Seite:Die Gartenlaube (1869) 041.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

der Lippen genügte, sich den Kindern verständlich zu machen. Der Name meines Begleiters, der, obgleich kurz, aus vier schweren Consonanten besteht, die mittels nur eines Vocals verbunden werden, machte den Kindern mehr Mühe als der meinige; dennoch gelang es nach einiger Anstrengung dem kleinen Knaben denselben richtig auszusprechen, und ein Strahl der Freude überflog sein Gesichtchen und auch das Antlitz des Lehrers. Ferner giebt der Lehrer sich die größte Mühe, den Kindern die richtige Betonung der Sylben zu lehren. Er hält ihre Hände und accentuirt die einzelnen Wörter dadurch, daß er erstere aufhebt und wieder fallen läßt; er fühlt ihre Gurgel und läßt sie wiederum die seinige beim Sprechen befühlen. Gewiß würde es hart sein, wenn so viel Geduld und Treue nicht in den gewünschten Erfolgen ihren Lohn fänden. –

So weit dasCornhill-Magazine“. Da aber das englische Blatt diese kleinen Erfolge noch außerdem als etwas ganz Außerordentliches hinstellt und voller Bewunderung ausruft: „Stumme reden in England“; da es die kleine israelitische Anstalt „eine Art englischer Ausführung eines großen internationalen Unternehmens“ nennt, so gilt es doch den Engländern und theilweise auch den Franzosen nachdrücklich zu zeigen, daß sie in dieser Beziehung hinter den Deutschen um volle hundert Jahre zurückgeblieben sind, und deshalb will ich hier die Resultate deutscher Taubstummenbildung in Kürze vorführen, nachdem ich bereits vor Jahren in der Gartenlaube eine der größern Taubstummenanstalten, die zu Leipzig, ausführlich geschildert habe.

Vor einigen Jahren erzählten die Zeitungen von einem Festmahle, das französische Taubstumme zu Ehren des Abbé de l’Epée, des Begründers des französischen Taubstummenunterrichts, veranstaltet hatten. Dabei waren pantomimische Toaste ausgebracht worden, die von den Taubstummen enthusiastisch aufgenommen, selbstverständlich aber von den anwesenden hörenden Gästen nicht verstanden wurden. Man gehe nun in ein deutsches Institut, wo vielleicht eben das Stiftungsfest der Anstalt gefeiert wird und die Zöglinge mit den Lehrern und Freunden der Schule an der Festtafel sitzen. Jetzt erhebt sich einer der älteren Zöglinge, um einen Toast auszubringen. Er klopft nicht mit dem Messer an das Glas, denn das würde die Aufmerksamkeit seiner Schicksalsgenossen nicht erregen, da sie taub sind, er pocht mit der Hand auf die Tafel und, von der Erschütterung berührt, wenden sich Aller Augen ihm zu. Nun spricht er zu seinen Mitschülern mit lauter, wenn auch etwas monoton klingender Stimme, sie lesen die Worte von seinem Munde ab und antworten mit einem jubelnden Vivat. Da kann man wohl für einen Augenblick vergessen, daß man sich im Taubstummeninstitut befindet. Die Taubstummen sind entstummt, und wir verstehen sie. Freilich noch effectvoller nimmt sich ein pantomimischer Toast für den Hörenden aus; die ungewöhnlichen Bewegungen mit den Händen, das lebendige Mienenspiel imponiren oft mehr als das einfache Wort und darum bewundert Mancher das Ungewöhnliche, obschon er kein Verständniß dafür hat. Wohl unterhalten sich auch deutsche Taubstumme, namentlich die weniger Gebildeten, untereinander in der Geberdensprache, aber mit den Hörenden verkehren sie in mündlicher Rede.

Im Durchschnitt erreichen die Schüler in unsern Taubstummenanstalten nach sechs- bis siebenjährigem Schulbesuch in Kenntnissen und Fertigkeiten das Ziel einer gewöhnlichen Volksschule. Sind sie auch hie und da in den Realien etwas zurück, so stehen sie dagegen in den Fertigkeiten (Schönschreiben, Zeichnen etc.) gewöhnlich auf höherer Stufe. Alle Zöglinge in deutschen Taubstummenschulen lernen sprechen, und manche sprechen so rein und deutlich, daß sie von jedem Hörenden verstanden werden. Großes haben aber einzelne Taubstumme dadurch erreicht, daß sie auch nach der Schulzeit unablässig an ihrer Weiterbildung gearbeitet haben. Jede Anstalt wird hierzu Belege bieten können. Hier seien nur zwei Männer genannt, die auch in weiten Kreisen sich Anerkennung erworben haben – die beiden Taubstummenlehrer O. F. Kruse in Schleswig und C. M. Teuscher in Leipzig. Beide Männer, von Kindheit an taub, haben sich zu einer geistigen Höhe emporgearbeitet, die sie befähigt hat, selbst als Lehrer ihrer Schicksalsgenossen auftreten zu können. Kruse hat sogar als Schriftsteller bei seinen Fachgenossen sich einen rühmlichen Namen zu erwerben gewußt.

