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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

nicht – Helene gehörte nicht zu den Frauen, die man überhaupt vergißt –, ihr Bild begann aber in jenen Raum seines Herzens zurückzuweichen, wo unsere überwundenen Schmerzen und unsere Todten schlafen.

In jener Gestalt trat das Leben Otto Schaumberg jetzt frischer und lebendiger entgegen. Sein jugendlich kräftiger Körper empfand die vermehrte Bewegung und Anstrengung wohlthuend, frisches Leben floß durch alle seine Glieder, so manche bis jetzt nicht geweckte Fähigkeit wagte sich, ihn selbst überraschend, hervor und befriedigte sein Selbstgefühl. Wer kennt nicht die Verhältnisse eines Landstädtchens, wo die wenigen Gebildeten zu sehr auf einander angewiesen sind, als daß der Einzelne sich häufigem Verkehr zu entziehen vermöchte! Sogar Besuche mußten gemacht werden, und wenn der junge Arzt auch mit den Familien dadurch in keine nähere Beziehung trat, so hatte ihn doch die kleine Zahl der Beamten in ihren täglichen Abendclub gezogen. Der Landrichter mit seinen beiden Assessoren, ein Notar, der Decan, dann ein alter Bürgermeister, der Apotheker und endlich der Revierförster, der zugleich Perleninspector war, bildeten den Honoratiorenkreis Bernecks. Mit dem Blick des Physiognomikers, der sich bei jedem Arzt, welcher mehr versteht, als Recepte zu schreiben, so scharf ausbildet, erfaßte Schaumberg die Eigenthümlichkeiten dieser verschiedenen Personen. Unter diesen interessirte ihn vor Allem der Revierförster Andlau durch seine scharf ausgeprägte Persönlichkeit.

Von stattlicher, ja hünenhafter Gestalt und tönender Stimme, hatte dieser Mann in seinem ganzen Auftreten etwas Despotisches, was sich auch im geselligen Verkehr nicht verleugnete. Er unterhielt sich fast nie, sondern hielt Reden. Ihn zu unterbrechen war eine physische Unmöglichkeit; erhaschte man einen Augenblick, um ihm etwas zu erwidern, so erhob er seine Stimme derart, daß es dem Andern unmöglich ward fortzufahren. Diese Eigenthümlichkeit machte ihn für Solche, die selbst Raum wünschten, sich in ihrem eigenen Wesen zu zeigen, lästig, ja selbst unerträglich; Schaumberg, der im Gespräch lieber nahm als gab, freute sich des mächtigen, kraftvollen Naturells Andlau’s, und gewann ihn lieb, ohne ihn zu überschätzen, denn es entging ihm nicht, daß in der Praxis des Lebens diese Kraft mehr geeignet war, Böses zu zerstören, als Gutes zu thun.

Bald verkehrte der junge Arzt häufig im Hause des Revierförsters. Es war in einiger Entfernung von der Stadt gelegen, und Schaumberg kehrte auf seinen Landgängen oft und gern dort ein, stets ein willkommener Gast. Andlau lebte mit seiner alten Haushälterin und seinen Hunden allein. Er war Wittwer; seine einzige Tochter Elisabeth, von der er nur selten sprach, war seit mehreren Jahren im Hause von Verwandten, „auf der hohen Schule“, wie er sich spottend auszudrücken pflegte.

Das junge Mädchen, dessen Ausbildung vollendet war, sollte nun zum Vater zurückkehren, der von dieser Aussicht nicht übermäßig entzückt zu sein schien. „Weiß der Herrgott, was für eine Puppe meine Frau Schwester mir zurechtgeschnitzt hat,“ äußerte er am Tage vor ihrer erwarteten Ankunft mürrisch gegen Schaumberg. „Ich hätte ihr das Mädel gar nicht geben sollen! Hab’s schon hundert Mal bereut! Die Kleine war brav, als ich sie zu Hause hatte, beim Bernecker Schullehrer hätte sie Alles lernen können, was ein Mädel braucht; für all’ den städtischen Krimskrams gebe ich keine taube Nuß. Jetzt wird sie Clavier klimpern und Romane lesen wollen! Seit mein Schwager nun gar vor einem halben Jahr nach München versetzt worden ist, führen sie das Kind dort in Theatern und Concerten herum, und gewiß hätte die Alte, dem Pathchen zu Liebe, ihre mürben Knochen auch auf ein Dutzend Bälle getragen. Wäre mir schon recht gewesen – verrückter Einfall das, von der Kleinen, jetzt, mitten im Winter heim kommen zu wollen! Nun, ganz nach ihrem Belieben, wenn sie’s hier nicht nach ihrem Geschmack findet, kann ich ihr nicht helfen.“

„Ihre Fräulein Tochter wünschte also selbst jetzt zu Ihnen zurückzukehren? Das muß Sie doch freuen?“ schob Schaumberg eilfertig dazwischen.

