Seite:Die Gartenlaube (1869) 035.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

anfänglich betreten, führte, ungefähr dreißig Schritte entfernt, an der Nordseite des Hauses vorüber. Er lief ziemlich gerade über den hier sehr flachen Bergrücken in der Richtung nach A. und vereinigte sich drunten wieder mit der Chaussee, die in weitem Bogen den Fuß des Berges umschrieb – er verkürzte die Strecke zwischen Neuenfeld und der Stadt um mindestens eine halbe Stunde. Dieser Umstand und die köstliche Waldeskühle machten, daß der Weg nicht allein von den Holzfuhrknechten benutzt wurde. Die Dorfleute gingen hin und wieder und kehrten auch öfter bei Sievert ein, um kleine Bestellungen für ihn in der Stadt zu besorgen. An heißen Tagen aber vermieden auch die Reisenden zu Wagen die staubige Chaussee und vergaßen die holperigen Geleise über dem Frieden und der grünen Dämmerung des Waldes. Diese Lebensader, die das Dickicht durchlief, wurde den Bewohnern des Waldhauses freilich nur bemerkbar durch herüberklingendes Lachen und Plaudern von Menschenstimmen, lustiges Peitschenknallen und bei trockenem Wetter durch das Rasseln der Räder – ebenso wußten die Wenigsten, die da drüben vorüberzogen, um das Dasein des uralten Jagdschlößchens im Herzen des Waldes, denn ein wildverwachsenes Unterholz, überragt von dichtgeschaarten Buchenkronen, trennte das Haus von dem Fahrweg. Mit dem Eintritt des Winters jedoch verstummten die Laute eines lebendigeren Verkehrs vollständig. Nur die Dohlen, die, seit Jahrhunderten auf den Thürmen nistend, ihre Geschlechtstafel getrost neben die verwitterte drunten in der Halle hängen durften, und die ihr angemaßtes Vorrecht im Walde zäher und hartnäckiger zu behaupten wußten, als die besiegelten Pergamentstreifen der Herren von Zweiflingen es vermocht hatten – sie kreisten flügelklatschend über dem einsamen Hause, und ihr mißtönendes Geschrei war oft wochenlang die einzige Lebensäußerung, die von draußen her in das stille Thurmzimmer drang.

Der vereinzelte Ruf einer Menschenstimme war demnach von überraschender Wirkung für die beiden Frauen. Die Blinde fuhr empor aus ihrem apathischen Hinbrüten, und Jutta öffnete rasch den Flügel des einen unverhüllten Fensters. Mit dem Windstoß, der ihr entgegenfuhr, drang auch deutlicher ein wiederholter Ruf herein, das laute Holla einer Männerstimme; es klang von der nördlichen Seite des Hauses herüber und galt offenbar Sievert’s erleuchteten Fenstern. Eine halbverwehte Antwort des alten Soldaten erfolgte, und nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Fremden kam er aus seiner Stube und schritt nach der Hausthür.

Jutta nahm das Licht und ging hinaus in die Halle in dem Augenblick, wo Sievert den schweren Thürflügel zurückschlug und, auf die Galerie tretend, eine brennende Laterne in die undurchdringliche Finsterniß hinaushielt.

Rasche, feste Schritte kamen über den schmalen Wiesenfleck, der sich vor dem Hause hinstreckte. Am Fuß der Treppe machten sie Halt, und gleich darauf trippelten ein Paar leichte Füßchen die Stufen hinauf.

„Meine beiden Kutscher sind auf den Tod erkrankt,“ sagte draußen eine tiefe Stimme von sehr angenehmem Klang, wenn sie auch im Unwillen und, wie es schien, infolge körperlicher Anstrengung bebte. „Ich war gezwungen, mit dem Postillon zu fahren, und weil der Mensch während des Sommers meist den Holzfahrweg benutzt hat, so ist er stupid genug, auch in dieser entsetzlichen Nacht in den engen, bodenlosen Schacht einzubiegen. Der Sturm hat uns wiederholt die Laternenflammen ausgeblasen, und mein Wagen steht da drüben wie eingemauert. Ist nicht Jemand da, der bei den Pferden bleiben möchte, bis der Postillon Vorspann geholt hat, und können wir einstweilen hier eintreten?“

Jutta trat rasch in das Bereich der Thür. Sie hielt die Hand schützend vor das flackernde Kerzenlicht; dadurch wurde der Strahl desselben doppelt kräftig auf das Gesicht und die Büste des jungen Mädchens geworfen, und wie sie so dastand, den blumengeschmückten Lockenkopf mit dem Ausdruck lächelnder Spannung vorgeneigt, während der Flammenschein des Kamins hinter ihr aufzuckte und die Bilder und Hirschköpfe als nebelhafte, fremdartige Gestalten von den Wänden herabdämmerten – da mußten wohl die in Sturm und Nacht draußen Stehenden unwillkürlich an eine jener wunderholden Erscheinungen denken, wie sie das Märchen in alten verzauberten Schlössern walten und weben läßt.

