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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Er hatte jedoch falsch geschworen, denn noch in derselben Woche wurden ihm zwei andere lose Streiche gespielt. –

Stahl hatte sich oft auf das Bitterste beklagt, daß er in allen Novitäten nur mit unbedeutenden kleinen Rollen oder Episoden betheilt wurde. An einem Abende brachte ihm der Theaterdiener zu einer neuen Posse, die auf dem Repertoire stand, seine Rolle in die Theatergarderobe.

„Morgen um neun Uhr Probe und Abends Vorstellung, Herr Stahl!“ sagte der Theaterdiener Maxel phlegmatisch, indem er sich den Empfang der Rolle bestätigen ließ.

Die Rolle war ein Ungeheuer, wie sie kein Mime noch gesehn. Stahl wog sie mit einem Gesichte, das kein Spiegel wiedergeben kann, in der Hand. Eine Rolle von mindestens zwanzig Bogen! Und die sollte er bis morgen studiren, – es schwindelte ihm vor Entsetzen und Entzücken! Nach der Vorstellung lief er nach Hause, als ob ihm der Kopf brannte, ließ eine halbe Klafter Holz in den Ofen werfen, schwarzen Kaffee sieden, hüllte sich in seinen Schlafrock, zündete eine Kerze an und nahm das Ungeheuer in die Arbeit. Es war von der ersten bis zur hundertundvierundsechszigsten Seite ein schwülstiger, bombastischer Unsinn, aber Stahl declamirte ihn mit so kräftiger Stimme und so begeistert, als ob ihn Shakespeare oder Goethe gedichtet hätte. Er brauchte drei volle Stunden, bis er die Rolle ein einziges Mal durchgelesen, – und als er sie zwei Mal, drei Mal durchgelesen, wußte er noch immer nicht, was er gelesen hatte.

„Was muß denn das für ein Charakter sein?“ frug er kopfschüttelnd. Ich kenne mich nicht aus. Und diese Sprache, – bald in Versen, bald in Prosa, – bald local-, bald reindeutsch, – bald im jüdischen, bald im böhmischen Dialect, – sogar hebräisch und türkisch oder so was dergleichen hab’ ich einige Seiten zu reden. Zudem finde ich gar keinen Zusammenhang. Man weiß nicht, was der Mensch eigentlich will und warum er so viel plaudert. Eine verflucht schwierige Aufgabe das! Aber ich will sie lösen, mit Ruhm und Ehre lösen, damit sich der Director endlich überzeugt, welch’ ein schätzbares Mitglied er an mir hat!“

Stahl büffelte fort bis zum frühen Morgen, – und als er sich fast verrückt gebüffelt hatte, wankte er wie ein Trunkener zur Probe.

„Hinaus! Hinaus! Ihr Stichwort, Herr Stahl!“ rief der Inspicient nach der dritten Scene.

Mit übereinander geschlagenen Armen betrat Stahl die Bühne und declamirte mit Pathos:

„Ihr Götter seht, zum hüpfenden Gesellen
Springt nackt die keusche Nymphe aus den Wellen, –
Und die Kanonen donnerten am Meeresstrande,
Heil dir, mein Siegeskranz, im Vaterlande!“

„Was zum Teufel sprechen Sie denn da?“ rief höchst erstaunt Director Karl, der persönlich die Probe leitete.

Aber Stahl ließ sich nicht decontenanciren und declamirte weiter:

„Und innig küßt die leichtgeschürzte Dirne
Des weißen Stieres hochgewölbte Stirne,
Indeß Endymion ganz ruhig saß
Und Hammelfleisch mit sauren Gurken aß.“.

„Sind Sie toll geworden? Geben Sie mir Ihre Rolle!“ schrie der Director, indeß das lose Gesindel auf der Bühne und hinter den Coulissen Grimassen schnitt, wie Jemand, der niesen will und nicht darf.

Nachdem Karl das Ungethüm von Rolle empfangen und ganz verblüfft durchblättert hatte, rief er den Theaterdiener.

„Wie kommt Herr Stahl zu dieser Rolle, Maxel?“

„Sie ist ihm zugetheilt!“ antwortete der Theaterpudel. „Da, unter dem Titel der Posse, steht der Name Stahl unter dem Ihrigen, Herr Director.“

„So, so! Und wie bist Du zu dieser Rolle gekommen?“

„Wie zu den anderen. Ich habe sie in der Kanzlei in meiner Mappe gefunden.“

„Schon gut! Herr Stahl, man hat sich wieder einen Jux mit Ihnen gemacht. Sie haben in dem heutigen Stücke einen alten ehrwürdigen Diener zu spielen und nichts weiter zu sagen, als ‚Die Pferde sind gesattelt!‘“

Die Pferde sind gesattelt!!“ brüllte Stahl, daß die Logen zitterten und die Sperrsitze krachten, und stürzte davon, daß das Podium erbebte und die Donnermaschine zu arbeiten anfing.

