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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

zu sagen wußte, welche übermenschliche Opfer ‚dem lieben Gast‘ in diesem gesegneten Pfarrhause gebracht werden!“ fuhr Frau von Herbeck noch immer lachend fort. „Gott, solch’ eine vierschrötige, hausbackene Person, und dabei diese Sentimentalität mit dem Grünzeug! „An ihrer Stelle ließe ich die Töpfe sofort dahin zurückbringen, wo sie der gerührte Gatte einst placirt hat – schließlich werden Sie noch für jedes abgefallene Blatt verantwortlich gemacht, und ich kann es ihnen keinen Augenblick verdenken, wenn Sie nicht Lust haben, die kostbare Orangerie der Frau Pfarrerin zu begießen.“

Die kleine Gisela war von ihrem Stuhl aus mit großer Aufmerksamkeit dem ganzen Vorgang gefolgt. Jetzt glitt sie auf den Boden herab und ihr großes, kluges Auge richtete sich erregt auf das Gesicht ihrer Gouvernante, während ein helles Roth unter die gelblichweiße, matte Haut der Wangen trat.

„Die Töpfe dürfen nicht fortgeschafft werden!“ sagte sie ziemlich heftig. „Ich will es nicht haben – das thut mir zu weh!“ Stimme und Geberden des Kindes zeigten unverkennbar, daß es gewohnt sei, zu befehlen.

Frau von Herbeck nahm die Kleine sofort in ihre Arme und küßte sie voll Zärtlichkeit auf die Stirn. „Nein, nein,“ beschwichtigte sie, „sie sollen ganz gewiß dableiben, wenn mein süßes Kindchen es will. … Aber Du verstehst das noch nicht, Engelchen – es ist nicht so gut gemeint von der Frau, wie Du denkst.“

Währenddem hatte Fritzchen lustig und unbekümmert seinen Zwieback bearbeitet. Das kaum dreivierteljährige Kind war in der That frisch und weiß wie ein Nußkern. Der kleine runde Kopf mit den blühenden Wangen und dem gespaltenen Kinn ruhte unmittelbar auf der blüthenweißen, faltenreichen Hemdkrause, und unter dem fleckenlosen, feuerrothen Flanellröckchen hervor guckten ein Paar draller, rosiger Beinchen, denen man es ansah, daß sie eben noch im Seifenschaum gesteckt hatten.

Fritzchen wurde nach dem Princip der allgemeinen Menschenliebe erzogen. Es fiel ihm plötzlich ein, daß er von Allem, was ihm gut schmeckte, an Mama, Rosamunde und die Geschwister abgeben mußte, und infolge dessen nahm er unter treuherzigem Lallen den Zwieback vom Munde und stieß ihn mit den ungeschickten Händchen heftig gegen Jutta’s Lippen – das junge Mädchen fuhr leise aufschreiend zurück und die Röthe des Erschreckens flammte über ihr Gesicht; die kleine Gräfin aber lachte laut auf – der Moment erschien ihr urkomisch.

„Aber, Gisela, mein Kind, wie magst Du nur da lachen?“ schalt Frau von Herbeck sanft. „Siehst Du denn nicht, daß das arme Fräulein von Zweiflingen zu Tode erschrocken ist über die Zudringlichkeit des kleinen Bengels? … Uebrigens sehe ich gar nicht ein, weshalb wir uns das gemütliche Plauderstündchen verderben lassen sollen!“ fuhr sie ärgerlich fort. „Ich werde der Sache gleich ein Ende machen!“

Sie stand auf, nahm den kleinen Missethäter von Jutta’s Schooß und setzte ihn auf die Dielen; in demselben Augenblick kauerte aber auch Gisela neben dem Kinde und legte die kleinen mageren Arme um die Schultern desselben. Der lachende Ausdruck war wie weggewischt von ihrem schmalen Gesichtchen. „Es war gut gemeint von ihm!“ sagte sie, zwischen Trotz und Bedauern schwebend.

Fi donc, mein Kind - ich bitte Dich, rühre den schmutzigen Jungen nicht an!“ rief Frau von Herbeck, die Bemerkung des Kindes ignorirend.

Die kleine Gräfin antwortete nicht, aber der Blick, mit dem sie zu ihrer Gouvernante aufsah, funkelte in Zorn und Widersetzlichkeit. Diesem Kinde gegenüber hatte die Dame offenbar einen sehr schweren Stand, allein sie war ja „vollkommen passend“ und wußte sich demgemäß zu helfen.

