Seite:Die Gartenlaube (1869) 019.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

bitteres Auflachen verbeißen will. Plötzlich blieb er stehen – ein zornig knurrender Ton entschlüpfte seinen Lippen – von fern flimmerte ein matter Lichtpunkt durch die Flocken, die in diesem Augenblick minder dicht niederfielen.

„Aha, da hängt wieder einmal die Decke nicht vor dem Fenster! Bei dem Wind!“ murmelte er grimmig. „Das wird ja hübsch durch die Stube pfeifen! … Nun fehlt nur noch, daß sie auch den Ofen vergessen hat.“

Er lief vorwärts und lachte plötzlich auf – der Wind trug ihm einzelne volle Clavieraccorde entgegen.

„Nu ja, da haben wir’s – sie rast wieder einmal – konnte mir’s schon denken!“ grollte er weiterlaufend. Alle Reflexionen waren im Nu verflogen vor dem Aerger, der sich des alten Soldaten bemächtigte. Was kümmerten ihn jetzt noch die wehklagenden und zürnenden Schatten der längstvermoderten Herren von Zweiflingen – er hörte nur die allmählich zur rauschenden Melodie werdenden Töne und sah den Lichtschein, der, unruhig hin und her flackernd, in der That aus einem unverhüllten Thurmfenster fiel und dessen Eisenvergitterung in schwankenden, mattgezeichneten Umrissen auf die Schneedecke draußen warf.

Die Façade des Waldhauses trat um einige Schritte hinter die Thürme zurück; vor ihr hinlaufend und um eine Anzahl Stufen erhöht, verband eine Galerie die beiden Thürme. Der unmittelbar vom Waldboden hinaufführenden Treppe gegenüber, die das Steingeländer der Galerie in seiner Mitte durchbrach, erhob sich eine ungeheure Doppelthür, welche direct in die große Halle führte. Bei Sievert’s Hinaufsteigen floß der Laternenschein über zwei lebensgroße Steinfiguren, die auf der Brüstung zu beiden Seiten der Treppe standen, geschmeidige Jünglingsgestalten in Edelknabentracht. Das umlockte Haupt zurückgeworfen und mit hochgehobenem Arm das steinerne Horn an den Mund setzend, bliesen sie seit Jahrhunderten das Hallali hinaus in den Wald. … Was für eine Versammlung wäre das geworden, wenn der Ruf all die todten Schläfer geweckt hätte, die hier, trunken von Wein und Jagdlust, als Gebieter auf der Terrasse gestanden und in stolzer Unantastbarkeit ihr weites Waldrevier überschaut hatten, all die Vertreter so vieler Generationen, grundverschieden in Tracht, Sitten und Anschauungen, aber heute wie immer zweifellos einig in dem einen Gedanken: Um jeden Preis das Heft in der Hand behalten, herrschen und abermals herrschen, nicht um Haarbreite abgeben von den verbrieften Vorrechten, wohl aber sie ausdehnen und erweitern, wo irgend die Gelegenheit sich bietet!

Das unerhebliche Geräusch des Aufschließen dröhnte verzehnfacht drin im Hause wider, und als Sievert den Thürflügel öffnete, da that sich die Halle in ihren kolossalen Dimensionen auf wie ein unergründlicher Schlund. Sievert’s erste Schritte galten dem Ofen; er schlug die eine Thür zurück – die Kaminöffnung gähnte ihn in schwarzer Finsterniß an.

„Richtig – kein Funken Feuer! ’S ist eine Sünde und Schande!“ zürnte er. Im Nu hatte er sich der mitgebrachten Sachen entledigt und gleich darauf prasselte ein tüchtiges Feuer im Ofen.

Der Sturm fährt durch den Schornstein und jagt die Flammenzungen weit in die Halle herein. Dann stiegen jedesmal gelbrothe Lichter über die gegenüberliegende Wand und aus verwitterten Rahmen treten, dicht neben einander gereiht, lebensgroße Männergestalten. Sie alle sind im Jägerkleide und meist in Situationen gemalt, welche den Muth und das aristokratische Blut der Zweiflingen kennzeichnen sollen – der Kampf mit riesigen Ebern und Bären ist als Sujet am meisten vertreten. Ueber der Bilderreihe aber tauchen Hirschköpfe auf, die stolze Last seltener Geweihe tragend, weiße Tafeln mit schwarzer Inschrift besagen, wann und von wem jedes der edlen Thiere erlegt worden ist, und greifen dabei in eine so graue Vergangenheit zurück, daß ein altadeliges Herz einen wahren Wonneschauer darüber empfinden könnte. Auch ein Orchester wird sichtbar; hier hatten einst die Trompeten geschmettert und mit lustigen Weisen die edlen Herren „ergötzet“ beim üppigen Jagdschmause – jetzt klang ein leises Meckern von dorther, der Bretterverschlag unter der Tribüne war zum Ziegenstall degradirt worden.

