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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

sagte sie zögernd „es ist mir nicht möglich ohne heftige Schmerzen damit aufzutreten.“

Jetzt nahm sie den vorhin verschmähten Arm und stützte sich fest darauf, hielt aber schon nach wenigen Schritten wieder an und setzte sich mit der Miene eines verzogenen Kindes in’s Gras. „Ich kann nicht weiter,“ sagte sie aufblickend.

„Nur einen Augenblick bleiben Sie so!“ rief der Assessor „Ich rufe den Freund, der mit mir heraufgekommen ist; er ist Arzt und wird hier den besten Rath geben.“

Schon forteilend, sah er die fliegende Röthe nicht, die plötzlich das Gesicht der schönen Leidenden bedeckte, die jedoch dem Auge des Majors nicht entging und ihn mit eigenthümlicher Aufmerksamkeit dem bevorstehenden Zusammentreffen entgegenblicken ließ.

Nach ein paar Minuten war Schaumberg zur Stelle, und vier Augen, die sich seit den letzten Monaten häufig genug über die Straße hinüber gesucht und gefunden hatten, trafen in einem flüchtigen, leuchtenden Blitz zusammen. Nach ein paar rasch beantworteten Fragen forderte der Arzt die Patientin auf, sich zu dem kurzen Gange bis in die Burg zu überwinden, wo er den Fuß untersuchen und das Nöthige anordnen wolle. Von ihm und Feldheim gestützt, erhob sich Helene, nahm dann des Majors Arm und bewegte sich mühsam vorwärts, während der junge Arzt vorauseilte, um für ihre Bequemlichkeit in einem geeigneten Locale der Wirthschaft zu sorgen.

Marbach holte inzwischen Frau von Klinger herbei, die, zugleich mit Helene das Zimmer betretend, sie mit wortreichen Lamentationen überschüttete und ungeduldig machte. Der Major und der Assessor zogen sich zurück, und Schaumberg untersuchte nun den durch die Tante rasch von seinen Hüllen befreiten rosigen Kinderfuß, der bereits bedeutend angeschwollen war.

„Nun?“ sagte die junge Frau, mit kindlichem Ausdruck zu ihm aufblickend.

„Sobald ein Wagen bereit ist, werde ich mir erlauben, Sie, gnädige Frau, in Ihre Wohnung zurückzubringen. Bis dahin, und unterwegs, sind kalte Umschläge das Einzige, was wir vornehmen können. Später wird dann Ihr Arzt das Weitere anordnen – leider müssen Sie sich, aller Wahrscheinlichkeit nach, auf eine lange Geduldsprobe gefaßt machen.“

„Ich habe keinen Hausarzt,“ sagte Helene leicht erröthend; „seit dem Jahre meines Hierseins bedurfte ich keines Beistandes dieser Art. Würden Sie wohl so freundlich sein, mir ferner beizustehen?“

Otto’s Augen blitzten auf, doch entgegnete er nur ein paar gelassene Worte der Zusage. Als er hinaustrat, fand er die anderen Herren wartend vor der Thür.

„Nun, wie steht es?“ fragte Feldheim ungeduldig.

„Es ist eine starke Verstauchung; ein Bruch wäre mir lieber. Dergleichen ist leider sehr langwierig, auf fünf bis sechs Wochen Clausur muß Frau von Dalen sich gefaßt machen. Willst Du Dich nach einem Wagen umsehen, Marbach? Ich werde einstweilen für die nöthigen Umschläge sorgen.“

„Dazu würde auch wohl die alte Klinger zu brauchen sein,“ murmelte Feldheim, nicht in bester Laune. „Für den Wagen werde ich sorgen, meine Herren, es fehlt nicht an wartenden Droschken.“

Eine Viertelstunde später fuhr ein bequemer Wagen langsam den Abhang hinab; Helene lag behaglich[WS 1] im Fonds, das kranke Füßchen ruhte im Schooß der gegenübersitzenden Tante, neben welcher Otto Schaumberg, der ernste Jünger der Wissenschaft, zu den bescheidensten Anfängen ihrer Wirksamkeit herabgestiegen war und mit lobenswerthem Eifer aus einem am Wagenschlag befestigten Gefäß mit kaltem Wasser die von ihm angeordneten Umschläge persönlich erneuerte.




4.

Es war ein Regentag; einer von denen, wie sie im Sommer so wohlthuend sind, wo man der Abwechselung halber auch gern einmal im Zimmer bleibt und das regelmäßige Fallen der Tropfen, das zu anderer Zeit melancholisch wirken kann, als Behagen und Erfrischung empfindet. Wenigstens empfand Helene Dalen heute so. Wir wollen in ihr Wohnzimmer eintreten, von dem wir bis jetzt nur die Fenster kennen lernten; es ist der wohnlichste und zugleich anmuthigste Raum, den Reichthum und Geschmack zu erschaffen vermochten.

