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hatte es für möglich gehalten, daß man an einem so jungen und allgemein beliebten Manne das Todesurtheil vollstrecken werde, und als man nun hörte, daß der gemeine Henker ihm das Haupt abgeschlagen habe und daß seine Besitzungen für verfallen erklärt worden seien, war der Schmerz groß und allgemein. Die Gräfin war inzwischen mit ihrem neugeborenen Sohne entschwunden und auf dem Schlosse schaltete ein königlicher Einnehmer, der den Pächtern nicht einen Pfennig von der Pacht erließ. Es waren für diese wackern Leute nun unglückliche Tage gekommen, aber ihre Pflichten gegen den Schloßherrn, dem sie glückliche Tage zu verdanken gehabt hatten, vergaßen sie nicht. Seine Väter ruhten alle in dem alten Gewölbe unter der Schloßcapelle und hier sollten auch seine Gebeine ihre letzte Stätte finden. Sie wußten, wo man ihn beigesetzt hatte, gruben den Sarg heimlich aus und führten ihn zu den Ufern seines heimathlichen Flusses, wo sich das Familienbegräbniß für ihn öffnete. Welch ein Bild muß dieser düstere Leichenzug dargeboten haben, der sich blos bei Nacht vorwärts bewegte und bei Tage immer ein Versteck aufsuchte! Daß die Erzählung von dem heimlichen Begräbniß keine Fabel sei, wofür man sie häufig erklärte, zeigte sich zu Anfang dieses Jahrhunderts, als man den Sarg öffnete. Die Leiche war so wohl erhalten, daß man die vollständige Aehnlichkeit des Kopfes, der neben dem Körper lag, mit den noch vorhandenen Bildnissen des unglücklichen Grafen erkannte.

Die Güter des Grafen wurden dem Hospital von Greenwich überwiesen, dem sie bis auf den heutigen Tag geblieben sind. Den Titel nahm sein nachgeborener Sohn in Anspruch und war in den fünfzehn Jahren, die er mit seiner Mutter in Paris verlebte, als Graf von Derwentwater bekannt. Er starb vor erlangter Volljährigkeit und nun ging der Titel an seinen Oheim Karl, den einzigen Bruder des Hingerichteten, über. Dieser Oheim war bei dem Aufstande von 1715 ebenfalls thätig gewesen und war gleich seinem Bruder zum Tode verurtheilt worden, hatte sich aber aus dem Gefängniß retten und über das Meer fliehen können. Er lebte in Paris, bis der junge Prätendent 1745 an der schottischen Küste landete und überall die schlummernden Leidenschaften wachrief. Wie konnte ein Derwentwater am Kamin sitzen bleiben, wenn ein Stuart im Felde stand! So frisch die Erinnerungen an das Unglück seines Bruders und an seine eigenen Schicksale waren, griff er auf den ersten Ruf des Mannes, den er für seinen rechtmäßigen König hielt, zu den Waffen, um schon im nächsten November abermals gefangen, nach London geführt und zum Tode verurtheilt zu werden. Ein Jahr später wurde er an derselben Stelle enthauptet, wo sein Bruder einunddreißig Jahre vorher für seinen König gestorben war.

Graf Karl Derwentwater hatte sich in Paris verheirathet und ein Sohn aus dieser Ehe überlebte ihn. Dieser starb 1780 und hinterließ nur einen einzigen Sohn. Als der letztere 1814 aus dem Leben schied, galt die Familie Derwentwater allgemein für erloschen. Niemals war dagegen ein Zweifel erhoben worden, als vor wenigen Jahren plötzlich ein Anspruch auf den Titel und die Besitzungen der Familie laut wurde. Die Dame trat auf die Scene, die wir unter dem Zelte neben der Straße, welche unter den Ruinen von Dilston-Hall vorbeiführt, kennen gelernt haben. Amalie Mathilde von Derwentwater, wie sie sich selbst nennt, ist erst achtunddreißig Jahre alt, obgleich sie viel älter aussieht, und eine Frau von bedeutenden Gaben. Sie stützt ihre Ansprüche auf Documente, über deren Werth wir natürlich nicht urtheilen können, und erzählt eine Geschichte, die den alten Ausspruch bestätigen würde, daß im Leben mehr Romane spielen, als in den Büchern, – wenn sie wahr wäre. Nach ihren Angaben ist der einzige Sohn des im Jahre 1715 hingerichteten Grafen von Derwentwater nicht minderjährig gestorben, sondern achtundsechszig Jahre alt geworden und erst 1783 in Frankfurt am Main verschieden. Er sei in der Zeit seines angeblichen Todes verschwunden, weil er gefürchtet habe, daß die englische Regierung ihn ermorden lassen werde, um nicht von ihm mit Ansprüchen an seine Besitzungen behelligt zu werden. Diese Geschichte klingt nun sehr unwahrscheinlich. Zur Zeit seines wirklichen oder angeblichen Todes war er ein sehr junger Mensch, und wollte die englische Regierung Jemand ermorden lassen, so wählte sie gewiß nicht ihn, sondern seinen Oheim, der mit ihm in Paris lebte und als ein gefährlicher Rebell bekannt war. Ueberdies wurde der Sohn dieses Oheims nach der Enthauptung seines Vaters für seine Ansprüche an die Familiengüter mit einer jährlichen Rente von zweitausendfünfhundert Pfund entschädigt, und doch soll der näher berechtigte Erbe, eben der Sohn des älteren, 1715 hingerichteten Grafen, während dieser ganzen Zeit gelebt und sich aus Furcht vor der englischen Regierung, die sich gegen seinen Vetter so großmüthig zeigte, versteckt gehalten haben. Wir stoßen in der Geschichte der Gräfin Mathilde noch auf eine zweite Unwahrscheinlichkeit. In seinem Versteck zu Frankfurt, sagt sie, habe sich der furchtsame Graf mit Elisabeth Arabella Maria, Gräfin von Waldstein-Waters, vermählt. Eine Familie dieses Namens giebt es in Deutschland nicht. Von dieser Gräfin und ihrem Gemahl will die Dame des Zeltes abstammen. Ihre Familienpapiere aus der späteren Zeit sollen in völliger Ordnung sein, und was sie zu beweisen hat, um als die rechtmäßige Erbin der Familie zu erscheinen, sind nur die beiden Umstände, daß der Flüchtling von Frankfurt nach seinem angeblichen Tode wirklich noch lange gelebt hat und mit einer Gräfin von Waldstein-Waters verheirathet gewesen ist. Bewiese sie dieses Beides, so wäre es noch immer fraglich, ob die Regierung Güter herausgäbe, die vor anderthalb Jahrhunderten für verwirkt erklärt worden sind.