„Ich kann den Eulenspiegel errathen, der sich da wieder einen Jux gemacht,“ sagte Director Karl, indem er einen Seitenblick auf Nestroy warf, – und er hatte richtig gerathen.

Freilich war es Nestroy, der aus hundert Blättern der Theater-Maculatur eine Rolle geschaffen, die den armen Stahl so stolz und fast verrückt gemacht hatte.




Ein preisgekrönter Lustspieldichter. Nachträglich zu Nr. 1, S. 9 haben wir noch zu berichten: Schauffert ist zu Winnweiler in der baierischen Pfalz geboren, hat in den Jahren 1848 bis 1852 in München die Rechte studirt und befindet sich, nachdem er früher in Waldmohr und Dürkheim Polizei-Commissär gewesen, seit 1868 als Landgerichts-Assessor in Germersheim. Beruf und Talent für die schönen Künste, für Malerei, Declamation und poetische Darstellung verrieth er schon in früher Jugend, und namentlich war es die eifrige Lecture Walter Scott’s, welche in dem Knaben zunächst eine starke Neigung zum erzählenden Genre weckte. Trotz des väterlichen Verbotes las er den englischen Dichter mit einer wahren Leidenschaft, so daß ihn der Vater zu seinem nicht geringen Erstaunen eines Tages im Schweinstalle fand, zu dessen Insassen er sich in homerischer Einfachheit mit seinem Scott’schen Roman zurückgezogen hatte.

Auf lyrischem und dramatischem Gebiete hatte sich Schauffert schon als Gymnasiast und Student versucht. So entstand während seines Münchener Aufenthaltes ein zweiactiges Lustspiel „Der Schmetterling“, so wie der Entwurf zu einer Tragödie „Kaiser Otto der Dritte“, welche aber nur bis zum dritten Acte ausgeführt wurde, da die Anforderungen des erwählten praktischen Berufes dem immer regen Drange zu dichterischem Schaffen Schranken setzten. Erst später sehen wir den jugendlichen Dichter zu poetischer Thätigkeit zurückkehren, damit aber zugleich, im Selbstgefühl seiner Begabung, eine dornenvolle Bahn der Entmuthigungen und schmerzlichen Erfahrungen betreten. Während seines Aufenthaltes in der Pfalz vom Jahre 1856 bis heute verfaßte Schauffert eine Reihe von Lustspielen, ohne daß es ihm gelang, auch nur eines derselben bei irgend einer deutschen Bühne anzubringen. Er war eben ein unbekannter, abseits der großen Heerstraße lebender Mann, der nicht die Trommel der Reclame zu rühren, nicht mit den beiden Ellenbogen sich Bahn zu schaffen wußte, und wie viel Unbedeutendes sah er gelobt und aufgeführt, während er selbst überall zurückgewiesen und dadurch zuletzt ganz abgestumpft und verbittert wurde.

Nur Einer hatte ihn mit scharfem Blick erkannt und in ihm mehr als einen Dilettanten gesehen. Es war der greise König Ludwig, der dem Dichter auf ein ihm zu seinem einundachtzigsten Geburtstage im Sommer 1866 gewidmetes Gedicht eine goldene Medaille mit seinem Brustbilde und der von einem Lorbeerkranz umschlungenen Inschrift „Merenti“, in Begleitung des folgenden Handschreibens übersandte: „Ihr Gedicht habe ich erhalten, und die Frage in Ihrem Briefe beantwortend, sage ich Ihnen, daß dasselbe den Weg zu meinem Herzen fand. Eine ausgezetchnete Dichtergabe besitzen Sie. Ihre Anhänglichkeit ist mir um so werther, weil Sie mich persönlich nicht kennen, was ich daraus ersehe, daß von Ihnen meine Haare silbern genannt werden, die noch blond sind. Beiliegende Medaille mit meinem Brustbilde wird Ihnen sagen, wie sehr den Dichter ehrt sein ihm wohlgewogener König Ludwig.“

Auch bei der im Jahre 1865 vom Münchener Actien-Theater ausgeschriebenen Preisbewerbung betheiligte sich Schauffert, und seine Lustspiele „Actuar Lackmann’s Hochzeitsabenteuer“ und „Die Zipplinger“ gehörten zu den wenigen Stücken, welche das Comité zur Aufführung empfahl. Doch kam es auch hier, trotz wiederholter Versprechungen, zu einer solchen nicht.