Bei Jutta's Hervortreten erschien denn auch sofort ein kleines, ungefähr sechsjähriges Mädchen auf der Schwelle und sah mit neugierigem Erstaunen zu der jungen Dame empor; es war so winterlich vermummt, daß nur ein schmales Näschen und ein Paar groß und weit aufgeschlagene Augen sichtbar wurden; aber diese Umhüllung erschien in allen Einzelnheiten höchst elegant und von kostbarem Stoff. Das Kind trug einen ziemlich umfangreichen Gegenstand auf dem Arme, über den es sorgsam das Mäntelchen hielt. … Und jetzt tauchte auch eine Männergestalt aus dem Dunkel empor – unter der dunkelglänzenden Pelzverbrämung der Mütze leuchtete förmlich die tiefe Blässe eines sehr vornehmen Gesichts. Die Hast, mit welcher der Herr plötzlich die Stufen heraufsprang, mochte möglicherweise auch dem Gefühl augenblicklicher Ueberraschung entspringen – dagegen zeigten die Züge bereits wieder eine vollkommene Gelassenheit, als er Jutta gegenüber stand. Er schob das Kind in die Halle und verbeugte sich leicht, mit der ganzen Ungezwungenheit des vollendeten Cavaliers, vor dem jungen Mädchen.

„Drüben im Wagen wartet eine Dame in leicht verzeihlicher Angst und Furcht auf meine Rückkehr,“ sagte er mit einem kaum bemerkbaren Lächeln, das aber im Verein mit der überaus wohlklingenden Stimme einen eigentümlichen Zauber gewann. „Haben Sie die Güte, dies Kind einstweilen auf Treu und Glauben in Ihren Schutz zu nehmen, bis ich zurückkommen und mich in aller Form vorstellen kann.“

Statt aller Antwort legte Jutta mit einer anmuthigen Bewegung den Arm um die Schultern der Kleinen und führte sie nach dem Wohnzimmer, während der Fremde in Sievert’s Begleitung nach dem Fahrweg zurückkehrte.

„Mama, ich bringe einen Gast, ein allerliebstes kleines Mädchen!“ rief die junge Dame fröhlich in der Thür – der Eindruck des vorigen peinlichen Auftrittes schien völlig verlöscht in ihrer Seele. Sie erzählte in raschen Worten das Ereigniß im Walde.

„Nun, dann besorge heißen Thee!“ sagte Frau von Zweiflingen und richtete sich auf. Ihre abgezehrten Hände streiften ordnend über die Falten des ärmlichen Kleides und betasteten Haar und Haube, ob auch Alles in Ordnung sei. Trotz aller inneren Lostrennung von Welt und Leben lag doch noch etwas in ihr, das unbewußt fortlebte und sich in geeigneten Momenten geltend machte: das Festhalten am Decorum; und wie sie dort saß, den kranken Rücken gewaltsam aufrichtend und die bleichen Hände lässig, aber doch nicht ohne Grazie in dem Schooß gekreuzt, da suchte man freilich nicht das Original jener bestrickenden Mädchenerscheinung über dem Sopha in ihr; allein es ließ sich nicht verkennen, daß diese gebrechliche Gestalt einst in glänzenden Salons ganz an ihrem Platze gewesen sein mußte.

„Komm her und gieb mir eine Hand, mein Kind!“ sagte sie und neigte den Kopf mit dem Ausdruck freundlicher Güte nach der Richtung, wo die kleine Fremde stehen geblieben war.

„Gleich, liebe Frau!“ antwortete die Kleine, die bis dahin die hinfällige alte Dame mit einer gewissen Scheu betrachtet hatte, – „ich will nur erst Puß vom Arme thun.“

Sie schlug das Mäntelchen zurück – der schneeweiße Kopf einer Angorakatze kam zum Vorschein. Das Thier war bis an die Ohren in eine rothseidene wattirte Decke gewickelt und strebte augenscheinlich nach der goldenen Freiheit. Jutta half die weiche Hülle abwickeln, dann wurde Puß vorsichtig auf den Fußboden niedergelassen. Er reckte und streckte die Glieder, die offenbar unter dem Druck allzugroßer Zärtlichkeit und Fürsorge gelitten hatten, machte einen krummen Buckel und stieß ein klägliches Miau aus.

„Pfui, schäme dich, du bettelst, Puß?“ schalt das kleine Mädchen vorwurfsvoll, warf aber trotz dieser beschämenden Zurechtweisung des Lieblings einen verlangenden Blick nach dem Milchtopf auf dem Tisch.

„Aha, Puß hat Milchappetit!“ lachte Jutta. „Nun, er soll nachher bekommen, aber erst wollen wir dem Kind Kapuze und Mantel abnehmen.“

Sie griff nach der Umhüllung; allein die Kleine trat zurück und schob die Hände weg. „Ich will es selbst thun!“ sagte sie mit sehr viel Entschiedenheit im Ton. „Ich leide das auch von Lena nicht – sie thut so immer, als sei ich eine Puppe.“

Damit nahm sie Kapuze und Mantel ab und legte Beides

auf Jutta’s Arm. Die Finger der jungen Dame glitten mit

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_035.jpg&oldid=- (Version vom 18.9.2021)