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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Totaleindruck des Ganzen in der That jener gemischte - erhaben und dennoch steif, lebenswahr und dennoch nicht recht lebendig. „Deutsch!“ würde ihr Gatte gesagt haben.

Warum schwieg ich aber damals? Weil mich Ihre Ergriffenheit von dem Standbilde, Ihre Vertheidigung desselben, Ihre wiedererwachte Empfänglichkeit für die Heimathsluft rührte. L’idée de l’infini, wie Sie sagten, das Reich der „Ahnung“, die unbestimmte Sehnsucht, das wurde ein Gebiet, worüber Sie nicht mehr lächelten. Deutsche Kunst -! Der deutsche Gedanke, getragen von den Schwingen des schaffenden, gestaltenden Genius -! Ja, Sie fühlten wieder die Eigenart Ihres Volkes, unsre Kraft, unsre zähe Ausdauer, die eiserne Festigkeit unsres Willens -! Sie hörten die Quellen wieder rauschen, aus deren Tiefe wir jene Schalen füllen, aus denen sich der Rausch der Begeisterung trinkt!

Die Fahrt ging jetzt schnell genug über Ludwigshafen, Heidelberg, Karlsruhe nach Baden-Baden. Wenn ich Ihnen da gestehen mußte, daß ich in vielen Jahren das deutsche Pied à terre der Franzosen, wie ihr Gatte es nannte, nicht gesehen, jedoch der Meinung bin, ein deutscher Autor müßte regelmäßig dann und wann grade hieher reisen um sich die aufsteigenden bunten Blasen des Zeitgeistes und jene üppige Müßiggangsstimmung der Zeitgenossen anzusehen, an welche ja mehr oder weniger jede schreibende Feder anzuknüpfen hat (denn in Werkeltagsstimmung liest man nichts), so waren schon meine jungen Freunde und Reisegenossen vollständig wieder im Bann dieser bezaubernden Armidawelt, sowie sich nur am Kieselbett der „Oos“ die ersten wieder neuerstandenen Hotels und Pensionen erhoben. Nun, ich ließ Sie die volle Strömung der Wettrennen, der Corsofahrten, der Spieltische, der Reunionen und der Toilettenentfaltungen mithinuntergleiten. Es ist eben in Baden-Baden die reizende Natur, die dort die Thorheiten der Menschen in einem Licht erscheinen läßt, als drückten sie eigentlich die wahre Weisheit alles Lebens aus. Dieser blaue Himmel, diese grünen Berge, diese murmelnden Waldquellen, diese malerischen Fernsichten von altergrauen Burgruinen, von einsamen Capellen aus, ja selbst die treuherzige Naivetät der umwohnenden Bevölkerung – alles das ist die Staffage des Himmels zu dem, was man im Qualm eines Tanzsalons, im „Mabille“ von Paris, im „Orpheum“ von Berlin, ungefähr die Hölle nennen würde. Man glaubt hier in einer Phantasmagorie zu leben. Oder wäre denn wirklich jene grünschillernde blonde schlanke Frauengestalt, die dort mit einem Russen über ihren eben erlittenen Spielverlust verhandelt, die „berühmte“ Cora Pearl oder nicht vielmehr ein verzauberter Nachtschmetterling, ein Grand’ville’scher Blumengeist, ein verkörperter botanischer Begriff, Zehr- auch Drachenwurzel etwa, Monoecia Polyandria Linné? Ich zeigte Ihnen damals, verehrte Frau, „die Klingelcapelle“ an der Murg - es war an jenem Abend, wo die wilden Tauben aufflatterten! Dorthin hat die mittelalterliche Sage einen Eremiten verpflanzt, der einst in Sturm und Regen durch Pochen an seine Hütte erschreckt wurde. Ein schönes Weib, in durchsichtigen Kleidern, grade, als wäre sie eben dem Cursaal an der Oos entlaufen, baarfuß aber, mit aufgelösten Haaren, begehrte Einlaß, begehrte Rettung vor dem Unwetter. Ein Glöcklein fein wie Silberton erscholl jedoch aus der Höhe, und siehe! unser Eremit merkte Unrath und nahm die Teufelin nicht auf, ließ vielmehr die Aermste, die vielleicht am Spieltisch eben ihre sämmtlichen Ersparnisse und die Protection des Jockey-Clubs verloren hatte, in Nacht und Verzweiflung stehen und in die dunkle, dunkle Welt hinaus weiter rasen. „Ganz ein Stoff, welchen der Abbate Liszt,“ meinte da ihr Gatte, „der rechte Mann wäre, in eine zukunftmusikalische Ballade zu verwandeln.“

Und damals, eben an jenem Abend (die Glocken läuteten von Kuppenheim herüber, über die Gräber der im Bruderkampf vom Jahre 1849 dort Gefallenen) und beim Heimfahren durch die mondbeschienenen Wälder und Schluchten, stand es denn fest, daß von Ihnen eine „Lücke“ Ihres geistigen Lebens, Ihres Herzens, empfunden und eingeräumt wurde. Das Bekenntniß wurde gemacht sogar eines gewissen Ueberdrusses an dem zwar die Augen blendenden, aber nicht das Herz erfüllenden Erscheinungen des Pariser Lebens. Die Aufforderung erfolgte, Sie wieder einführen zu sollen in die Hallen des deutschen Lebens, soweit eben Bücher, Zeitschriften, jetzt sogar schon die Mode gewordenen Wandervorträge das Leben eines Volks ausdrücken können. Den Ausschlag hatte das für eine Deutsche beschämende Geständniß gegeben, daß Sie in Paris seit zehn Jahren nichts Deutsches mehr, außer ab und zu eine von Mama eingesandte Nummer der „Didaskalia“, gelesen hatten - „selbst keine Zeile von Ihnen!“ setzte Edgar’s vieldeutige Ironie hinzu.

