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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


„– – – Die gegenwärtige tief ernste Lage ist weniger durch die letzten Mißerfolge im Kriege, als die unglückliche Politik herbeigeführt worden, welche die Rathgeber der Krone, zum Theil schon seit einer langen Reihe von Jahren sowohl im Innern als nach außen verfolgten. Möge Euer Majestät zu dem segensreichen Entschlusse kommen, zur Leitung der Staatsgeschäfte solche Männer zu berufen, deren entschiedene Thatkraft und politische Gesinnung den Völkern Oesterreichs die Gewähr einer besseren Zukunft zu geben geeignet ist.“

Der Kaiser antwortete kalt und ernst: „Ich anerkenne den Ausdruck der Loyalität, nur mögen den Worten auch die Thaten entsprechen. Ich will unter den gegenwärtigen Verhältnissen übersehen, daß die Ueberreichung dieser Adresse nicht in den Wirkungskreis des Gemeinderathes gehöre, und sie nur als die Aeußerung einzelner Mitglieder desselben ansehn.“

Diese höchst ungnädige Entgegennahme der Adresse wirkte wie ein eisiges Sturzbad auf die warmen Patriotenherzen. Die meisten Gemeinderäthe waren entschlossen, ihre Mandate niederzulegen, und die ganze Bevölkerung fühlte sich auf das Schmerzlichste ergriffen. In diesem höchst peinlichen Moment war es Zelinka, der seine gekränkten, guten, opferwilligen Mitbürger zu vertreten und ihnen Genugthuung zu geben sich entschloß. Ohne den Gemeinderath in Kenntniß zu setzen, verfügte er sich mit seinen beiden Stellvertretern abermals zum Kaiser, um mit edlem Mannesmuth ein freies ernstes Wort zum Throne zu tragen.

Ein paar Stunden nach dieser Audienz (24. Juli) saß der Bürgermeister wieder im Saale des Gemeinderathes, erhob sich von seinem Präsidentenstuhl und hielt folgende Ansprache an die Versammlung:

„Ich habe es für meine Pflicht gehalten, heute nochmals eine Audienz bei Seiner Majestät anzusuchen, die mir allergnädigst zugestanden wurde. Ich berufe mich auf das Zeugniß meiner beiden Herren Stellvertreter, daß ich Seiner Majestät unumwunden, wie es einem getreuen Bürgermeister der Stadt Wien zukommt, über die Lage und Stimmung der Stadt wahrhaften und getreuen Bericht erstattet habe. Ich habe Seiner Majestät vorgestellt, daß die Bevölkerung Wien’s und der Gemeinderath immer, namentlich aber in der letzten Zeit, alle möglichen Opfer gebracht haben, die sie überhaupt zu bringen im Stande waren. Ich habe mir erlaubt, Seiner Majestät vorzustellen, daß der Gulden, welcher jetzt dargebracht wird, in dieser so schwer bedrängten Zeit, in der Zeit der Geschäftslosigkeit und Stockung aller Gewerbe, gewiß den gleichen Werth hat wie Hundert in anderen besseren Zeiten. Ich habe Seiner Majestät vorgetragen, daß die Bevölkerung ihre Opferwilligkeit und ihren Patriotismus nicht nur in der Errichtung eines Freiwilligen-Corps bethätigte, sondern daß sie insbesondere für die Pflege der Verwundeten sowohl in Geld als Materialien, freudig Opfer brachte, und was mehr zählt als alles Andere, daß sie selbst Verwundete in ihre häusliche Pflege genommen und sie wie Kinder des eigenen Hauses behandelte. Ich habe Seiner Majestät vorgestellt, daß der Gemeinderath in dieser schwerbedrängten Zeit seine Pflicht wie in ruhigen Zeiten erfüllt und daß die Regierung gerade in der jetzigen Zeit die Thätigkeit des Gemeinderathes in viel umfassenderer Weise in Anspruch nimmt, als es sonst zu geschehen pflegt, und habe seiner Majestät ausdrücklich bemerkt, daß im Falle einer feindlichen Invasion sämmtliche Cassen, Linien-Aemter, Regieanstalten und Feldspitäler der Obsorge des Gemeinderathes übertragen sind, daß kein Mitglied desselben auch nur einen Augenblick Anstand genommen hat, sich diesen schweren Verpflichtungen zu unterziehen und daß ich mich daher verpflichtet fühle, den schmerzlichen Eindruck zur allerhöchsten Kenntniß zu bringen, welchen die Entgegennahme der Adresse in der Bevölkerung und im Gemeinderathe hervorgerufen hat. Ich betonte insbesondere, daß meine Stellung eine andere als die eines Beamten, auch eine andere, als die eines Ministers ist, daß ich nicht nur verpflichtet bin, die Bande der Sympathie und Loyalität zwischen der Bürgerschaft und dem allerhöchsten Hofe festzuknüpfen, sondern auch Pflichten gegen die Bürgerschaft habe, in deren Erfüllung ich frei und unumwunden, wie ich es vor Gott und meinem Gewissen zu verantworten getraue, Seiner Majestät die Stimmung der Bevölkerung zur allerhöchsten Kenntniß zu bringen mich berufen hielt. Ich habe endlich selbst nicht ermangelt, Seine Majestät aufmerksam zu machen, daß die dermaligen politischen Verhältnisse es sind, welche in der Bevölkerung Besorgnisse hervorgerufen haben, und daß, wenn manche Opfer zu klein erscheinen, es nur der allgemeinen Noth und Bedrängniß zuzuschreiben ist. Seine Majestät geruhten zu antworten: ‚Ich habe nie Zweifel gehabt und bin überzeugt von der Opferwilligkeit und dem Patriotismns der Bewohner Wien’s, insbesondere in dieser bedrängten Zeit, die mich so schwer getroffen hat und auch meine Wiener, wie ich einsehe.‘ Seine Majestät geruhten uns sohin gnädigst zu entlassen.“