Die junge Frau ruhte auf einer Chaise-longue, ihr noch bandagirtes Füßchen auf ein Kissen gestützt, die zierlichen Finger mit einer Stickerei beschäftigt, von der sie nicht aufschaute. Vor ihr saß Major von Feldheim, ein Buch in der Hand, aus dem er eben vorgelesen.

„Warum hören Sie auf?“ fragte Helene, plötzlich aufblickend.

„Weil Sie nicht zuhören,“ sagte Feldheim, und sah sie fest an. „Sie sind zerstreut, Sie sind –“

„Und was bin ich, daß man’s gar nicht aussprechen kann?“

„Was ich an Ihnen noch nicht erlebt habe, Helene – träumerisch!“

Ein Lächeln spielte auf den Lippen der jungen Frau. „Und ist das ein solches Staatsverbrechen, daß mein strenger Mentor mich darob mit so dunkeln Blicken anschaut? Ist’s nicht erlaubt, auch einmal zu träumen? Ich bin ja hier im Zimmer festgebannt wie ein gefangener Vogel, zwitschern kann ich doch nicht den lieben langen Tag, da läßt man denn mitunter die Gedanken wandern, und bei dem Klang Ihres melodischen Lesens träumt sich’s hübsch.“

Feldheim’s Stirn faltete sich. Er schloß mit einer raschen Bewegung das noch aufgeschlagene Buch. „Dafür ist Shakespeare zu gut,“ entgegnete er kurz.

Helene lachte. „Lassen Sie uns lieber plaudern,“ sagte sie mit kosendem Ton, „Sie haben Recht, ich bin heute wirklich keine brave Zuhörerin gewesen. Erzählen Sie mir von dem gestrigen“ – sie brach ab, ein gespannter Zug glitt über ihr Gesicht hin. Feldheim’s Blick trübte sich, mit ihr zugleich hatte er die Hausthür öffnen hören; er stand hastig auf und stellte das Buch in den Bücherschrank zurück. Schon hatte aber Helene den schleppenden Tritt der Cousine auf der Treppe unterschieden und wiederholte nun in leichtem Ton ihre Aufforderung: „Erzählen Sie mir doch von dem gestrigen Concert!“

„Ich war nicht dort, Sie wissen, ich bin kein Musikkenner,“ erwiderte der Major trocken; „Sie werden darüber von anderer Seite bessere Auskunft erhalten.“

Helene sah lebhaft zu ihm auf; die Entgegnung, die ihr auf der Zunge schwebte, ward aber durch den Eintritt der Cousine abgeschnitten, die hastig auf sie zueilte, das gutmüthige Gesicht vom tiefsten Verdruß hochgeröthet. „Die Menschen sind doch zu schlecht, Helene!“ rief sie erbittert.

„Was ist denn geschehen?“

„Meine Uhr ist fort! Meine Uhr mit dem emaillirten Deckel, die ich noch von der Großmutter habe, die über hundert Jahre in der Familie ist! Dein Mädchen hat freilich immer gesagt, ich solle sie nicht in das Uhrtäschchen thun, das neben der Thür hängt, weil mein Zimmer so dicht an der Treppe liegt, wo die Handwerksburschen immer vorbeigehen, wenn sie betteln. Aber wer hätte gedacht, daß ein Handwerksbursche so schlecht sein könnte! Nicht eine halbe Stunde war ich in der Kirche, und wie ich nun heim komme, ist die Uhr fort. Was fängt man nur an!“

„Beruhigen Sie sich, Frau von Klinger, Ihre Uhr ist sehr kenntlich und wird zu ermitteln sein,“ sagte Feldheim. „Ich werde Ihnen das besorgen und bei den Uhrmachern, vor Allem aber bei der Polizei und in der Leihanstalt Anzeige machen.“

„In der Leihanstalt!“ wiederholte die alte Dame, und ihr Auge leuchtete auf. „Dahin wird sie gewiß gebracht! Das werde ich aber selbst besorgen – nein, nein, schweigen Sie ganz still, das lasse ich mir nicht nehmen, ich bin ohnedies neugierig, wie es in einer Leihanstalt zugeht! Adieu, Kinderchen!“

„Aber bei diesem strömenden Regen“ – wandte Helene ein.

„Was soll mir der Regen schaden!“ rief die gute Frau eifrig; „Du hast mir ja erst neulich den schönen neuen Regenschirm geschenkt! Es sind ja auch nur ein paar Schritte bis zur nächsten Straße“ – und damit huschte sie hinaus.

„Lassen wir sie ruhig gehen,“ lächelte Feldheim, „sie ist schon halb über ihren Verlust durch die Aussicht getröstet, zu erfahren, wie es in einem Leihhause zugeht. Das freundliche, ewig zufriedene Gemüth!“

„Von der Mancher lernen könnte!“ sagte die junge Frau mit Beziehung.“ Ja, ja, Feldheim! Sie haben nicht nöthig mich so fragend anzusehen; wäre die Cousine nicht dazwischen gekommen, so hätten Sie schon einige Minuten früher die Gardinenpredigt

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: beharrlich
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 723. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_723.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)