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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Der Wunderglaube in Paris.

Von Ludwig Kalisch.

Das civilisirte Europa ist trotz der erstaunlichen Fortschritte, welche die Naturwissenschaften seit zwei Menschenaltern gemacht, bei Weitem nicht so aufgeklärt, als es sich einbildet, und wer auf den Wunder- und Aberglauben der Menschen mit einigem Geschick speculirt, ist immer noch sicher seinen Zweck zu erreichen. Das größte Wunder unserer Zeit ist, daß Tausende und aber Tausende noch an Wunder glauben, und zwar nicht blos auf dem platten Lande, sondern auch in den großen Städten, und nicht nur in den niedern Ständen, sondern auch in den höheren und höchsten Schichten der Gesellschaft. Nirgends sieht man dies so sehr wie in Paris, wo trotz der Sorbonne, des College de France und der Akademie der Wissenschaften der wunderthätige Schwindel ein sehr ausgebreitetes Gewerbe bildet. In der Hauptstadt Frankreichs leben an sechshundert Somnambulen, die den Aerzten in’s Handwerk pfuschen und ihnen eine sehr empfindliche Concurrenz machen; denn es giebt viele Häuser, in denen man Zutrauen zu dem Somnambulismus, aber nicht zu den Aerzten hat und in Krankheitsfällen sich nur an jenen und nicht an diese wendet. Wenn eine Somnambule das Glück hat, in einem bedeutenden Hause zufällig einen Patienten zu heilen, bekommt sie schnell eine zahlreiche Praxis und macht die vortrefflichsten Einnahmen.

In diesem Augenblick wohnt in der Nähe der Kirche Notre Dame de Lorette eine Somnambule, die sich eines großen Rufs in der vornehmen Welt erfreut. Vor ungefähr zehn Jahren kam sie, ein schmuckes normännisches Bauermädchen, in Holzschuhen und eine große Haube auf dem Kopfe, nach Paris, um hier wie so viele Tausende ein Unterkommen zu suchen. Ihre großen schwarzen Augen, ihr hübsches ausdrucksvolles Gesicht und eine gewisse Verstandesschärfe, die man bei der normännischen Bevölkerung so häufig findet, erregten die Aufmerksamkeit eines Magnetiseurs. Es war ihm nicht schwer, die Normännin zu überzeugen, daß ihr als Magd selbst in dem vornehmsten Hause keine glänzende Zukunft bevorstehe, daß sie aber als Hellseherin ihr Glück machen könne. Ohne besondere Wehmuth warf sie die vaterländischen Holzschuhe in’s Feuer, vertauschte die steife normännische Haube mit einem eleganten Pariser Hut und ließ sich vor dem Publicum in magnetischen Schlaf versetzen. Einige Patienten, die sich an sie gewendet und fest überzeugt waren, ihr die Heilung zu verdanken, führten ihr eine zahlreiche Kundschaft zu, die bis jetzt noch im Zunehmen begriffen ist. Ihre Zimmer sind eben so reich als geschmackvoll eingerichtet. Die Thür steht keinen Augenblick still. Bald werden Briefe, bald Depeschen, bald kleine Packete gebracht, in denen sich Haarlocken oder Kleidungsstücke der Leidenden befinden, die außerhalb Paris leben. Sie giebt in ihrer Wohnung täglich acht bis zehn Sitzungen, die nicht nur trefflich honorirt, sondern auch mitunter durch ansehnliche Geschenke belohnt werden. Sie ist sehr regsamen Geistes und unterhält sich gern mit Künstlern und Schriftstellern. Während meines Besuches zeigte sie mir eine Menge Briefe von den angesehensten Männern und von den vornehmsten Damen, so wie die Geschenke, die sie von denselben erhalten. Unter ihren Verehrern befinden sich renommirte Staatsmänner und sogar – ein Mitglied des Instituts. Sie hat viel gelesen, besonders populäre medicinische Bücher, und aus denselben so viel gelernt, als nöthig ist, um einige Hausmittel zu nennen, die weder helfen noch schaden. Wie so viele andere Somnambulen ist auch sie von der Justiz wegen unbefugter Ausübung der Medicin verfolgt worden; es verwendete sich aber für sie eine solche Schaar angesehener Leute, daß sie jetzt unangefochten die Hellseherei ausüben kann. Sie ist übrigens entschlossen, nächstens den Somnambulismus an den Nagel zu hängen und zurückgezogen von ihren Renten zu leben.

