Seite:Die Gartenlaube (1868) 787.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

das Mädchen, das noch allein darin übrig geblieben war, war ihm wie eine zweite Schwester gewesen. Nun hatte der Tod ihm Alles auf Einen Schlag entfremdet; das Haus kam ihm baufälliger und düsterer vor, die Stimme des Mädchens greisenhaft und fast wie die der Tante; es ward ihm fast wieder leid, daß er um Einlaß gebeten hatte. Indem er so stand und sich in seinen Kleidern schüttelte, um das Frösteln loszuwerden, wurde der Hausriegel zurückgeschoben und Lore, die Flamme der kleinen Lampe mit der Hand schützend, trat auf die Schwelle. Sie war in dem Jahr, seitdem er sie nicht gesehen, noch um einen halben Kopf gewachsen, aber auch die Züge des Gesichts hatten sich gestreckt, das Mädchen war schlanker, die Wangen schmächtiger geworden. Die Augen, die sonst so munter hin und her gegangen waren, standen jetzt still und groß unter den tiefschattenden Wimpern, und das blasse Mündchen war so fest geschlossen, als ob es am liebsten nie mehr ein Wort, geschweige ein Lächeln hervorgebracht hätte. Dazu war der Anzug des armen Kindes wunderlich genug, wie wenn sie eben im Dunkeln aus dem Bett gesprungen wäre und das nächste Beste angethan hätte. Ihr langes braunes Haar steckte nachlässig aufgeflochten unter einem Nachthäubchen, dessen Bänder unter dem Kinn nicht zugebunden waren. Sie trug ein rothwollenes Röckchen, das ihr zu kurz, und eine alte braune Jacke, die ihr zu weit war und dem Schnitte nach offenbar aus dem Kleiderschrank der Tante stammte. Die Füße steckten in alten Tanzschuhen, die zu den groben blauwollenen Strümpfen nicht zum Besten passen wollten. Was aber den halb lächerlichen, halb traurigen Eindruck noch phantastischer machte, war ein großer schwarzer Kater, der ihr auf der Schulter saß und seinen Kopf mit einem unsichern Zwinkern der goldgelben Augen dicht an ihren blassen Hals drückte. Sie schien aber selbst gar nicht zu bemerken, welchen Eindruck sie auf den jungen Mann machte, sondern nickte ihm, da sie ihm jetzt über die Schwelle leuchtete, mit einer so gelassenen Geberde zu, als verstände sich Alles von selbst. „Er ist es wirklich!“ sagte sie wie für sich. „Ich glaubte schon, es wäre nur so eine Einbildung gewesen. Guten Abend, Lorenz!“ Dabei gab sie ihm die Hand, die mager und kühl war, und ging, nachdem sie die Thür wieder verschlossen, langsam wie in tiefer Müdigkeit ihm voran die alte hölzerne Treppe hinauf.

Droben auf dem Flur des ersten Stockwerkes stand sie einen Augenblick still und sagte: „Wo wollen Sie nun hin, Lorenz?

In jedem Zimmer ist der Tod schon gewesen, und oben ist meine Sterbekammer, da dürfen Sie nicht hinein. Nun gleichviel, wir wollen in die Wohnstube gehen, da riecht es noch am besten, weil ich Wachholder habe verbrennen müssen; die Tante mochte ihn lieber als den Essig. Sehen Sie“ – und sie öffnete die Thür - „der Alkoven, in dem sie ihren letzten Athemzug gethan, ist schon wieder aufgeräumt. Die Leute sollen nicht sagen, wenn sie mich hinaustragen, daß ich liederlich gehaus’t hätte.“

„Lore,“ sagte er, indem er eintretend ihre Hand ergriff, „ich kann Dir nicht sagen, wie Du mich dauerst. Warum aber nennst Du mich immer Sie? Sind wir nicht von kleinauf gute Cameraden gewesen? Ich wenigstens brächte es nicht über die Lippen, anders als Du zu sagen.“

„Ich hatte mir’s so vorgenommen, seit –“ und sie stockte und eine leise Röthe flog über ihr stilles Gesicht. „Aber wie Du willst, Lorenz. Jetzt ist ja doch Alles einerlei. Setz’ Dich da auf das Sopha und laß mich Deinen Reisesack weglegen. Es ist richtig noch der alte, den die Sophie Dir gestickt hat, als Du nach Erlangen gingst, und diese Rose hier habe ich gestickt und hernach Deine Schwester gebeten, Dir nichts davon zu sagen. Wie so einfältige stumme Sachen auf der Welt bleiben und die Menschen müssen fort!“

„Je nun,“ lachte er, „wir zwei sind doch auch noch da, Lorchen, und ich sehe wahrhaftig nicht ein, warum Du es so eilig hast, dahin zu kommen, wo man Sonne, Mond und Sterne nicht mehr sieht. Fass’ Dir ein Herz, Kind, und führe nicht so verzweifelte Reden. Weißt Du, daß ich glaube, Dir fehlt es außer an frischer Luft vor Allem an Essen und Trinken? Ich kann mir wohl denken, daß Du über dem Jammer, den Du hier mit angesehen, und den Thränen, die Du hast verschlucken müssen, Alles vergessen hast, was zum Leben Noth thut. Nun aber mußt Du mir folgen, hörst Du wohl, und ein Nachtessen herbeischaffen; denn ich denke Dir mit gutem Beispiel voranzugehen und Dich wieder essen und trinken zu lehren.“