„Wie – eigensinnig will mein Liebchen sein?“ frug sie schalkhaft zärtlich. „Nun meinetwegen, bleibe Du sitzen, wenn es Dir Freude macht! … Was aber wohl Papa sagen würde, wenn er die kleine Reichsgräfin Sturm als Kindermädchen auf dem Fußboden kauern sähe! Oder die Großmama! … Weißt Du noch, Engelchen, wie sie zürnte und schalt, weil Dir im vorigen Jahr auf Deine Bitten die Frau des Jägers Schmidt ihr Kind auf den Schooß gegeben hatte? … Nun ist sie todt, die liebe, schone Großmama, aber Du weißt ja, daß sie im Himmel ist und immer sehen kann, was ihre kleine Gisela thut – in diesem Augenblick betrübt sie sich gewiß recht sehr, denn was Du thust, schickt sich ja nicht für Dich!“

„Es schickt sich nicht für Dich!“ das war die Zauberformel, mittels welcher diese Kinderseele regiert wurde. Nicht, daß das aristokratische Element so dominirend in ihr ausgebildet gewesen wäre, um jedes verpönte Begehren mit seiner Hülfe zu unterdrücken – dazu war das Kind noch zu jung; aber „es schickt sich nicht für Dich!“ hatte ja „die liebe, schöne Großmama“ so oft gesagt, ehe sie in den Himmel gegangen, und sie war und blieb der Inbegriff der Erhabenheit und Unfehlbarkeit für die kleine verwais’te Enkelin. … Noch saß die Falte des Zorns zwischen Gisela’s Brauen, und ihre Augen hingen beunruhigt an dem kleinen Ausgesetzten auf dem Boden, aber als die Gouvernante mit ihren weichen, weißen Händen sanft die schmale, leichte Gestalt zu sich emporzog, da ließ sie sich willenlos greifen, wie ein Vogel, der keinen Ausweg mehr sieht – Frau von Herbeck kehrte mit ihr zum Sopha zurück und behielt ihre Hand zwischen den ihrigen.

Fritzchen sah sich plötzlich einsam und verlassen. Er warf seinen Zwieback hin, streckte die Aermchen empor und wollte genommen sein; allein Jutta wandte sich ab – sie war noch immer beschäftigt, ihre etwas derangirten Locken und die verschobenen Falten des Kleides wieder zu ordnen – und Frau von Herbeck machte ihm ein bitterböses Gesicht und drohte heftig mit dem Finger. Der arme, kleine Schelm starrte sie lange erschrocken und unverwandt an – seine großen, blauen Augen füllten sich allmählich mit Thränen, während ein Jammerzug die Mundwinkel herabsenkte – endlich brach er in ein bitterliches Weinen aus.

Sofort eilten die raschen Füße der Pfarrerin die Treppe herauf, und ehe sich die Damen dessen versahen, stand sie in der Thür. Dort saß ihr „Herzblättchen“ ausgestoßen und verlassen auf dem kalten Fußboden, und die vornehmen Frauengestalten auf dem Sopha schmiegten sich aneinander, als zusammengehörig und als könne der Raum zwischen ihnen und dem plebejischen Kinde nicht weit genug sein.

Nicht ein Wort kam über die Lippen der beleidigten Mutter, nur eine tiefe Blässe bedeckte für einen Augenblick das blühende Gesicht. Sie hob ihren Knaben empor und preßte ihn heftig an sich; dann wickelte sie ihn in das warme Tuch und schritt nach der Thür zu. Dieses lautlose Schweigen, die fast königliche Haltung der einfachen Frau, die es unter ihrer Würde hielt, ihrem tiefverletzten Gefühl Ausdruck zu geben, imponirten selbst der gewiegten Welt- und Salondame auf dem Sopha.

„Meine beste Frau Pfarrerin,“ rief sie, leicht verlegen, aber mit einschmeichelnder Stimme ihr nach, „ich bedauere, daß wir den Kleinen nicht besser beschäftigen konnten, aber er war sehr unruhig, und Fräulein von Zweiflingen ist doch noch zu angegriffen –“

„Ich kann es mir selbst nicht verzeihen, daß ich das nicht besser überlegt habe,“ antwortete die Pfarrerin einfach, ohne Bitterkeit, und ging hinaus.

„Lassen Sie sich dies Rencontre lieb sein, Kindchen!“ flüsterte die Gouvernante, als sie auch auf Jutta’s Gesicht einen Zug der Scham und Verlegenheit bemerkte. „Mit dieser einen Zurechtweisung hab’ ich Sie vor einer unübersehbaren Reihe widerwärtiger Zumuthungen bewahrt. … Das ist auch eine jener ‚wackeren deutschen‘ Hausfrauen, die vor lauter Tugend und Vortrefflichkeit unausstehlich werden. Zudringlich mit ihrer Weisheit, fahnden sie förmlich auf junge Mädchenseelen und pressen die unschuldigen Lämmer ohne Gnade in den Pferch der sogenannten ‚Weiblichkeit‘, die da nichts erlaubt, als Bibel, Kochtopf und Strickstrumpf. … Das, was wir eben erlebt haben, war der erste leise Versuch der überklugen Frau – war ich nicht da mit meinem Einspruch, da saßen Sie bereits morgen drunten und stickten den alten Rock des Herrn Pfarrers oder die zerrissenen Höschen der geistlichen Sprößlinge.“

Jutta fuhr empor – in diesem Moment konnte sich das aufglühende Mädchengesicht getrost neben den hochmüthigen Zügen des stolzesten Ahnhern in der Halle des Waldhauses behaupten – das war genau jener kalt zurückweisende Zug um die Lippen, jener verächtlich abwärts zuckende Blitz aus den halbgeschlossenen Augenlidern, der da sagte: „was nicht neben oder über mir steht, existirt nicht für mich!“

Frau von Herbeck legte den Arm wieder um die schlanken

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_067.jpg&oldid=- (Version vom 8.8.2016)