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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Der Untersuchungsrichter gab ihnen Chauveau Lagarde, den Vertheidiger von Marie Antoinette, zum rechtskundigen Rathgeber, der, wie es scheint, jedoch kaum einen namhaften Versuch gemacht hat, seine Clienten zu retten. Die Vertheidiger spielten vor dem Revolutionstribunal überhaupt eine traurige Rolle, nach dem Proceß Danton wagten sie kaum noch ihre Stimme zu erheben. Durch das Gesetz vom 27. Prairial wurde die Vertheidigung ganz abgeschafft.

Sich weiter über die Sache aufzuklären, hielt der „gewissenhafte“ Richter nicht für nothwendig.

Am 26. April 1794 erschienen die Angeklagten vor dem Revolutionstribunal. Es waren ihrer Fünfunddreißig, und zwar sieben junge Mädchen: Susanne Henry, sechsundzwanzig Jahr alt, Gabrielle Henry, fünfundzwanzig Jahr alt, Barbe Henry, siebenzehn Jahr alt, Anna Wattein, fünfundzwanzig Jahr alt, Henriette Wattein, dreiundzwanzig Jahr alt, Helene Wattein, zweiundzwanzig Jahr alt, Claire Tabouillot, siebenzehn Jahr alt. Die sechs Ersten waren Waisen, Claire Tabouillot hatte noch eine Mutter, welche mit auf der Anklagebank saß. Die Damen Henry waren Töchter eines früheren Gerichtspräsidenten von Verdun, die Watteins waren Töchter eines verstorbenen Officiers, der Vater von Claire Tabouillot war Staatsanwalt am Verduner Gericht gewesen.

An ihrer Seite saßen sieben ältere Frauen, zusammen also vierzehn Frauen. Außerdem waren vier Männer des Hochverraths angeklagt, darunter der Commandant Neyon, fünf unbeeidigte Geistliche, welche während der Occupation wieder in ihr Amt eingetreten waren, ein Gensdarmeriehauptmann und fünf Gensdarmen, denen man lächerlicher Weise zum Vorwurf machte, die Ordnung zu Gunsten der Preußen aufrecht erhalten zu haben, und endlich sechs Bürger Verdun’s, denen man unpatriotische Gesinnung zur Last legte.

Präsident des Gerichtshofes war Dumas, als öffentlicher Ankläger fungirte der berüchtigte Fouquier-Tinville. Das abgehärtete Publicum, welches den täglichen Sitzungen des Revolutionstribunals beiwohnte und die Verurtheilung von Frauen, Greisen, ja sogar seiner eigenen Königin ohne ein Zeichen von Mitleid angehört hatte, wurde durch den Anblick so vieler Schönheit und Kindlichkeit, wenn auch nur auf Augenblicke, gerührt. Arm in Arm erschienen die jungen Mädchen vor den Schranken, freimüthig ihre angeblichen Verbrechen eingestehend, voll Selbstverleugnung und Heroismus. Nur der bübische Fouquier-Tinville theilte nicht die Bewegung, die sich Aller bemächtigt hatte.

Als die Rede auf den Triumphwagen kam, rief er aus: „Wohlan, wenn es ein Mistwagen gewesen ist, so erkläre ich, daß er seine eigentliche Bestimmung niemals mehr erfüllte, als da er Euch Frauen zum Lager des Tyrannen fuhr!“

Das rührendste Intermezzo bildete das Benehmen von Barbe Henry und der Damen Wattein, welche, wie schon erwähnt worden ist, einen armen emigrirten Freund unterstützt hatten. Jede der Letzteren suchte die ganze Verantwortlichkeit auf sich zu nehmen und von ihren Schwestern abzuwälzen. Als man an Barbe Henry die Frage richtete, ob sie durch ihre Angehörigen zum verhängnißvollen Besuch des Lagers gezwungen worden sei, warf sie sich in die Arme ihrer geliebten Schwestern, und rief aus, „daß sie aus eigenem Antrieb dorthin gegangen sei, und daß sie das Schicksal ihrer Schwestern theilen wolle!“

Und all’ dieser Tugend, dieser Reinheit gegenüber, scheute sich das Journal der Henker, das Bulletin du Tribunal, nicht, in die frechen Worte auszubrechen: „Zum Unglück für den Triumph der Unschuld haben diese jungen Mädchen, sei es aus schlecht verstandener Hartnäckigkeit, sei es aus Anhänglichkeit an ihre Angehörigen, die humanen Absichten des Gerichtshofes nicht unterstützt, der alle Anstrengungen machte, um sie dem Schwerte des Gesetzes zu entziehen.“ So sprach ein Organ der Republik, die auf ihr Banner „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ geschrieben hatte und die Eltern- und Geschwisterliebe mit Preisen krönen wollte.