„Es ist wahr,“ sagte sie; „ich habe seit zehn Tagen nichts mehr gegessen als Mittags einen Löffel Suppe, den die Zenz mir aufnöthigte, unsere Magd. Die ist aber heute früh aus dem Haus gegangen und nicht wiedergekommen; Gott weiß wo sie ein Ende genommen hat, wahrscheinlich im Spital, um mir nicht auch noch unter den Händen wegzusterben. Sie war schon gestern nicht mehr ganz wohl; der Tod der Tante hat sie angegriffen. So hab’ ich eben den ganzen Tag droben gesessen, den Peter auf dein Schooß, um mir den Magen zu wärmen und doch auch etwas Lebendiges bei mir zu haben, und die Stunden sind so hingegangen, und ich habe immer auf den Tod gewartet.“

„Statt dessen ist nun einer gekommen, der Dir all diese Todesgrillen vertreiben will,“ sagte der Jüngling. „Ich hab’ hier im Nachtsack eine Flasche alten Portwein, den wollt’ ich dem Vater zu trinken geben, weil er besser als ein Katzenfell den Magen wärmt und sehr gegen die schwarzen Gedanken hilft, die so oft das Unglück erst herbeiziehen. Bring’ ein paar Gläser, Lore, und was Du etwa zu essen hast. Und dann setz’ Dich zu mir und schütte einmal Dein Herz gründlich aus, wie Du es einem alten Cameraden schuldig bist, mit dem Du doch schon manches Wörtchen gewechselt hast.“

Sie starrte, als dächte sie an ganz andere Dinge, in das Flämmchen der kleinen blechernen Lampe, seufzte einmal zitternd auf und ging dann langsam zur Thür hinaus, den Kater immer noch auf der Schulter.

Nun sah er sich in dem großen niedrigen Zimmer um, in dessen Winkel der Lampenschein nicht mehr hineinleuchtete. Da war noch Altes wie sonst, die Bilder von Lore’s Eltern über dem Sopha, der blasse, magere Apotheker, der so früh gestorben war, und seine schöne blauäugige Frau, der die Tochter wie aus dem Gesicht geschnitten war, nur daß sie jetzt die melancholische Farbe und den scharfen Zug vom Vater hatte. Und dort der Spiegel zwischen den Fenstern, das Nähtischchen der Tante, auf dem noch ihr Strickkorb stand und ein vertrockneter Basilicumtopf. Wer hatte Zeit und Gedanken gehabt in diesen Angstwochen, Blumen zu begießen? Auch die braune Wanduhr neben dem Alkoven war nicht mehr aufgezogen. Was liegt einem an einem paar Stunden, wenn die Ewigkeit heranzubrechen droht? Aber das alte Clavier war geöffnet und ein Liederheft noch aufgeschlagen, als wäre Jemand mitten im Spielen durch die Knochenhand, die sich auf die beinernen Tasten legte, unterbrochen worden. Es überlief den jungen Mann ein spukhafter Schauer, als er den Vorhang von großgeblümtem Cattun vor dem Alkoven betrachtete und daran dachte, welche Leiden und Schrecknisse er verhüllt haben mochte. Je mehr er diesen Gedanken nachhing, desto entsetzlicher schien es ihm, daß die Bekannten und Nachbarn das junge Kind in diesem öden Trauerhause allem gelassen hatten, wo selbst festere Nerven von den unheimlichen Einbildungen und Erinnerungen erschüttert werden mußten. Er kehrte die Augen gewaltsam gegen die braune Holzdecke, an der der helle Lichtring der Lampe spielte, und hörte den Todtenwurm droben picken und entsann sich lustiger Abende viele Jahre zurück, wo er an demselben Tisch mit der Tante und der kleinen Lore gesessen und ihnen vorgelesen hatte, und wie damals in den Pausen dasselbe Knistern in dem alten Holzgetäfel sich hatte hören lassen, ohne daß ihm oder den Andern der Ton unheimlich gewesen war. Es war ihm damals vorgekommen, als ob der Tod nur in den Büchern stände, die er mit Vorliebe las, Rittergeschichten und Seeabenteuer, und späterhin Trauerspiele und schöne Gedichte. Die Tante war manchmal darüber eingeschlafen, das Lorchen hatte aber immer größere Augen gemacht, je länger er las, und wenn es dann aus war und war recht herzbrechend gewesen, hatten sie doch schon fünf Minuten nachher wieder gelacht, wie die leichtherzigen Kinder, die sie beide noch waren, obwohl er in Secunda saß und sie als eine arme Waise wohl Ursach gehabt hätte, das Leben nicht leicht zu nehmen. Nun schlief die gute Tante den letzten Schlaf, und ihnen Beiden war das Lachen vergangen.

Er war froh, als er das Mädchen wieder eintreten ah. „Es ist nichts im Haus,“ sagte sie, „als ein paar Eier und trocknes Brod und sonst Vorräthe zum Kochen. Ich könnte Dir einen Pfannkuchen backen, aber ich getraue mich nicht in die Küche; da hat es die Tante angefallen, als sie eben dem Christel einen warmen Umschlag machen wollte, und die Zenz hat gesagt, hinter dem Heerd hätte sie das Choleramännlein sitzen sehn, mit

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 787. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_787.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2021)