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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Gattin eines Baptistenpredigers. Seine eigene Frau aber theilte nicht einmal seinen Glauben, sie ging in die Kirche der Universalisten. Graves war diesmal sehr liebenswürdig, er schien anzunehmen, daß ich seiner Secte beizutreten geneigt sei. Ich sollte nur prüfen, sagte er, was die Stimme der Warnung der Welt zurufe, und ich würde finden, daß sie Wahrheit und nichts als Wahrheit rede. Zuletzt versprach er, auf nächsten Sonntag eine Betstunde zu halten und mich dort bei den anderen Brüdern und Schwestern einzuführen.

Der Sonntag kam. Ich holte Graves ab, und wir begaben uns über einen der Hügel, welche Dayton einschließen, nach dem eine starke halbe Stunde von der Stadt entfernten Hause des Mormonen Faraway. Derselbe war Pächter einer Farm an der Straße nach Cincinnati und wohnte am Rande des Waldes in einem großen alten schwarzverräucherten Ziegelgebäude, welches ein moosbewachsener Riegelzaum umgab. Das Wetter war naßkalt und trüb. Der Wind hatte die Blätter schon großentheils von den Bäumen gestreift, und was noch in den Wipfeln saß, war dürr und fahl. Das Haus sah vernachlässigt und verfallen aus. Es lag einsam, grämlich, fast unheimlich in der sonntäglich stillen Gegend. Kein Mensch war auf der weithin zu überblickenden Straße zu sehen.

Kein Hund empfing uns. Kein Federvieh wandelte über den Hof. Auch das Innere des Hauses machte durch die Leere und Kälte der großen Stube, in die wir zuerst geführt wurden, einen unbehaglichen Eindruck, und das Wesen seiner Bewohner war zuerst nicht geeignet, denselben zu mindern. Die letzteren bestanden aus Mann, Frau und Tochter. Der Farmer war eine jener hagern, abgearbeiteten Gestalten, wie sie Einem in den Wäldern des Westens oft begegnen, seine Haltung gebückt, sein Gesicht lederfarben und voll Falten wie eine Tabacksblase. Auf die Frage des Schuhmachers nach seinem Befinden zuckte er mit den Achseln. Die Frau schien am Fieber zu leiden. Die Tochter, ein Mädchen, wie es schien, in den Dreißigen, blickte mit ihren bleichen, sommersprossigen Wangen und ihren graugrünen Augen so theilnahmlos und so säuerlich in die Welt, als ob es ihr darin niemals wohl zu Muthe gewesen wäre. Die einzige freundliche Erscheinung in dieser trübseligen Umgebung war eine junge Frau, die mir als eine verwittwete Mrs. Long vorgestellt wurde, und die mit ihren feinen Manieren und ihrer wohlklingenden Stimme einen eigenthümlichen Gegensatz zu dem Geschilderten bildete.

Wir hielten den Gottesdienst in der Küche, die, wie beim gemeinen Mann in Amerika gewöhnlich, zugleich Wohnstube war und in deren Kamin ein Feuer von großen Scheiten brannte. Graves schlug erst die Bibel, dann das Buch Mormon auf, legte beide auf ein Tischchen vor sich, sprach ein Gebet und hielt hierauf aus dem Stegreif eine Rede, in welcher er, jedenfalls mehr im Hinblick auf mich als auf die Andern, die Grundzüge des Glaubens und der Hoffnungen der Latterday-Saints auseinandersetzte. Es war hausleinene Beredsamkeit, aber gut gemeint, im Ganzen wohlgefügt und gegen das Ende hin, wo der Redner von den Leiden der „Kinder Gottes“ auf den Lohn zu sprechen kam, der ihrer wartete, von einem Schwunge, der Alle verklärte und selbst auf das Weltkind unter ihnen nicht ganz ohne Eindruck blieb.

Die verdrießlichen Mienen der vorhin beschriebenen drei Hausgenossen hellten sich auf. Der Mann schien seine Sorgen, die Frau ihr Fieber vergessen zu haben. Die grünen Augen des alten Mädchens strahlten von dem Sonnenschein, den die Worte des Predigers über ihr Herz ausgebreitet hatten. Selbst das Feuer im Kamin nahm Theil an der allgemeinen Aufregung. Es flackerte fröhlicher auf und knisterte und prasselte in die Rede hinein, als ob es ihre Hoffnungen bestätigen oder mit Ausrufen des Beifalls begleiten wollte. Der Redner schloß mit dem Bedauern, daß ihm der rechte Geist heute abgehe, weil er in der letzten Zeit nicht genug gebetet hätte. Aber er hatte genug geleistet. Die Sonne, die er über die düsteren Gemüther hatte aufgehen lassen, wurde zur Gluth, als er jetzt – beiläufig nach der Melodie „Du, Du liegst mir am Herzen“ – ein Lied anstimmte, welches den Propheten vom Himmel herab die Gläubigen über ihre Verfolgungen trösten ließ.