Da fiel endlich im Spätherbst 1867 die Wiener Preisausschreibung wie ein Blitzstrahl in die Seele des vergeblich ringenden Mannes und weckte ihn aus seiner brütenden Niedergeschlagenheit. Noch einmal griff er zur Feder, aber mit dem festen Vorsatze, dieselbe für immer zur Seite zu legen, wenn auch sein „Schach dem König“ wegen „mangelnder Bühnengerechtigkeit“ – die gewöhnliche Ausrede, mit welcher sich Intendanten und Directoren namenlose Schriftsteller vom Leibe halten – das Schicksal seiner Vorgänger theilen würde.

In Bezug auf den Erfolg bedarf es keiner Hinzufügung. Wir haben keinen Ueberfluß an guten Bühnendichtern. Es scheint, als ob in Schauffert eine glückliche Kraft gefunden sei, denn wie die Kritik allgemein anerkannt hat, ist „Schach dem König“ ein Lustspiel, bei dem „das Publicum kaum eine Minute aus dem Lachen kommt.“



„Aus tiefster Noth schrei ich zu Dir!“ Wenn diese Worte Martin Luther’s je gerechtfertigt einer gequälten Menschenbrust entflohn, so ist es die Brust eines deutschen Schriftstellers, der, voll redlichen Strebens und dichterischer Begabung, jetzt, wo er dem Grabe näher als der Wiege, durch unverschuldete Schicksalsschläge an den Bettelstab gebracht ist. Doch Fälle von hereingebrochener Armuth gehören nicht gerade zu den Seltenheiten. Wenn aber einem geistig strebsamen Manne mit der entschwundenen Habe auch das Licht der Sonne erlischt, wenn kein Glockenklang mehr an sein Ohr schlägt – wenn Blindheit und Taubheit mit bitterster Armuth im entsetzlichen Wettkampf um den Unglücklichen ringen, wo wäre da ein Menschenherz, das sich so großem Herzeleid verschließen könnte?

Ja, und in so großem Herzeleid lebt in Dresden ein Ehrenmann, der unter dem Schriftstellernamen „Heinrich Martin“ in einer Reihe von Bänden für Geist und Herz so manches Schätzbare geboten, dessen „Buch der Weisheit“ und dessen „Spruchgedichte“ von der Kritik einstimmig als preiswürdig anerkannt worden sind.

Er ist unstreitig der Hartgeprüfteste unter allen denen, welche je der Muse ihre Feder geliehen. Ach, die eingekerkerte Seele in ihrer schrecklichen Einsamkeit vermag ja nicht den theilnehmenden Blick zu erkennen, welchen das tiefe Mitleid auf dem Bejammernswerten ruhen läßt; er vermag nicht die trostsprechende Menschenstimme zu vernehmen, und ein innigster Händedruck ist das einzige Erkennungszeichen, welches ihm ansagt, daß ein fühlend Menschenherz vor ihm steht.

Fragt man, wie so erschütterndes Elend eines Schriftstellers in einer volkreichen Stadt wie Dresden so lang verborgen bleiben konnte, so ist die einfache Antwort: weil Schüchternheit und Bescheidenheit in der Regel edle, unverschuldete Armuth zu begleiten pflegen. Erst als die leibliche Noth die äußerste Grenze erreichte, ward sie einigen Menschenfreunden bekannt und ist auf privatem Wege dem Hartgeprüften einige Unterstützung zu Theil geworden, welche zeitweilig die ärgste Noth lindern und die Mittel zu einer Augencur ermöglichen hilft.

Es ist ein altes schönes Wort: Wenn die Noth am größten, ist Gottes Hülfe am nächsten. Möge dieser Spruch gerade jetzt, wo die Tage des Weihnachtsfestes in so viel tausend Herzen mit dem Gefühl der Dankbarkeit auch die Freude am Wohlthun neu belebt haben, an dem hartgeprüften Dichter und Dulder dadurch zu Wahrheit werden, daß vor Allem Diejenigen, welchen ihre Bildung und ihr Wohlstand auch höhere Pflichten des Patriotismus und der Humanität auferlegt, durch recht zahlreichen Ankauf der Werke des Dichters diesen auf die würdigste Weise erfreuen und unterstützen.


Inhalt: Reichsgräfin Gisela. Novelle von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Der Sohn des „alten Brehm“. Von H. Beta. Mit Portrait. – „Ein wahrer Vater der Stadt“. – Wunderliche Heilige. 3. In den Betstunden der Mormonen. – Ein Lied aus alter Zeit. Gedicht von Albert Traeger. Mit Illustration. – Aus der Küche der Altvordern. – Blätter und Blüthen: Nestroy und der Mann des Juxes. – Ein preisgekrönter Lustspieldichter. – „Aus tiefster Noth schrei ich zu Dir!“


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_032.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)