Auf den Antrag Fouquier-Tinville’s wurde den Geschworenen nur die einzige Frage gestellt: „Ist es gewiß, daß Umtriebe gemacht worden sind, die darauf hinzielten, den Feinden Verdun zu überliefern, die Fortschritte ihrer Waffen auf französischem Boden zu begünstigen, die Freiheit und Volksvertretung zu zerstören und den Despotismus wieder herzustellen?“ Es folgten die Namen der Angeklagten, begleitet mit der Bemerkung: „Ist der Benannte Mitschuldiger dieser Umtriebe?“ Bei Barbe Henry und Claire Tabouillot war dieser banalen Frage eine zweite hinzugefügt: „Haben sie es mit Vorbedacht gethan?“

Nach der Erklärung der Jury, die natürlich in den Hauptfragen bejahend und nur in den Nebenfragen verneinend ausfiel, sprach der Gerichtshof, gewöhnt an diese Rottenfeuer, dreiunddreißig Todesurtheile aus, während den genannten zwei Mädchen ein noch fürchterlicheres Schicksal aufgespart bleiben sollte, nämlich sechsstündige Ausstellung auf einem Schaffot und zwanzigjährige Gefangenschaft. Auch die eine der Damen Wattein, welche gar nicht im Lager gewesen war, wurde mit verurtheilt.

Kaum war das Verdict gefällt, als sich die jungen Mädchen, einer unwillkürlich enthusiastischen Bewegung folgend, einander in die Arme warfen und mit erhobener Stimme ihr Schicksal priesen, das ihnen vergönnte, vereint in den Himmel einzugehen, wo eine unsterbliche Krone und die geliebten Eltern ihrer harrten. Die drei Stunden, die ihnen, wie fast allen Verurtheilten, zwischen dem Ausspruch des Gerichtshofes und der Ankunft der Henker zugestanden wurden, verbrachten sie im Gebet und mit Vorbereitungen zum Tode. Und Eins sollten die dreiunddreißig Opfer einer schmachvollen Justiz vor vielen ihrer vorangegangenen Leidensgefährten voraushaben, nämlich den Trost der Religion, denn mit ihnen in dem dunkeln Saal eingeschlossen, wo sie die Henkersknechte erwarteten, übten die gleichzeitig mit verurtheilten fünf Geistlichen durch Entgegennahme der Beichte und Ertheilung der Absolution ihr Amt aus. Auch den nicht zum Tode verurtheilten Mädchen hatten die mitleidigen Kerkermeister gestattet, die letzten Stunden ihrer Freundinnen und Geschwister mit diesen verleben zu können. Da tritt plötzlich der Scharfrichter mit seinen Gehülfen ein, von denen einer sich Barbe Henry nähert, um ihre Haare unter sicherer Scheere fallen zu lassen in der Hoffnung, so mit den ihrigen sterben zu können, fügt sich die junge Heldin willig dem rohen Gebahren, ihre älteste Schwester jedoch entreißt sie den Händen des Henkerknechtes, und so wird Barbe Henry gerettet.

Als sich die verhängnißvollen Karren nach dem Revolutionsplatze in Bewegung setzten, war der Tag bereits der Nacht gewichen und nur das unsichere Licht einiger Fackeln, bei deren Scheine damals öfters Hinrichtungen stattfanden, leuchtete den Unglücklichen auf ihrem letzten Gange. Wie sonst folgte auch ihnen eine große Volksmenge, aber diesmal ohne in die gewohnten Rohheiten auszubrechen, selbst die entmenschten Weiber der Guillotine waren gerührt. Rings um das Schaffot hörte man Schluchzen, ja Lamartine erzählt, daß sogar Samson, der Henker, Thränen vergossen habe. Nach einer Stunde war Alles vorüber. – Am folgenden Morgen wurden Claire Tabouillet und Barbe Henry in Trauerkleidern auf einem Schaffot ausgestellt. Ueber ihren Häuptern war die Inschrift angebracht, daß diese schwachen Wesen die Stadt Verdun dem Feinde überliefert hätten, indem sie ihn mit Lebensmitteln und Kriegsmunition versorgten. Sechs Stunden dauerte diese Pein, aber die Menge, menschlicher als die damaligen Gewalthaber, hat nicht ein einziges Mal die armen Opfer insultirt. Die darauf folgenden Zeitereignisse gaben ihnen nach achtundzwanzigmonatlichem Gefängniß ihre Freiheit wieder. –

Zwanzig Jahre waren verflossen. Die stolzen Adler des Kaiserreichs lagen im Staube, und wiederum befand sich ein preußischer König auf französischem Boden, aber jetzt als Sieger. Im Mai des Jahres 1814, als Friedrich Wilhelm der Dritte noch in Paris weilte, sollte er auf eigenthümliche Weise an die erzählte Episode erinnert werden, die ihn um so mehr interessiren mußte, als der Kriegszug seines Vaters die unmittelbare Veranlassung zu derselben gewesen war. Barbe Henry, welche ihre Gefährtin überlebt hatte, wandte sich mit einem Briefe an den König, der ihn nach dem Moniteur vom 3. September 1815 folgendermaßen beantwortete:

„Ihr Brief vom 25. Mai hat mich an eines der traurigsten Ereignisse der französischen Revolution erinnert, eine Schandthat, deren Andenken das Herz des verstorbenen Königs, meines Vaters, mit Bitterkeit erfüllte; ich halte es für meine Pflicht, dem Opfer, welches diese schreckliche Frevelthat überlebt hat, ein Zeichen meiner Theilnahme zu geben. Ich habe mir vorgenommen, Ihnen von Berlin aus einen Schmuckgegenstand zu senden, der Ihnen den Antheil in’s Gedächtniß zurückrufen soll, den ich an Ihrem Schicksal und dem ihrer unglücklichen Gefährtinnen genommen habe.

Im Hauptquartier zu Paris, 2. Juni 1814.

Friedrich Wilhelm.“  
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_058.jpg&oldid=- (Version vom 26.1.2022)