„Still, still, Zion, nicht weinet!
Singt laut! Jeder sich freu’.
Bald ja von droben erscheinet
In Wolken uns Juda’s Leu.
     Ja, ja, in Wolken uns Juda’s Leu!“

So sangen die Mormonen. Der Löwe Juda’s sollte, so hieß es weiter, mit der Ruthe seiner Macht die Feinde Zions niederschlagen. Während sein Antlitz finster blickend zürnte, sollten sie in Verderben und Pein sinken. Hebt jeder Busen jetzt, so schloß das Lied, sich von Kummer und glühender Pein, bald wird der gesegnete Morgen anbrechen, wo ihr Joseph wiedersehen sollt. Dann, wie selig dies Begegnen, Wonne wird jedes Herz füllen, wenn ihr Joseph und Hiram[1] auf Zions dreimal heiligem Berge begrüßen werdet.

Und immer höher steigerte sich die Inbrunst. Die Wangen der Frauen glühten, die Haltung und die Blicke der Männer wurden stolz und immer stolzer, je mehr sie durch die weiteren Verse an die Triumphe erinnert wurden, welche ihre Kirche erlebt hatte und fernerhin feiern sollte. Die junge Wittwe fiel auf die Kniee und sprach ein Gebet, welches von dem Farmer mit Ausrufungen wie „Glory“ (Heil) und „Oh Lord“ (o Herr) begleitet wurde. Die Tochter lehnte sich an die Wand zurück und verdrehte die Augen, indem sie unarticulirte Laute ausstieß. Sie schien „in Zungen reden“ zu wollen. Aber die Wittwe schnitt ihr die Gelegenheit dazu ab, indem sie sich, bebend vor schwärmerischem Feuer, erhob und, dem Leiter der Versammlung vorgreifend, in ein Triumphlied ausbrach, in welches die Uebrigen nach Kräften einstimmten. Sie sangen ein Lied von fünf langen Strophen, deren letzte lautete.

„Gesegnet der Tag, wo der Leu sich gewöhnet,
Harmlos sich zu lagern dem Lamme vereint,
Und Ephraim in Zion mit Segen gekrönet,
Und Jesus im feurigen Wagen erscheint.
     Auf, singt, und auf, jauchzt mit den himmlischen Heeren,
     Hosianna, dem Herrn in der Höhe sei Preis!
     Laßt ihn und das Lamm uns nun rühmen und ehren
     Fortan und in Ewigkeit. Amen, so sei’s!“

Auf das Lied folgte eine kurze Rede des Farmers. Dann sollte die Wittwe sprechen, lehnte es aber nach einigem Besinnen ab. Zuletzt forderte Graves auch mich zu einem Vortrag auf; denn in ihren Versammlungen sei Jedem das Wort gestattet. Ich glaube, er erwartete, ich werde meinen Beitritt zur Kirche erklären. Indeß gab er sich zufrieden, als ich ihm mit kurzen Worten dankte, daß er mir Gelegenheit gegeben, ihrem Gottesdienste beizuwohnen, und bedauerte, für eine längere Rede des Englischen nicht mächtig genug zu sein.

Den Schluß bildete der Segen, von dem Schuhmacher gesprochen. Dann gingen wir zu Tische, und ich entsinne mich nicht, während meines Aufenthaltes in Amerika fröhlichere Gesichter und ein liebreicheres Benehmen gesehen zu haben, als bei diesem einfachen Mahle. So adelt das, was in den Religionen die Religion ist, selbst den sinnlosesten Wahn, und so geht neben der Truglist der Führer immer das gute Herz und die redliche Einfalt der Massen her.

Einige Tage später verließ ich Dayton, um mich nach Cincinnati zu begeben. Winthrop Graves begleitete mich an die Eisenbahn und gab mir eine Empfehlung an den Vorsteher der Mormonengemeinde in Cincinnati mit, die mich an einen Dr. Merryweather auf der Vinestreet wies, welcher in der mormonischen Hierarchie das Amt eines Highpriest, d. h. eines Priesters höherer Ordnung bekleidete. Früher Advocat gewesen, beschäftigte er sich jetzt mit Leihen auf Pfänder und hielt nebenbei einen Laden, in dem er Alles heilende Pillen, Wundersalben und andere „Patentmedicin“ verkaufte. Er sowohl als seine Frau empfing mich sehr freundlich und mittheilsam. Bereitwillig holte man die Religionsschriften der Secte, die man hatte, herbei, um sie mir zu leihen, und gern versprach der Doctor, mich nächsten Sonntag mit in ihren Gottesdienst zu nehmen. Ja, die Frau fand an dem wißbegierigen Dutchman so viel Gefallen, daß sie ihm schon beim ersten Besuche ein hübsch in Leder gebundenes Exemplar des „Book of Mormon“ nebst einem Portrait des Propheten verehrte. Wahrscheinlich, daß auch sie meine Vorurtheilslosigkeit sich als Hinneigung auslegten und hinter dem Wunsche, die Sache kennen zu lernen, die Absicht zu spüren meinten, sich ihr anzuschließen.

Am folgenden Sonntag holte mich der Doctor zu einem Conventikel ab, welches unten am Canal in der Stube eines Zimmermanns abgehalten werden sollte, der auf dem Durchzuge von Pennsylvanien nach Utah, oder, wie die Mormonen sagen,

  1. So hieß der Bruder des Propheten, der mit ihm ermordet wurde.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_026.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)