Hand zu reichen, diese kräftig zu schütteln und ihr dabei scharf, aber freundlich in die Augen zu sehen.

Ganz anders war Schilberg, wenn die Tochter sich einfand. Als er seinen Dienst als Gefangenenaufseher antrat, war diese etwa elf Jahre alt, ziemlich groß, aber schwach, und fast fortwährend kränklich. Mit den Jahren verlor sich die Schwäche, der Körper wurde kräftig, die Formen rundeten sich, das Gesicht erhielt eine lebhafte Färbung, es wurde blühend; die großen, dunklen Augen bekamen Glanz, der Ausdruck wurde sorglos, heiter, lachend, mit einem Worte: im neunzehnten Jahre war aus dem siechen Kinde ein bildhübsches Mädchen geworden.

Kam Fränzchen – mit diesem Namen wurde das Mädchen gerufen – in das Gefangenenhaus, so suchte sie stets den Vater auf, und wenn sie ihn traf, so schloß sie ihn in ihre Arme und, indem sie lachend grüßte, küßte sie wiederholt den von einem kurzen struppigen Bart eingefaßten Mund.

Schilberg verhielt sich hierbei passiv, er ließ sich dies Alles ruhig gefallen, dankte nicht für den Gruß, erwiderte auch weder die Umarmung, noch den Kuß. Aber wenn dieser gegeben war, so faßte er den Kopf seines Kindes mit beiden Händen, hielt ihn fest wie in einem Schraubstocke und blickte dann kurze Zeit prüfend in das lachende Gesicht. In diesem Blick offenbarte sich die namenlose Liebe des Vaters.

„Fränzchen,“ fragte er dann ernst, „bist doch gesund?“

„Ja, Vater!“

„Fränzchen, überall?“

„Ja, ja, Vater, überall!“

„Fränzchen, auch im Herzen?“

„Da erst recht, Vater!“

„Na, Fränzchen, bleib’ gesund und brav!“

„Das will ich, Vater!“

Schilberg behielt hierbei den Kopf seines Kindes fest in den Händen, er wendete, so lange er sprach, den Blick nicht einen Moment von ihm ab, es war als ob er durch das Auge bis tief in die Brust des Mädchens hinabsehen und dort nachlesen wolle, was der Mund aussprach. Dann zog er den Kopf sich näher, doch langsam, um den Anblick möglichst lange zu genießen, hielt ihn vor der Berührung noch einen Moment fest, und dann erst küßte er den kleinen, rosigen Mund, hörte auf dessen Reden und gab kurze, aber freundliche Antworten.

Ich habe unzählige Male derartige Scenen beobachtet und die Gelegenheit dazu nicht selten aufgesucht. –

An einem Sonntage brachte Fränzchen das Frühstück früher als gewöhnlich. Ich traf mit ihr zufällig vor der Wachstube zusammen, als sie in dieselbe eintreten wollte.

„Ach, Herr Inspector,“ redete sie mich an, „wollen Sie wohl die Güte haben, dem Vater zu sagen, daß ich das Frühstück abgegeben habe?“

„Wollen Sie denn heute den Vater nicht aufsuchen?“ fragte ich überrascht.

„Ich weiß nicht,“ entgegnete sie stammelnd, „ich komme zu nicht gelegener Zeit, der Vater möchte es nicht gern sehen, er möchte böse werden, und dann möchte ich mich auch nicht aufhalten, ich möchte gern wieder fort.“

Es kam mir vor, als ob sie dem Vater aus dem Wege gehen, die Begegnung mit ihm vermeiden wolle; auch fiel mir in ihren Reden eine gewisse Hast und in ihren Bewegungen eine Eilfertigkeit auf, die ihr sonst gänzlich fremd war.

„Ich habe dem Vater eine Ueberraschung bereitet,“ sagte sie, während sie das Körbchen ausleerte, „ich bringe ihm heute eine Tasse Chocolade. Er mag diese gern, viel lieber als Kaffee, – er soll heute einmal rechte Freude haben.“

Sie war mit dem Auspacken und dem Ordnen des Frühstücktisches schnell fertig geworden, hatte das Körbchen bereits wieder in die Hand genommen und war eben im Begriff, die Stube zu verlassen, als ganz unerwartet ihr Vater in dieselbe eintrat.

Fränzchen schreckte sichtbar zusammen und blieb betroffen und verlegen stehen. Schilberg hatte seine Tochter sogleich erkannt; er blieb innerhalb der Thür und schien hier zu erwarten, daß Fränzchen ihm entgegenkommen und ihn wie gewöhnlich begrüßen werde. Als dies nicht geschah, als Fränzchen unbeweglich in ihrer Stellung verharrte, da legte es sich wie ein Schatten auf sein Gesicht. Es war, als ob plötzlich eine Angst über ihn komme, als ob er Furcht empfinde. Er schüttelte den Kopf, brummte vor sich hin und schritt dann hastig auf Fränzchen zu. Der feste Tritt des alten Soldaten schreckte diese aus ihrem Sinnen auf, sie machte einige Schritte vorwärts, hob die Arme in die Höhe und schien damit den Vater umfassen zu wollen. Schilberg wehrte aber die Arme mit einer raschen Bewegung ab, nahm Fränzchens Kopf in seine Hände und hielt diesen dicht vor sich. An diesem Tage wohl zum ersten Male wollte sich der Kopf nicht festhalten lassen, er machte alle nur möglichen Versuche, sich zu befreien, und als diese sämmtlich ohne Erfolg blieben, da senkten sich die Lider über die Augen herab, die Röthe schwand von den Wangen, das Gesicht wurde kalt, es war ohne Ausdruck, ohne Leben. Lange Zeit, viel länger als er dies sonst zu thun pflegte, starrte der alte Mann auf dasselbe nieder. Seine Augen wurden trübe, sein Athem stockte, ein tiefer Schmerz füllte seine Brust. Es war vielleicht der erste – der letzte war es nicht.

„Fränzchen!“ sagte er endlich mit unsicherer Stimme, „Du bist krank!“

„Nein, Vater!“ erwiderte diese leise und stammelnd, ohne den Blick in die Höhe zu heben.

„Du bist krank, Fränzchen!“ versetzte Schilberg kräftiger und bestimmter, „sag’, Mädchen, wo’s fehlt!“

„Mir fehlt wirklich nichts, Vater!“ antwortete Fränzchen klar und fest, „Du hast mich nur erschreckt,“ fügte sie rasch hinzu, „ich wollte Dich überraschen. Sieh’, Vater, ich habe Dir zum Frühstück Chocolade gebracht, Du –“

„Du lügst!“ schrie der alte Mann. „In Deiner Brust ist etwas, was ich nicht sehen soll, was Du vor mir verbirgst. Sag’, was ist’s?“

Fränzchen antwortete nicht, sie schien keines Wortes mächtig zu sein, oder mit einem Entschlusse zu kämpfen. Hatte sie wirklich etwas zu verheimlichen? und wollte sie ihr Geheimniß nur dem Vater offenbaren?

Ich mußte das Letztere annehmen, meine Gegenwart konnte die Befangenheit des Mädchens nur vergrößern. Ich ging still,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_104.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)