Die Stellen in dieser Rede, in welchen Zelinka von seiner Pflicht und den Opfern und Lasten der Gemeinde sprach, wurden mit lebhaften Acclamationen begleitet. Nach dem Schluß der Rede erhob sich die ganze Versammlung einmüthig und verließ lautlos den Saal. Das Publicum hatte sich indeß in lebhaft debattirenden Gruppen vor dem Rathhause versammelt, um ihrem wackeren, freimüthigen Bürgermeister Ovationen darzubringen, – er aber merkte was dergleichen und machte sich durch eine Hinterthür aus dem Staube. Den Vertrauens-Adressen konnte er aber dennoch nicht entgehen und von dem Fackelzuge rettete ihn der Ausnahmezustand.

Diese Audienz beim Kaiser machte Zelinka zum populärsten Mann in Wien und sicherte ihm einen Ehrenplatz in erster Reihe in der Geschichte der Patrioten Oesterreichs. Der Mann, dem das Herz des Wiener Volks gehörte, war er, wie bereits bemerkt ist, längst, und den besten Beweis dafür liefert der Eifer, mit welchem seine originellen Aeußerungen und edlen Thaten gleich in Aller Mund waren. Davon hier noch Einiges.

Unter ihm war das Bürgermeisteramt von Nothleidenden jeden Vormittag derart belagert, daß man den Bürgermeister zur Einschränkung seiner Freigebigkeit zu bewegen suchen mußte, denn man befürchtete, daß die Zusammenrottungen der Hülfesuchenden vor dem Magistratsgebäude unabsehbare Dimensionen annehmen könnten. „Geht’s – geht’s! sagte er nach einer solchen Warnung. „Ihr seid Kinder und die da draußen Stiefkinder des Glücks und die brauchen einen guten Vater nothwendiger als Ihr. Stürmen wird uns meine große Familie nicht – laßt’s ihr auch eine kleine Freud’.“

Wer viel auf dem Herzen und nichts in der Tasche hatte, wandte sich an den Bürgermeister, dessen Vorzimmer stets von Bittstellern überfüllt war. Er konnte Niemanden leiden sehen. Als man einmal im Gemeinderathe den für die Armenbetheilung ausgesetzten Betrag zu hoch fand, rief Zelinka in gutmüthigem Zorn dem Redner zu: „Ja, Sie können leicht reden! Zu Ihnen kommen die armen Leut’ nicht, aber zu mir kommen’s. Und was soll ich da thun? In den Sack greifen muß ich, sonst bleibt mir nix übrig.“

Ein verarmter Bürger, Vater von sechs Kindern, wurde wegen eines Zinsrückstandes von vierzig Gulden ausgepfändet und trotz der großen Kälte delogirt. Ein Gemeinderath des Bezirkes überzeugte sich von dem Elend der Familie und eilte zum Bürgermeister, um für sie Hülfe zu erbitten. Er hatte kaum ausgesprochen, als ihm Zelinka schon die bezeichnete Summe einhändigte. „Aber warten’s doch noch!“ rief er dem Gemeinderath nach, der sich dankbar entfernen wollte. „Glauben’s denn, den Leuten ist mit dem Bissel Geld schon geholfen? Wer wird den neuen Zins zahlen? Wovon heizen und wovon leben, bis der arme Vater wieder was verdienen kann? Da – nehmen’s noch dreißig Gulden und sagen’s, Gott und wir werden weiter helfen!“

Als Zelinka noch ein Bruder Studio war, logirte er bei einem Schneider in der Leopoldstadt, der ihm eine „Kammer mit Durchgang“ vermiethet hatte. Der Student arbeitete sich rüstig vorwärts, der Schneider rüstig rückwärts, und als Jener Bürgermeister wurde, war dieser ein alter hinfälliger Bettelmann. Als Zelinka von dem Nothstande seines ersten Miethsherrn in Kenntniß gesetzt wurde, suchte er ihn auf, beschenkte ihn reichlich, machte ihn zum Bürger von Wien und brachte ihn im Bürgerversorgungshause unter. Dort fühlte sich der alte Mann so behaglich wie die alte Garde im Invalidenpalais, war aber auch nicht undankbar, denn als er starb, setzte er den Bürgermeister Zelinka zu seinem Universalerben ein. Die ganze Verlassenschaft bestand aus einem Silberthaler von altem Gepräge, den Zelinka mit nassen Augen, als ein ihm werthvolles Andenken, im städtischen Archiv hinterlegte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_024.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)