Indessen sind nicht alle Hellseherinnen so glücklich wie besagte Normännin, da nur wenige so viel Tact und Verstand besitzen wie sie. Die meisten bringen sich schlecht und recht durch, oder sie endigen gar als „Somnambules en plein vent,“ d. h. sie spenden auf öffentlichen Plätzen ihre Orakel für ein Honorar von zwei Sous. Auf der Place de Clichy, wo sich jeden Nachmittag Taschenspieler, Athleten, Seiltänzer, abgerichtete Hunde und Affen sehen lassen, sitzt auch eine solche Pythia. Schier sechzig Jahre ist sie alt und hat manchen Sturm erlebt. Ihre Kundschaft besteht großentheils aus Ammen, Köchinnen, Mägden und Soldaten, denen sie, nicht von Apollo) sondern von Absynth begeistert, den Schleier der Zukunft lüftet. Während der Wintersaison finden in Paris viele magnetische Soiréen statt, zu denen man durch einen Freund des Hauses eingeführt werden kann. Ich wohnte einer solchen Soiree vor mehreren Jahren bei. Der Salon so wie die Nebenzimmer waren prachtvoll erleuchtet und von Herren und Damen aus allen Ständen überfüllt. Der Hausherr, ein Magnetiseur, empfing die Gäste auf’s Liebenswürdigste und stellte denselben acht schöne Mädchen vor, an denen er seine magnetische Kraft ausüben sollte. Er versuchte seine Manipulationen zuerst an einer reizenden Brünette, die er in einen starrsüchtigen Zustand versetzte. Er hielt ihr eine große Lampe dicht vor die Augen, ohne daß sie mit denselben auch nur im Geringsten zwinkerte oder irgend einen Zug des schönen Gesichtes verzerrte. Er stach sie mit Nadeln, er zwickte sie mit kleinen Zangen – sie bewegte sich nicht. Eine zweite versetzte er in eine musikalische Ekstase. Sie ging an’s Piano, an dem ein Künstler seine Fingerfertigkeit übte, schien ganz entzückt von den Tönen, die, beiläufig gesagt, durchaus nicht entzückend waren, und küßte das Instrument mit Inbrunst. Eine dritte wurde in eine poetische Ekstase versetzt, und sie citirte mit verklärtem Gesichte einige Verse von Lamartine zur Bewunderung mancher Zuhörer und Zuhörerinnen. In einer vierten erregte er die Leidenschaft des Zornes und sie zeigte sich in ihren Stellungen als eine Furie. Kurz, sämmtliche acht Sujets kamen nach einander an die Reihe, und die Vorstellung schloß zur größten Zufriedenheit der Gesellschaft.

Der Leser wird sich leicht denken, warum diese Soireen gegeben werden. Sie sind Reclamen, die dem Geschäft auf die Beine helfen oder es in Blüthe erhalten sollen; denn unter den Eingeladenen sind doch Manche, die an den Hokuspokus glauben und ihn als ein nie geahntes Wunder verbreiten. Auch befinden sich in der Gesellschaft stets mehrere Personen, die zur Boutique gehören und Propaganda machen. Was die Sujets betrifft, so finden sie, wie es sich von selbst versteht, ebenfalls ihre Rechnung dabei. Diese Nachtwandlerinnen wandeln nicht immer auf dem Wege der Tugend; und die magnetischen Abende geben ihnen Gelegenheit, sich nicht blos als Hellseherinnen zu empfehlen.

Der Spiritismus giebt auch seine Abendvorstellungen. Die besuchtesten sind in der Rue Beaujolais dicht am Palais Royal. Sie werden von dem Baron D… geleitet, der eine lange Reihe von Schriften und Aufsätzen über den thierischen Magnetismus herausgegeben hat. Ein reicher Engländer, der, wie seine Ehehälfte, im fanatischen Eifer für den alleinseligmachenden magnetischen Glauben, nichts unterließ, um Proselyten zu werben, rang mir einst das Versprechen ab, einer solchen Abendunterhaltung beizuwohnen, in der festen Ueberzeugung, daß ich mich dann bekehren würde. Das Ehepaar führte mich eines Abends unter Verheißungen der wunderbarsten Offenbarungen in den Salon des Herrn Barons. Derselbe saß hinter einem Tische, und ihm zur Rechten eine wohlbeleibte schöne Dame. Vor ihr lag ein Heft Papier von ungeheuerm Format, und in der Hand hielt sie einen langen Bleistift. Wir setzten uns dicht neben sie und harrten wie die übrige Gesellschaft, die den Salon füllte, der Dinge, die da kommen sollten. Punkt acht Uhr eröffnete der Baron die Sitzung und stellte uns die corpulente Dame mit dem Bleistift als ein Medium erster Classe vor, als ein Medium, das mit den abgeschiedenen Geistern in innigstem Verkehr stünde. Man ersuchte sie nun, sich in Communication mit dem Geiste Voltaire’s zu setzen und ihn zu fragen, was er in seinem jetzigen Zustande von seinen Schriften denke. Das Medium blickte eine Weile mit verzückten Augen auf die Stubendecke und fuhr sodann mehrere Minuten mit dem Bleistift auf dem Papier herum. Endlich hielt sie ein und las mit wohlklingender und höchst feierlicher Stimme einen Unsinn vor, der nicht blühender hätte sein können. Das Ding hatte weder Hand noch Fuß; die Vordersätze paßten nicht zu den Nachsätzen, und wie die Logik bekam auch die Grammatik sehr derbe Ohrfeigen. Der größte Theil der Gesellschaft war erstaunt über den tiefen Sinn dieses Unsinns. Ich war ebenfalls erstaunt, und als mich das englische Ehepaar, das ganz entzückt war von dem Voltaire’schen Dictat, um meine Ansicht fragte, bemerkte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 728. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_728.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)