Der Revierförster lachte grimmig. „Da ist was zu freuen! Meinen Sie denn, das Püppchen käme mir zu Liebe? Irgend ein Weiber-Raptus ist’s, vielleicht hat sie in München einen Schatz, den sie nicht kriegen kann, oder sonst was – ein achtzehnjähriges Mädel, die nach Herzenslust in der Residenz tanzen und springen könnte, verlangt nicht auf’s Land zu einem brummigen Vater, wenn Alles richtig ist. Na, wir werden ja sehen! Meine alte Gretel ist vor Freude ganz confus und macht lauter Dummheiten, schon deshalb bin ich froh, daß die Elisabeth morgen anlangt: Elisabeth! Was das für ein ellenlanger Name ist – ich werd’ sie ruhig wieder Lisett’ rufen, wie früher. Man hat’s nur bis jetzt dabei lassen müssen, wie’s meine Schwester ausgeheckt hat; wissen Sie, es ist ihre Pathin und eine Erbtante dazu, da muß man mitunter ein Auge zudrücken. Die Schwester hat keine Kinder, und einen reichen Mann, der nach ihrer Pfeife tanzt. Da meint sie, das müßten alle Leute thun; an mir hat sie auch schon schnitzen wollen, ich bin ihr nicht fein genug – ho, ho, Frau Schwester, das war doch zu hartes Holz! Das Püppchen wird aber besser gerathen sein! Nun, das Haus soll sie mir nicht umkehren, dafür will ich gut stehen, Doctor!“

„Das wollen wir abwarten,“ sagte Schaumberg lachend, indem er sich empfahl.

(Fortsetzung folgt.)




 Deutsche Wanderschaft.
 Frühjahr 1868.[1]

Der Wald steht in Blüthe, die wilden Schwäne zieh’n,
Mir klingt’s im Gemüthe wie Wandermelodie’n;
Zum Stab muß ich greifen beim klaren Morgenschein,
Und singend wieder schweifen in’s deutsche Land hinein.

5
Ihr blauenden Gipfel, ihr Thäler, Gott grüß!

Ihr dunklen Eichenwipfel, wie rauscht ihr so süß!
Ihr wollt mir’s erzählen, daß wieder hoffnungsvoll
In alle deutschen Seelen ein Lenzodem quoll.

Durch Steingeklüft und Forsten zu klimmen, o Lust,

10
Auf schwindelnden Horsten zu lüften die Brust!

Tief unten verklingen die Glocken weit umher,
Ein Adler hebt die Schwingen vom Felsen zum Meer.

In’s Brausen der Quellen wie pocht der Hämmer Schlag!
Da födern die Gesellen das Eisen zu Tag,

15
Da wächst in rother Erde das Schwert für den Feind,

Der noch am deutschen Heerde uns dreinzureden meint.

Nun kommst auch du geschwommen im Kranze von Wein,
Willkommen, willkommen, du königlicher Rhein!
Du tränkst mit goldner Freude dein blühend Geländ,

20
Und weißt von keiner Scheide, die seine Stämme trennt.


Wie lang wird es währen, Altvater, so preßt
Man wieder deine Beeren zum Kaiserkrönungsfest!
Da kommt auf deinen Wogen im Purpurgewand
Der Hort des Reichs gezogen, das Banner in der Hand.

25
Dann ruh’n Wehr und Waffen, dann ist es vollbracht,

Dran tausend Jahr geschaffen, das Werk deutscher Macht,
In Norden und Süden der letzte Zwist gesühnt,
Und Freiheit und Frieden, so weit die Eiche grünt!

Emanuel Geibel.


  1. Das obige Gedicht wurde uns schon vor mehreren Monaten von dem Dichter eingesandt. Es beweist wenigstens, daß Emanuel Geibel bereits „im Frühjahr 1868“, also lange vor dem Lübecker Königsgruß und der Münchener Katastrophe, seinem politischen Zukunftswunsch Ausdruck gegeben hat.
    D. Red.




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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 740. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_740.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)