Sievert stellte einen Dreifuß in das Fester und einen Topf voll frisches Wasser darauf – es war die primitivste Kücheneinrichtung, die sich denken läßt – dann steckte er eine der mitgebrachten Talgkerzen auf einen Messingleuchter. Während dieser Verrichtungen wich ein stereotypes grimmiges Lächeln nicht einen Augenblick von seinem Gesicht. Durch die Wand klang nämlich das Clavierspiel immer voller und rauschender. Der alte Soldat war offenbar kein Musikschwärmer, sonst hätte er doch wenigstens die unglaubliche Fingerfertigkeit und Sicherheit an dem Spiel bewundern müssen – diese perlenreinen Triller und Läufer konnten sich vor dem ausgesuchtesten Concertpublicum hören lassen. Gleichwohl hatte der alte feindselige Kritiker nicht ganz Unrecht mit der naiven Bezeichnung „Rasen“. Die brillante Tarantella wurde in schwindelnd schnellem Tempo genommen – die Töne sprühten, aber wie sogenannte kalte Funken, sie zündeten nicht und ließen den Zuhörer im Zweifel, ob in den flinken, aber automatenhaft gleichförmig herunter spielenden Fingern auch wirklich lebenswarmes Blut pulsire.

Der alte Soldat nahm die Kerze und öffnete die Thür, die in das Erdgeschoß des südlichen Thurmes führte. Welche Gegensätze trennte diese Thür! Draußen die öde, leere Halle mit dem schauerlich widerhallenden Steinfußboden und dem Mangel an jeglichem Geräth, und hier ein Gemach, angefüllt mit einer wahrhaft kostbaren Möbeleinrichtung. Wir müssen sagen „angefüllt“, denn das Zimmer war ziemlich klein und umfaßte die vollständige Ausstattung eines ehemaligen großen Salons. Das war der letzte Rest alter Herrlichkeit, den die Wittwe zu behaupten gewußt hatte. Im ersten Moment blendete diese unerwartete Pracht, aber bald wich die Ueberraschung einem Gefühl der Wehmuth, des tiefen Mitleids. Diese geschnitzten Palissander-Etageren und Tische, diese Causeusen und Fauteuils mit dem aprikosenfarbenen Seidendamast-Bezug standen an Wänden, die eine uralte brüchige Ledertapete bedeckte; die gepreßten, ehemals vergoldeten Arabesken in derselben hatten längst ein schmutziges Braun angenommen und traten um so widerwärtiger da hervor, wo sie mit der blinkenden Einfassung des deckenhohen Spiegels oder dem Goldrahmen eines Oelbildes in Berührung kamen; vor den Fenstern aber hingen bunte Zitzgardinen, und der riesige dunkle Ofen ragte grob und ungeschlacht in die zierliche Ausstattung und nahm ihr den letzten Anschein von Harmonie.

Sievert zerdrückte den im letzten Stadium aufflackernden und qualmenden Lichtdocht zwischen den Fingern und stellte dafür die frische Kerze auf den Tisch.

Die Frau, die einsam, in sich zusammengesunken, in einem Fauteuil kauerte, bemerkte den wohlthuenden Wechsel nicht – denn sie war blind – „blind geweint hat sich die arme Frau!“ sagten die Leute, und sie hatten wohl nicht Unrecht. Auch sie erhöhte den peinlichen Eindruck, den das Zimmer in seinen Widersprüchen erweckte; sie war mehr als einfach gekleidet, ihr dunkles baumwollenes Kleid breitete sich förmlich hohnvoll über die strahlenden Polster des Lehnstuhles.

„Sind Sie endlich da, Sievert!“ sagte sie verdrießlich mit schwacher, aber scharfklingender Stimme. „Sie brauchen ja immer eine halbe Ewigkeit zu Ihren Ausgängen! Meine Tochter übt und hört mein Rufen nicht – ich habe mich fast heiser geschrien. … Mich friert. Jedenfalls haben Sie den Ofen nicht gehörig versorgt, ehe Sie fortgegangen sind, und Jutta hat vergessen, das Fenster zu verhängen – Sie hätten auch daran denken können. … Und was für schauderhafte Lichte bringen Sie jetzt immer in’s Haus – das ist ja ein Geruch und ein Qualm – nicht in unserer Domestikenstube hätte ich früher dergleichen gelitten!“

Der alte Diener ließ diese Vorwürfe ohne Widerrede über sich ergehen. Wachs- und Stearinlichte konnte die gnädige Frau nicht bezahlen noch weniger aber das Oel, das die prachtvolle, aus dem Ruin gerettete Astrallampe verbrauchte. Er öffnete schweigend einen Schrank, nahm eine verblichene, rothseidene Steppdecke heraus und hängte sie vor das der Kranken am nächsten liegende Fenster.

Frau von Zweiflingen ergriff eines ihrer langen Haubenbänder und rollte es mechanisch zwischen den dünnen, wachsgelben Fingern auf und ab – es lag etwas nervös Aufgeregtes in dieser Bewegung.

„Sie haben einen abscheulichen Rauchgeruch in Ihren Kleidern mit hereingebracht, Sievert,“ hob sie wieder an und richtete ihre erloschenen Augen nach dem Fenster, wo sie Sievert noch hantiren

hörte. „Ich habe Sie im Verdacht, daß Sie nasses Holz brennen,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_019.jpg&oldid=- (Version vom 16.2.2020)