Carl Teuscher war als Lehrer in mancher Beziehung fast unerreichbar. Er las so schnell vom Munde ab und seine Sprache war so rein und verständlich, daß Viele längere Zeit mit ihm verkehrten, ohne zu merken, daß er von Kindheit an taub gewesen. Dabei besaß er ein technisches Geschick, das fast an’s Unglaubliche grenzte. Fast vom Zusehen lernte er tischlern, pappen, flechten, und im Zeichnen, Turnen, Schlittschuhlaufen, Schwimmen, Reiten, Billardspielen war er Meister, wie Alle bezeugen werden, die ihn näher gekannt haben, und er war in Leipzig eine bekannte Persönlichkeit. Auch in schriftstellerischer Beziehung ist er thätig gewesen und hat in dem von Dr. Hirzel herausgegebenen Hauslexikon eine nicht geringe Anzahl Artikel bearbeitet.

Ein Hauptvergnügen in den Taubstummeninstituten bilden kleine theatralische Aufführungen. Da brachte eines Tages Teuscher seinen Schülern ein kleines Lustspiel mit, das er selbst nach einer Erzählung der Gartenlaube – „Die schönste Nase“[1] – bearbeitet hatte. Das zweite Schulfest, der vierte September, rückte heran und an diesem Tage sollte die Aufführung stattfinden. Die Rollen wurden vertheilt und natürlich den besten Sprechern übergeben. In den Freistunden entfaltete sich nun eine geheimnißvolle Thätigkeit, und als der längsterwartete Tag erschien, da erhob sich im Garten eine kleine, recht nett gebaute Bühne, deren Emporwachsen namentlich von den kleineren Zöglingen mit lautem Jubel und vielen Freudensprüngen begrüßt wurde. Die Schulbänke wurden für die Zuschauer herausgeschafft, unter denen sich auch die Lehrer mit ihren Familien und andere Hörende befanden. Jetzt rollte der Vorhang empor und die kleinen Schauspieler lösten ihre Aufgabe vortrefflich. Sie sprachen fast alle so gut, daß sie auch von den anwesenden Fremden, wir führen hier nur den Redacteur der Gartenlaube an, verstanden wurden. Und nicht nur die Leipziger, auch andere deutsche Taubstummenanstalten wissen von ähnlichen Theateraufführungen zu erzählen.

In solchen Erscheinungen gipfelt sich die deutsche Taubstummenbildung. Was wollen dagegen die dürftigen Anfänge in England sagen?

Sehen wir nun, auf welchem Wege wir zu solchen Resultaten gelangen.

Da ist heute eben Aufnahme neuer Schüler im Institute. Mit thränendem Auge bringen die Eltern ihre kleinen Lieblinge, die ihnen ihrer Hülflosigkeit wegen um so mehr an’s Herz gewachsen sind. Aengstlich verkriechen sich die Kleinen hinter Vater und Mutter, denn sie fühlen recht wohl, daß jetzt etwas Ungewöhnliches kommen wird. Und nun ist der unvermeidliche bittere Abschied da, der beiden Theilen oft heiße Thränen auspreßt. Indeß die Kinder beruhigen sich bald; freundliche Gesichter ringsum, fröhliche Spiele und liebevolle Pflege lassen sie bald heimisch in der Anstalt werden, so daß nach und nach auch zu ernsterer Beschäftigung in der Schule geschritten werden kann.

Zunächst ist nur die Pantomime – Geberdensprache – das Verständigungsmittel zwischen Lehrer und Schülern. Die Pantomime ist des kleinen Taubstummen Muttersprache, denn schon im Elternhause hat er für die ihn umgebenden Dinge, sowie für seine kleinen Bedürfnisse bestimmte, seinen Angehörigen verständliche Zeichen gebraucht. Jetzt im Institute eignet er sich bald im Umgange mit anderen Taubstummen die daselbst gebräuchlichen den seinen ähnlichen Zeichen an. Er hat gewissermaßen nur eine Dialektverschiedenheit zu überwinden. Der Lehrer versteht natürlich diese Pantomimen auch, sie erwerben ihm das Vertrauen seines kleinen Schülers und führen ihn in sein Seelenleben ein. Bald beginnt auch der Unterricht im Sprechen, die Bildung der Articulation. Auge und Gefühl müssen hier das Gehör ersetzen. Jeder Laut ist nicht nur hörbar, er ist auch sichtbar, denn er erfordert eine besondere Mundstellung. Habe ich a zu sprechen so muß ich den Mund ganz anders stellen, als wenn ich i oder u sprechen will. Darauf beruht der Articulationsunterricht. Eine Art Toilettenspiegel wird nun herbeigeholt und mit Hülfe desselben werden dem Schüler die Sprechwerkzeuge gezeigt, die für ihn bis jetzt nur Eßwerkzeuge gewesen sind. Nun giebt der Lehrer dem kleinen Taubstummen die Mundstellung zum a, und indem er die eine Hand des Kindes an seinen Kehlkopf, die andere auf seine Brust legt, spricht er mit starker volltönender Stimme a. Aufmerksam verfolgt der Schüler die hierbei entstehenden Bewegungen; er fühlt den ausströmenden Luftstrom, das Zittern des Kehlkopfes

  1. Gartenlaube 1859, S. 281.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_041.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)