Gewiß, theure Freundin, es geschieht auch bei uns nachgerade Alles, die Literatur, ich möchte es nicht nennen, zu französiren, sondern zu amerikanisiren. Amerika ist das Land des praktischen Verstandes. Amerika gestattet sich den Luxus der Ideen nur, wenn sie zu etwas nütze sind. Wenn Romeo sagt: „Was nützt mir die Philosophie, kann sie nicht schaffen eine Julia!“ so sagt der Amerikaner: Was nützt mir die Beschäftigung mit dem Schönen, dem Erhabenen, dem Unendlichen, dem Jenseitigen, wenn dadurch nicht die Eisenbahn zwischen beiden Oceanen fertig oder wenigstens auf einer Fahrt mittels derselben in etwas die Langeweile vertrieben wird! Die Beherzigung des Goethe’schen Wortes: „Nur der Stoff entscheidet, auf die Behandlung kommt es weniger an!“ hat auch bei uns kolossale Dimensionen angenommen. Unsre ganze sogenannte schöne Literatur von heute ist überwiegend Unterhaltungsliteratur geworden.

Eine Unzahl von Zeitschriften ist entstanden, die in der Regel lediglich den Unterhaltungszweck verfolgen. Große politische Blätter ahmen das Beispiel nach, das zuerst von den französischen gegeben wurde, ein unerquicklich, langweilig gewordenes Einerlei der in Stillstand gerathenen politischen Epoche durch Erzählungen zu unterbrechen, durch welche überdies auch die an den politischen Dingen weniger interessirten Frauen für Beibehaltung einer alten, für Anschaffung einer neuen Zeitung gewonnen werden konnten. Eine Lesesucht kann schon lange beobachtet werden, die vielleicht immer vorhanden gewesen ist, sich aber nie so wie jetzt an Hülfsmitteln zur Befriedigung derselben betheiligte, die allen zu gleicher Zeit in solchem Grade zugänglich geworden sind. Wo man sonst an seinem Localkalender studirte, wird jetzt die in Leipzig oder Stuttgart erscheinende allgemeinbekannte Zeitschrift gefunden. Die Culturwirkung dieser Erscheinung ist außerordeutlich. Letztere kommt zunächst hier weniger in Betracht, als die daraus abzuleitende Rückwirkung auf die darstellende, schaffende Feder selbst. Kann diese Rückwirkung der Idee des Schönen nützlich sein? Kann diese fieberhafte Hast nach immer wieder neu fesselnden und spannenden Bildern aus dem großen Kaleidoskop der Welt und des Menschenschicksals, das die Hand des Dichters schüttelt, das Ausleben einer wahren dichterischen Individualität unterstützen? Droht nicht vielmehr der reine Quell alles wahren dichterischen Schaffes zu versiechen? Denn keinesweges, trotz des Goethe’schen Wortes, in welchem auch mehr eine Lehre der Klugheit und Vorsicht enthalten scheint, als eine zugestandene Regel der Kunst, liegt doch wohl im Erwecken der Neugier, in einer virtuosenhaft ausgebildete Kunst der Unterhaltung die wahre Aufgabe der Literatur eines bedeutenden Volkes.

Denken Sie sich nur, wenn unsre Classiker, unsre Klopstock, Lessing, Goethe und Schiller, uns nur als Verfasser von Novellen und Romanen bekannt geworden wären! Nur als Erfinder von Lebensbildern mit regelmäßiger Beglückung zweier liebenden Paare! Daß sich allerdings die moderne Literatur vorzugsweise auf den Roman begründet, daß überhaupt die Poesie keine andre Stätte mehr im Leben zu haben scheint, als dort, wo sie sich den übrigen Künsten, deren lediglich „verzierende“ Mission gegenwärtig außer Zweifel gestellt zu sein scheint, anschließt, ein auch hierin liegendes tieferes Gesetz erkenne ich vollkommen an und weiß, was in unsern Tagen das Epos zu bedeuten hat, natürlich das moderne Epos, eben der Roman. Dennoch thut es immer und immer gut, die hohen Ziele alles Schriftwesens einer Nation im Auge zu behalten und sich vom wahren Wesen des Schönen, vom Idealen die Vorstellung zu bewahren, daß es zu thronen habe auf dem Allerheiligsten der Menschheit, in der Nähe jener Bundesladen, die unsre Einigung mit dem Himmel bezeuge, in der Nähe jener ewigen Lampen, die nur die Liebe unterhält, die zwecklose, nur um ihrer selbst willen lodernde Liebe. Deshalb mag ich auch die platonische Bestimmung über das Wesen des Schönen, die in ihm eines der ewigen Urbilder der Gottheit erblickt, lieber hören als die der englischen philosophischen Empiriker des vorigen Jahrhunderts, die im Schönen nur die Bürgschaft des Vergnügens und eines sinnlichen Wohlgefallens finden wollten.

Denn, meine hochverehrte Freundin, das ist nun der besondre Reiz, den die Beschäftigung mit ihrer vaterländischen Literatur gewährt, sie hat eine stete Beziehung zur allgemeinen Theorie der Schönheit. Ich gebe zu, daß die Pariser Dramatiker besser daran

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