Seite:Die Gartenlaube (1869) 076.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


Schmeichelei über Putz, Gesicht oder Fuß einstellt. Auch das nichtssagende und fade, süße und sauersüße, bittere und boshafte, höhnische und aristokratisch vornehme, schurkische, verzweifelte, wahnsinnige, übermüthige Lachen und Lächeln, das schulbübische Grinsen und backfischige „Feixen“, das eitle, selbstgefällige Schmunzeln, und noch eine ganze Menge anderer Spielarten der Lachzüge – Alle haben ihre bestimmten Notenzeichen auf dem menschlichen Antlitz, von denen wir manche in dem Piderit’schen Buch durch Wort und Bild genau kennen lernen.

Figur 32.

Das Gesicht des entschiedensten Gegensatzes zum Lachen erblicken wir in Figur 19, die den bittern Zug im Antlitz mit allen Zuthaten der Heftigkeit ausdrückt. Eine andere Composition der Bitterkeit mit innerlichem Groll, verbissener Wuth und verstecktem gespanntem Blick auf Rachegeister können wir in Figur 32 studiren, dem berüchtigten Gesicht Gregor’s des Siebenten während seiner Verbannung in Salerno. Er, der Schöpfer hierarchischer Tyrannei über die Geister, vor welchem Kaiser Heinrich der Vierte büßend und bettelnd umherkroch, sitzt jetzt verbannt und gefallen mit den ausgeprägtesten Zügen verbissener Wuth um den Mund, Zorn in den senkrechten und gespannter Aufmerksamkeit

Figur 19.

in den horizontalen Stirnfalten und brütender Rache in dem versteckten Blick: ein classisches Muster des gefährlichen heimtückischen herrsch- und rachsüchtigen Charakters. Aus solchen Zuständen giebt es wohl kaum für einen heiligen Vater Erlösung. Und doch! Die schmerzlichsten Erinnerungen und bittersten Erfahrungen, welche sich um den Mund furchen, können dessen Starrheit zu einem entzückten Lächeln der Hoffnung auf Erlösung und Seligkeit abmildern, wenn das Auge, gehoben und veredelt durch den Glauben an ein Jenseits der Freiheit, durch die Liebe für alles Gute und Edle und die Hoffnung auf den Genuß einer ewigen Gerechtigkeit und Liebe, emporblickt in eine unsichtbare Welt der Seligkeit, die das Herz schon vorher oft empfunden und durch ein Leben voller Arbeit, Entsagung und Leiden genossen. Eine solche reiche Gefühlswelt voller Gegensätze in rührender Harmonie finden wir in Figur 52, dem berühmten Murillo’schen Kopfe der heiligen Elisabeth, der sogenannten Madonna von Sevilla im Louvre zu Paris. Wir sehen den bitteren Zug zu einem entzückten Lächeln der Seligkeit veredelt, während das emporgerichtete Auge aus Jammer und Elend heraus gleichsam betend zum Himmel blickt und die horizontalen Stirnfalten uns die Versicherung geben, daß dieser Kopf mit einem edlen Herzen darunter viel gedacht, geistig aufgenommen und sich ein Capital von Schätzen erworben hat, welches weder Motten noch Rost fressen.

Figur 52.

Dies sind nur einige Noten und Accorde aus der unendlich reichen stummen Musik und Sprache des Gesichts, der ewigen, unveränderlichen aller Zeiten, Zonen und Zungen, welche durch keinen babylonischen Thurmbau von Sprachgelehrsamkeit oder diplomatischer Lüge verwirrt werden kann. Lernen wir diese Sprache verstehen und deuten. Für Maler, Bildhauer, Schauspieler ist sie von der größten Wichtigkeit, aber auch jeder andere Mensch, der sie lesen und verstehen lernte, wird den größten Nutzen und Genuß daraus ziehen, und wenn Mimik und Physiognomik endlich allgemein verstanden werden, verlieren die jetzt so häufig täuschenden Züge der Verstellung und Heuchelei ihre Macht, denn jeder solche Zug wird dann sofort erkannt und richtig gelesen. So erfüllt sich das schon von dem Philosophen Leibnitz gesprochene Wort: „Mit der zur Wissenschaft und Kunst erhobenen Mimik verschwinden Lüge und Verstellung aus der menschlichen Gesellschaft.“




Einer vom Wartburg-Sängerkrieg.

Unser Volk hat sich daran gewöhnt, die letzten Spuren des deutschen Ritterthums nur in den Burgruinen unserer Berge zu suchen; wir blicken auf dieselben als auf Denkmäler einer glücklich überwundenen Zeit, die zum Besten des Adels die meisten übrigen Staatsangehörigen in Niedrigkeit erhalten habe, und schätzen sie nur noch als landschaftlichen Schmuck. Daß ein weit höherer und ein unvergänglicher Schmuck aus jenen Tagen uns in den geistigen Schätzen unserer Nation aufbewahrt ist, daß die deutsche Dichtkunst damals Blüthen trieb, an deren Herrlichkeit wir uns heute noch erquicken können, – das ist der großen Masse unsrer Nation so gut wie unbekannt geblieben. Da die Volksschule bei uns noch lange nicht in deutsch-nationalem Geiste geleitet wird, wer sollte da den vielen Millionen, welche von dem Glück höherer Bildung ausgeschlossen sind, den Vorhang vor dem Bilde jener fernen deutschen Zeit aufheben; wo der deutsche Volksgeist mit seinen ersten goldnen Früchten der Dichtkunst den Baum der Menschheit schmückte?

An diese traurige Wahrheit darf wohl der Wunsch sich anschließen, daß die größte und umfassendste Fortbildungsschule der Nation, die Tagespresse, auch hier das von den Schulen des Staats Versäumte nachhole, und die Gartenlaube macht einen Versuch damit, indem sie denjenigen der Minnesänger, welcher als Liederdichter in jeder Beziehung den obersten Rang einnimmt, ihrem Leserkreise vorführt.

Mit der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts trat das deutsche Volk in sein Jünglingsalter und entwickelte rasch und glücklich alle Kräfte einer hochbegabten Jugend. Schon als die ersten Züge der Kreuzfahrer von Frankreich her mit allem Waffenglanz eines heiligen Heers voll Eroberungsdrang und Siegeshoffnung an den staunenden Deutschen vorüber nach dem Morgenlande zogen, „da erwachte in dem ganzen Volke jenes poetische unbeschreibliche, aus süßer Heimathsliebe und unwiderstehlichem Drang in die Ferne gemischte Gefühl, das noch heute das Erbtheil des deutschen Jünglings ist, wenn er den ersten Schritt aus

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_076.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)