Gräfin Mathilde trat zuerst vor drei oder vier Jahren im nördlichen England auf. Sie nahm ihren Wohnsitz in Blaydon und vertraute sich einigen Einwohnern, deren Interesse sie zu erregen verstand. Man hielt eine öffentliche Versammlung, ernannte einen Ausschuß zur Prüfung ihrer Familienpapiere und wendete sich an das Parlament. Keiner dieser Schritte brachte die hartherzigen Directoren des Hospitals von Greenwich zu dem Entschluß, die prächtigen Besitzungen herauszugeben, in deren Besitz ihre Anstalt seit länger als einem Jahrhundert ist. Die Gräfin wartete Monat auf Monat, Jahr auf Jahr und vertrieb sich die Zeit mit Oelmalerei. Endlich wurde sie ihrer Lage überdrüssig und that zu Anfang dieses Octobers einen sehr entschiedenen Schritt. Eines schönen Morgens ließ sie ihre Familiengemälde und andere Reliquien ihrer Ahnen auf einen Wagen laden und machte sich mit ihren beiden Dienern auf den Weg, um von ihrem Schloß Besitz zu nehmen. Kühn betrat sie die Ruinen und wählte einen der zerfallenen Räume als Wohnung. Ihre Diener machten von getheerter Leinwand ein Dach, hingen die Ahnenbilder an die Mauern, stellten ein paar Meubel auf, machten Feuer im Kamin, und Mathilde Gräfin von Derwentwater war nun Schloßherrin von Dilston.

Zum Unglück für den Ausgang ihres romantischen Abenteuers schenkten die Directoren des Hospitals den Urkunden der Gräfin keinen Glauben. Kaum hörten sie, was geschehen sei, so telegrafierten sie an die Polizei und baten um Entfernung der eingedrungenen Person. Ein Beamter erhielt die nöthigen Vollmachten und trat mit der größten Schonung auf. Gräfin Mathilde weigerte sich aber mit großer Entschiedenheit, das Schloß zu verlassen, und drang sogar mit einem Ritterschwert auf die Polizei ein. Das Ende der Geschichte war, daß man zuerst das leinene Dach, die Ahnenbilder und die sonstigen Geräthschaften aus den Ruinen trug und dann die Gräfin selbst von zwei kräftigen Männern auf die Schultern heben und sanft auf die Landstraße niedersetzen ließ. Man hat ihr nicht verbieten können, daß sie sich auf neutralem Gebiet ein Zelt errichten ließ. Sie hat ihr Lager dicht an der Grenzhecke aufgeschlagen und jenseits dieser Linie befinden sich die Beamten, welche ihr den Zutritt zu ihrem angeblichen Besitzungen verweigern. Noch in diesem Augenblicke befindet sich die zarte und gebildete Dame in ihrem Zelte, das sie überhaupt nicht verlassen will, bevor ihre Rechte Anerkennung gefunden haben. Die allgemeine Sympathie, nicht blos des nächsten Bezirks, sondern der ganzen Grafschaft, ist vollständig auf ihrer Seite und die Presse nimmt lebhaft für sie Partei. Wer diese Gräfin Mathilde von Derwentwater wirklich ist, wollen wir unentschieden lassen. Wir wissen nur, daß sie ihre Geschichte seit Jahren erzählt. Daß sie mit der unglücklichen Familie in einer gewissen Verbindung steht, geht aus den Papieren und Reliquien derselben, die in ihrem Besitz sind, unzweifelhaft hervor.

Wie diese seltsame Belagerung enden wird, ist jetzt allerdings noch nicht vorauszusehen; jedenfalls wird kein zweites Troja aus dem gräflichen Zeltlager, so daß unsere Leser das Ende des Dramas alle noch und gewiß ziemlich bald erleben werden. Wir werden über das Ende dieses furchtbaren Krieges seiner Zeit berichten.



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